Lena Frischlich:

Wer schon mal versucht hat, seine Einstellung gegenüber z.B. Schokolade zu ändern, jetzt gerade in der Fastenzeit, wird wissen: Einstellungsänderung sehr schwierig, Verhaltensänderungen noch schwieriger. Das alles sind sehr lange Prozesse, die nicht von heute auf morgen gehen.

Intro: RISE – Der Podcast zu Identität, Pluralismus und Extremismus

 

Moderation:

Herzlich willkommen zum RISE-Podcast zu Identität, Pluralismus und Extremismus.

Was genau sind eigentlich Narrative? Das wollen wir in unserer zweiten Folge klären, und dazu habe ich zwei Gesprächspartner*innen befragt. Eine haben wir eben schon gehört, Lena Frischlich, die am Beispiel von Schokolade skizziert hat, dass es nicht so einfach ist, das eigene Verhalten zu ändern.

Was das mit unserem Thema zu tun hat, sollte dann spätestens am Ende dieses Podcasts klar sein. Bis dahin haben wir einiges vor. Aber ich verspreche: Es wird interessant, überraschend und lehrreich.

„Narrativ“ – das ist zunächst einmal einfach ein anderes Wort für „Erzählung“, „Geschichte“. Der Narrativ-Begriff nimmt allerdings seit einigen Jahren auch in der Extremismusprävention eine wichtige Rolle ein. Wenn beispielsweise untersucht wird, auf welche Art Extremist*innen für ihre Ideologien zu begeistern und andere zu radikalisieren versuchen, dann kommen die Narrative ins Spiel, also die Frage danach, welche Erzählungen sie verbreiten. In pädagogischer oder präventiver Absicht wiederum werden extremistischen Erzählungen sogenannte Gegennarrative oder alternative Narrative entgegengestellt.

Und auch zur der seit über einem Jahr thematisch alles dominierenden Corona-Pandemie begegnen uns allerhand widerstreitende Narrative, nicht zuletzt von extremistischen Bewegungen.

Die extremistischen Narrative im Rahmen der Corona-Pandemie werden der Schwerpunkt unseres Gesprächs mit Jakob Guhl sein.

 

Jakob Guhl:

Wir haben jetzt auch in der Corona-Pandemie gesehen, dass Rechtsextremisten, islamistische Extremisten häufig an präexistierende Muster und Erzählungen anknüpfen und es dann mit der aktuellen Krisenthematik verknüpfen. Also, was wir jetzt beispielsweise im Bereich Rechtsextremismus sehen, ist, dass auch weiterhin vor allen Dingen gegen Regierungsvertreter und Medien mobilisiert wird, wie das auch schon im Zug der sogenannten Flüchtlingskrise zu beobachten war. Dass gegen verschiedene Minderheitengruppen mobilisiert wird.

 

Moderation:

Von Jakob Guhl werden wir in der Mitte des Podcasts mehr hören.

Zunächst aber geht es zum Interview mit Lena Frischlich. Sie befasst sich schon seit zehn Jahren mit extremistischen Narrativen, vor allem mit den psychologischen Effekten von Internetvideos. Zurzeit arbeitet sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Vertretungsprofessorin für Kommunikationswissenschaft. An der Uni Münster wiederum leitet die Psychologin seit drei Jahren eine Nachwuchsforschungsgruppe, die sich mit der Frage beschäftigt, was Videos gegen Extremismus leisten können.

Steigen wir also ein mit der zugleich einfachen wie schwierigen Frage: Was sind denn nun Narrative?

 

Lena Frischlich:

So ganz basal kann man sagen, dass der Begriff oft als „Erzählung“ oder „Geschichte“ übersetzt wird. Und die Urform ist sozusagen, dass man einen Anfangszustand hat und einen Endzustand, und irgendwas passiert dazwischen, da ist ein Plot. (…) Und dann gibt es noch so übergreifende, man nennt die Metanarrative, die sozusagen über diese einzelnen Geschichten hinausgehen, die wir aber alle irgendwie verstehen. Also ein Beispiel, was ich gerne zitiere, ist von dem Fantasy Autor Terry Pratchett, der sagt: Tausend Mädchen haben den Prinzen geküsst und den Prinzen geheiratet, und wir alle wissen irgendwie, wie diese Geschichten, wenn wir die dann nochmal im Fernsehen sehen, sich entwickeln. Wir erkennen die wieder, wenn im britischen Königshaus wieder irgendwas passiert.

Und Terry Pratchett beschreibt Geschichten als „parasitäre Strukturen“. Das finde ich unheimlich witzig, weil das ein bisschen erklärt, dass wir Ereignisse auch im Kontext dieses Narrativs wahrnehmen und interpretieren und dann eben auch den Blick so ein bisschen auf Dinge lenken, die zu diesem Narrativ, zu dieser Über-Erzählung passen und andere Sachen vielleicht nicht mehr ganz so wahrnehmen, die nicht so gut ins Bild passen.

 

Moderation:

Das ist ja wahrscheinlich aus psychologischer Sicht auch interessant. Das ist ja dann auch was, was unbewusst sozusagen vorhanden ist, in unserem kulturellen Gedächtnis. Warum ist es wichtig – um auch auf unsere Hörerschaft zu kommen und das RISE-Projekt –, warum ist es wichtig für Pädagoginnen, sich damit auseinanderzusetzen, was Narrative sind und können?

 

Lena Frischlich:

Also zum einen ist es so, dass tatsächlich auch Psychologen davon ausgehen, dass wir natürliche Geschichtenerzähler sind. Der Kommunikationswissenschaftler Walter Fisher nennt uns Homo Narrans. Das heißt, wir erzählen Ereignisse oft in so einer Plot-Struktur, interpretieren sie damit auch. Es ist ein Rahmen unseres Erlebens. Wir verleihen der Welt, in der wir leben, irgendwie einen Sinn durch die Dinge, die da passieren. Und dann ist es eben auch oft so, dass Informationen total gut verarbeitet werden können, wenn sie uns als Geschichten begegnen. Einfach weil wir sozusagen kulturgeschichtlich daran gewöhnt sind, von anderen Informationen in dieser Geschichtenform zu verarbeiten. Und dann ist es natürlich auch so, dass gerade diese übergreifenden Welterzählungen beeinflussen, wie einfach wir uns an Dinge anschließen können, wie leicht wir das nachvollziehen können, wie sehr das sozusagen – Walter Fisher nennt das „mit uns klingt“, resonates – mit uns zusammenpasst und schwingt sozusagen.

 

Moderation:

Ja und dieser Anschluss, und ob das mit jemandem schwingt, das führt uns ja schon ein wenig spezieller dann zum Thema dieser Folge, weil es geht ja speziell um extremistische Narrative, um die von Rechtsextremen und Islamisten und wie kann man das erst einmal allgemein einordnen? Innerhalb von Propaganda – ist es Teil von Propaganda? Sind Narrative Propaganda? Extremistische Narrative?

 

Lena Frischlich:

Ich glaube, an der Stelle muss ich kurz die Definition nochmal rauskramen, weil es wirklich wichtig ist, da auch präzise zu sein. „Propaganda“ verstehen wir in unserer Arbeit immer als absichtsvolle Kommunikation. Das heißt, ein Sender, ein Propagandist, eine Propagandistin möchte strategisch das Verhalten von Menschen beeinflussen, und zwar darüber, dass Emotionen und auch Gedanken in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Und wir bezeichnen das als Propaganda in unserer Arbeit – da kann man sich sicherlich auch drüber streiten –, wenn das im Namen einer bestimmten Ideologie passiert, also einer Weltanschauung, und zwar einer absolutistischen Weltanschauung, die davon ausgeht, die einzig wahre Wahrheit sozusagen zu haben.

Und Klaus Merten sagt auch: Propaganda hat so eine ganz typische Struktur, die eigentlich erreichen will, dass Menschen sehr reflexartig reagieren. Es gibt immer so ein Thema, um das es geht, und dann wird der einzig wahre, richtige Umgang mit diesem Objekt, mit diesem Thema festgelegt. Wenn man das tut, dann gehört man sozusagen zu den Guten. Dann passieren gute Dinge. Und wenn man das nicht tut, dann wird aber auch mit Sanktionen gedroht. Ganz oft nicht im Alltag, in der Konsequenz, sondern möglichst unüberprüfbar, im Jenseits, in vielen Jahren … Je nachdem, mit welcher Ideologie man sich da beschäftigt. Und dazu werden natürlich auch sowohl Geschichten als auch Narrative eingesetzt. Zum Beispiel, weil wir eben so eine reflexartige moralische Idee haben, dass es wichtig ist, Kinder zu schützen – das ist ja ein ganz grundlegender menschlicher Mechanismus. Das sehen wir ganz viel, dass auch extremistische Inhalte dieses Argument, diesen Reflex nutzen, um sozusagen bestimmte Storys aufzubauen, bestimmte Dinge in den Vordergrund zu setzen.

Und jetzt finde ich es aber immer ein bisschen schwierig zu sagen, es gibt irgendwie das extremistische Narrativ, sondern ich glaube eher, es geht um eine Verwendung von Dingen, Geschichten, Narrativen, Medien, die in einen sehr speziellen Rahmen eingebettet werden. Ich habe z.B. das Glück, mit einem Theaterprojekt in Chemnitz zu arbeiten, die nennen sich „NUN“ – „neue unentdeckte narrative“ – kann ich sehr empfehlen –, wo es genau um die Frage geht: Welche Narrative, welche Geschichten in Chemnitz und Umgebung werden eigentlich von Extremistinnen aufgegriffen? Und wie kann man noch darüber diskutieren? Und in der praktischen Arbeit geht es dann ganz viel um Themen wie Utopien, Geschichte, Identität, Wandel – das alles sind keine extremistischen Narrative. Das sind alles Themen, die uns alle betreffen, die aber eben – ich nenne das gerne Gelegenheitsstrukturen bieten, wo sozusagen auch radikale, antidemokratische oder Gewalt befürwortende Interpretationen ansetzen können.

 

Moderation:

Das heißt also, es sind eben nicht bestimmte Themenfelder, die besetzt werden, sondern die Themenfelder sind da und werden vielleicht anders erzählt. Gibt es denn aber trotzdem typische Motive oder gibt es eine typische Art, wie die Protagonistinnen dann angelegt sind, in diesen Narrativen?

 

Lena Frischlich:

Die gibt es tatsächlich. Ich glaube, die Grundstruktur der meisten extremistischen Bewegungen oder Ideologien ist immer dieser ewige Kampf zwischen Gut und Böse. Die Eigengruppe wird sehr stark aufgewertet, werden als Helden, teilweise auch als – wie soll ich sagen – Opfer, die durch das Leid veredelt worden sind, dargestellt, die eben von dem „Bösen“ bedroht werden. Dieses Böse ist immer – Harold Lasswell hat das schon im Zweiten Weltkrieg zusammengefasst: etwas, was unkorrigierbar ist, pervers, bösartig, wo keine Hoffnung auf Besserung besteht – deswegen muss man sich sozusagen verteidigen und kämpfen. Aber das würde eben auch gelingen, wenn alle nur zusammenhalten und der Idee sozusagen treu bleiben. Und diese Grundstruktur, – dieses, man nennt das manchmal auch manichäische Weltbild – die finden wir eben in ganz unterschiedlichen extremistischen Bewegungen, in ganz unterschiedlichen Strukturen.

Zum Beispiel sehen wir ja auch gerade da sehr viele Schnittstellen zu Verschwörungserzählungen, über die wir ja auch viel alle nachgedacht und gehört haben, im letzten Jahr, wo dann eben dieser Feind sozusagen eine kleine Gruppe von böswilligen Eliten ist, die genau das eben auch repräsentieren, die auch unkorrigierbar sind, die auch böswillig sind, gegen die man sich also quasi auch gar nicht mehr anders kann, als gewaltvoll zu verteidigen, wenn einem eben Werte wie Kinderschutz, Schutz der Frauen und Schwachen et cetera irgendwie am Herzen liegen.

 

Moderation:

Wie kann ich mir das vorstellen? Wer schafft diese Erzählungen? Ist das ein bewusster Akt? Oder wie entstehen eigentlich diese Narrative, die dann z.B. in Online-Videos auftauchen?

 

Lena Frischlich:

Ich glaube, das ist eine Frage der Abstraktionsebene, auch, auf der man guckt. Ich glaube, was diese großen Welterzählungen angeht, also zum Beispiel über die Rolle der Frau, die auch sehr, sehr anschlussfähig sozusagen für verschiedene extremistische Bewegungen ist, diese Idee, dass eine Gleichstellung der Geschlechter irgendwie unerwünscht wäre oder nicht gut wäre, die entstehen natürlich nicht durch eine einzelne Person, sondern das sind oft ganz alte, auch generationenübergreifende Machtstrukturen, Erfahrungen, Erzählungen, die wiederholt worden sind.

Wir gehen ja, glaub ich, naiv manchmal davon aus, dass unsere Erinnerung sowas ganz Objektives ist. Vielleicht nicht, als wir ganz klein waren, aber danach wüssten wir sozusagen immer, wie die Dinge passiert sind. Und da zeigen aber psychologische Studien: Das ist gar nicht so, sondern Erinnerung ist ein sehr lebendiger Prozess, der auch durch Wiedererzählen und Rekonstruktion sozusagen mitgeprägt wird. Also, wenn wir in einer Gesellschaft viel über bestimmte Rollen in vergangenen Konflikten reden, dann verändert das auch, wie wir diese Konflikte wahrnehmen.

Meine Kollegin Aylin Öbers hat zum Beispiel gezeigt, dass gerade bei Kriegen, wo zwei Länder beteiligt sind, sich bei Wikipedia die Bezeichnung des Krieges ändert. Also, es heißt dann z.B. der Deutsch-französische Krieg in Deutschland, aber la guerre franco-allemande in Frankreich. Also, die Position sozusagen innerhalb der Belabelung verändert sich, und diese kleinen subtilen generationsweisen Wiedererzählungen, die prägen eben diese ganz großen Narrative.

 

Moderation:

Wie steht es denn – das ist dann ja nach allem, was wir jetzt bisher gehört haben, gar keine leichte Frage, denke ich, die Wirkungsforschung – welche Funktion diese Erzählungen erfüllen. Sie sind ja vielleicht nicht immer, wie wir es gehört haben, straight, sozusagen für den Einfluss direkt gemacht, sondern sind in einem größeren Kontext von Narrativen. Kann man trotzdem sagen, inwiefern Narrative einwirken auf Weltbilder und Einstellungen und Meinungen?

 

Lena Frischlich:

Was wir uns in unserer Forschung angeschaut haben, ist, inwiefern es denn einen Unterschied macht, wenn zum Beispiel ein Propagandavideo als Geschichte wahrgenommen wird, also eine höhere erzählerische Qualität hat, sag ich jetzt mal. Und da zeigt sich eben schon, dass diese wahrgenommene erzählerische Qualität damit einhergeht, wie sehr ich mich mit den Personen in diesem Video identifiziere und auch wie attraktiv ich die Gruppe dahinter finde.

Und das gilt sowohl für Videos, die sich gegen Extremismus positionieren, als eben auch für extremistische Inhalte. Und zwar unabhängig davon, ob es sich um rechtsextremistische Propaganda handelt oder islamistisch extremistische Propaganda. Also diese Narrativität, die hat schon auch einen eigenen Überzeugungscharakter. Der kann wie fast alles in der Welt zum Guten genutzt werden, also gerade im Kontext von Entertainment Education, zum Abbau von Vorurteilen und so, sind Geschichten ganz wichtiger Teil dessen, wie auch z.B. Friedenspädagogik funktioniert.

 

Moderation:

Aber es kann eben auch genutzt werden, in den richtigen Umständen, von den richtigen Leuten, um eine Öffnung für extreme Ideologien zu begünstigen. Ob das dann funktioniert, und das muss man eben immer ganz klar sagen, hängt aber nicht davon ab, ob die Leute über ein einzelnes Video gestolpert sind oder einen einzelnen Instagram-Post gesehen haben. Ich glaube, wir haben immer noch so ein bisschen diese idealisierte Hoffnung, dass wenn wir jetzt Medien einschränken oder das Internet abschaffen, wir dann keine Diskriminierung, keinen Rassismus mehr haben, keinen Extremismus …

 

Lena Frischlich:

Menschheitsgeschichtlich ist das sehr unwahrscheinlich. Muss man jetzt einfach mal so sagen. Und auch auf der Wirkungsebene ist das sehr unwahrscheinlich. Man braucht schon immer so einen – wir nennen das „fruchtbaren Boden“. Der Psychologe Arie Kruglanski spricht in dem Kontext auch von den drei Ns der Radikalisierung: Man braucht Bedürfnisse, die needs, also da muss sozusagen eine Lücke sein, in der was wachsen kann. Und dann braucht man eben diese extrem interpretierten, würde ich sagen, nicht „extremistischen“, Narrative.

Und dann, und das darf man eben auch in Corona-Zeiten und in der digitalen Welt nicht unterschätzen, tatsächlich Networks, also Austausch miteinander. Der kann natürlich auch teilweise digital stattfinden, der ist aber wirklich oft auch noch an irgendeiner Stelle dann face to face, also von Angesicht zu Angesicht.

 

Moderation:

Den zweiten Teil des Gesprächs mit Lena Frischlich hören wir zum Ende dieses Podcasts. Nun geht es zunächst zu Jakob Guhl. Er arbeitet in London am ISD, dem Institute for Strategic Dialogue. Dort gehört er zum Forschungsteam und untersucht extremistische Bewegungen im Netz, Hate Speech, Verschwörungstheorien und Falschinformationen. Gemeinsam mit Lea Gerster hat er jüngst einen Report veröffentlicht mit dem Titel: „Krise und Kontrollverlust. Digitaler Extremismus im Kontext der Corona-Pandemie.“

Wir haben Jakob Guhl schon ganz am Anfang kurz gehört, wie er erzählt, dass rechtsextreme Akteure auch in der Corona-Krise auf ihre grundlegenden Muster, Themen und Motive zurückgreifen. Wie sieht es aber im islamistischen Extremismus aus?

 

Jakob Guhl:

Im Bereich des islamistischen Extremismus sehen wir, dass sehr, sehr viel behauptet wird, dass islamische Staaten gegenüber säkularen Staaten, gegenüber liberalen Staaten überlegen sind. Und da wird dann behauptet, dass sich das auch beispielsweise auf die Bekämpfung von Pandemien bezieht. Also, wenn man jetzt da quasi einen islamischen Staat aufbauen würde, dann würde das mit der Pandemie-Bekämpfung auch viel besser klappen, als das jetzt Merkel und Spahn hinbekommen.

Wir haben im Bereich Rechtsextremismus häufiger festgestellt, dass mit Desinformationen, also bewussten Falschinformationen, als auch mit Verschwörungstheorien gearbeitet wird. Also, da wird viel häufiger behauptet, dass in Bezug beispielsweise auf den Ursprung oder die Natur des Virus, welche Folgen er hat, dass man hier sehr viel mehr Falschbehauptung findet oder auch Verschwörungstheorien, wer da heimlich dahintersteckt, und dass das alles nur einem finsteren Plan folgt, um bestimmte politische Ziele zu erreichen.

Dass also Bill Gates oder die Bundesregierung bestimmte Interessen haben, die Pandemie ist eigentlich nur eine Art Vorwand, um die durchzusetzen. Und das haben wir im Bereich des islamistischen Extremismus in Deutschland deutlich seltener gefunden. Also im internationalen Bereich wären da wahrscheinlich noch eher Beispiele zu finden. Aber wir haben da in Deutschland oder im deutschsprachigen Raum eine gewisse Ambivalenz gefunden. Es gab immer mal wieder bestimmte Individuen, die behauptet haben, vielleicht stecken da die Zionisten dahinter, vielleicht ist das auch alles eine Verschwörung. Aber wir haben eben auch einige Male gesehen, dass bestimmte Influencer gesagt haben: Nein, also wenn ihr glaubt, dass Corona irgendwie ein Fake ist, dann habt ihr wirklich euren Verstand verloren. Dann kann ich euch nicht mehr folgen. Also wirklich eine überraschend deutliche Position, die bezogen wurde gegen Verschwörungstheorien und Falschinformationen mit Bezug auf die Corona-Pandemie.

Und was, denke ich, neu hinzugekommen ist, dass eben vor allen Dingen im Bereich des Rechtsextremismus, dass sehr, sehr stark gegen Wissenschaft und vor allen Dingen auch ganz speziell gegen medizinische Fachleute gehetzt wird. Und das hat man, denke ich, vor der Krise weniger stark vernehmen können.

 

Moderation:

Und da trifft sich das dann – das ist ja wahrscheinlich auch eine Strategie, um neue Leute zu gewinnen für sich, weil man da wiederum Schnittstellen hat mit ganz anderen Gruppierungen, nehme ich mal an.

 

Jakob Guhl:

Genau. Also es hat ja im Verlauf der Corona-Pandemie einiges an Skepsis gegeben. Also, es gibt Leute, die glauben, dass entweder die Gefährlichkeit des Virus übertrieben wird oder dass die Maßnahmen, die eingeführt worden sind, dass die unfair sind oder überproportional sind, zu hart sind. Und das ist natürlich jetzt auch erst mal keine extremistische Position. Das ist einfach erst einmal so eine Skepsis gegenüber Regierungsmaßnahmen, die ja auch völlig legitim sein kann. Aber es hat natürlich auch einen großen Kontrollverlust gegeben, durch die Einführung dieser Maßnahmen, die sehr stark das alltägliche Leben eingeschränkt haben, hat es einen großen wahrgenommenen Kontrollverlust gegeben. Und das hat sehr stark auch zu einem Zuwachs der Popularität von Verschwörungstheorien geführt.

Also wenn man sich das nicht anders erklären konnte, dann sind Verschwörungstheorien sehr, sehr hilfreich dafür, zu sagen: Das ist der eigentliche Grund, warum das hier, diese ganze Corona-Pandemie, passiert ist, diese Personen sind schuld, so kommen wir hier wieder hinaus. Und das ist eine relativ große Gruppe an Leuten, die bestimmten Verschwörungstheorien zur Corona-Pandemie anhängen, eine deutlich größere Gruppe als das Kernpublikum extremistischer Akteure.

Und so haben sich vor allen Dingen rechtsextreme Gruppen eben gedacht: Hier haben wir ein neues Publikum, das uns möglicherweise zuvor noch nicht zugehört hat. Aber jetzt folgen sie viel Anti-Establishment-Narrativen, sie sind skeptisch gegenüber dem Regierungshandeln. Sie sind skeptisch gegenüber Fachautoritäten, medizinischen Autoritäten. Hier können wir mit unseren Erzählungen ansetzen. Das beobachten wir während der Krise sehr, sehr stark.

 

Moderation:

Wenn wir jetzt zu denjenigen gehen, die raufspringen – kannst du uns die Menschen beschreiben, die sich identifizieren mit den Narrativen von Islamisten, Rechtsextremen, vielleicht auch noch Corona-Leugner*innen? Was ist sozusagen der fruchtbare Boden, auf den solche Narrative fallen?

 

Jakob Guhl:

Ja, es ist natürlich nicht so ganz einfach, so eindeutige Profile gibt es jetzt natürlich nicht, dass das irgendwie diese drei, vier Faktoren hat, wenn man die identifiziert, dann kann man quasi auch potenzielle Extremisten identifizieren. Aber was wir natürlich sehen, ist, dass es ein großes Misstrauen gibt gegenüber Eliten. Was wir sehen können, ist, dass es im Bereich Rechtsextremismus sehr, sehr große Enttäuschung über die Demokratie gibt, sehr, sehr große Skepsis gegenüber der Liberalisierung der Gesellschaft, gegenüber Einwanderung. Dass es eine sehr, sehr große wahrgenommene Bedrohung der eigenen Identität gibt. Und das sind, denke ich, Faktoren, die zu einem gewissen Teil vielleicht auch im Bereich islamistischer Extremisten anzutreffen sind. Da kommen natürlich häufig dann auch noch – bestimmte Diskriminierungserfahrungen können da reinspielen, also Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus. Also, der existiert natürlich und der ist auch sehr bedrohlich für die Personen, die davon betroffen sind, aber wo natürlich dann auch extremistische Akteure sich bewusst sind und sagen: An diesen Erfahrungen können wir ansetzen. Also, für uns ist das, was für die eine sehr, sehr schmerzhafte Erfahrung ist, ist für uns auch eine Möglichkeit, unsere Inhalte quasi schrittweise zu platzieren und zu sagen: Das, was du hier an Erfahrungen machst, mit antimuslimischem Rassismus, das ist nicht nur deine persönliche, isolierte Erfahrung in Deutschland, sondern es ist Teil eines breiteren Phänomens, eines Kriegs gegen den Islam. Der manifestiert sich in Xinjiang, der manifestiert sich in Palästina, in Syrien und der manifestiert sich eben auch in antimuslimischem Rassismus in Deutschland.

Und das ist dann quasi der erste Schritt, wo angesetzt werden kann, um zu sagen: Deswegen musst du dich im Grunde hier nach politischen bzw. spirituellen Alternativen umsehen, und da haben wir ein Angebot für dich.

Was die Corona-Leugner*innen angeht, gibt es sicherlich auch einiges an Parallelen, natürlich vor allen Dingen zu Rechtsextremisten. Aber es ist schon auch, scheint mir, in der Breite nochmal eine andere Gruppe. Also, natürlich setzen zum Teil Rechtsextremisten auf Verschwörungstheorien und zum Teil haben Verschwörungstheoretiker*innen rechtsextreme Vorstellungen oder sind zumindest sehr, sehr tolerant gegenüber rechtsextremen Akteuren. Also, sagen beispielsweise: Wir haben mehr Angst vor der Bundesregierung als davor, dass bei uns Rechtsextreme mitmarschieren. Aber was man ja auch zum Teil an diesen Studien gesehen hat, der Uni in Basel, ist, dass es einfach auch ein breiteres Spektrum an Personen ist. Und dass es neben den Leuten, die Richtung rechts bzw. rechtsextrem tendieren, auch ein Publikum gibt, das im Grunde zuvor wahrscheinlich eher so leicht nach links gelehnt hätte, an alternativen Lebensmodellen interessiert ist, häufig ein Interesse an esoterischen Ideen hat, und wo der Anti-Establishment-Twist eher so aus der Ecke kommt. Und die eigentlich sich weniger mit Rechtsextremen identifizieren und daher auch – für die fühlt es sich so an, als würden sie da mit Leuten in einen Topf geworfen werden, mit denen sie eigentlich gar nichts zu tun haben. Deswegen würde ich sagen, sind die Corona Leugner*innen, trotz dieser gewissen inhaltlichen und personellen Überschneidungen, denke ich, doch in der Breite noch mal eine andere Gruppe als die Rechtsextremist*innen.

 

Moderation:

Der Report von Jakob Guhl und Lea Gerster kann übrigens kostenlos im Internet runtergeladen werden, den Link findet ihr in der Beschreibung unseres Podcasts.

Im letzten Teil geht es nun noch einmal zu Lena Frischlich. Mit ihr habe ich die Frage vertieft, ob es Menschen gibt, die stärker anfällig für extremistische Narrative sind als andere. Wenn wir alle ein Grundbedürfnis nach Erzählungen haben, sind wir möglicherweise auch alle anfällig für extreme Narrative?

 

Lena Frischlich:

Also ich glaube, diese Frage was ist eben auch Resilienz oder Widerstandsfähigkeit und wann verschwindet oder bricht sozusagen diese Widerstandsfähigkeit? Das ist eine, die noch an vielen Stellen offen ist und sehr interessant. Ich glaube aber auch, wenn wir alle mal so in uns gehen und übers letzte Jahr nachdenken, dann haben wir, glaube ich, bei vielen Menschen auch in unserem Umfeld gesehen, dass Unsicherheit, Wut, sich sehr schnell verändernde Bedingungen so eine Öffnung erzeugen können für vielleicht auch eine sehr extreme Interpretation von Weltanschauung.

Und ich sage das wirklich sehr offen und sehr frei. Ich glaube, diese Idee, zu sagen Extremismus oder Radikalisierung, das ist jetzt etwas, das passiert sozusagen nur bestimmten Gruppen, das gibt’s in anderen Religionen, Ländern, Kulturkreisen, Geschlechtern nicht – das kann man so nicht halten. Es gibt immer Dynamiken und Trends, und es gibt auch bestimmte Akteure, die einfach sehr viel präsenter sind im Augenblick in Deutschland. Das muss man auch so sagen. Es ist nicht gleichwertig.

Aber dieses grundsätzliche menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Sinnhaftigkeit, danach, Teil von etwas Größerem zu sein, was von Extremist*innen ausgenutzt werden kann – das teilen wir, glaube ich, schon zum großen Batzen alle. Aber viele von uns haben eben ein etwas besseres Schutzschild.

 

Moderation:

Ich denke auch, dass alle dann doch im letzten Jahr die Erfahrung gemacht haben, dass man dafür vielleicht nicht offener wird, aber doch alles poröser wird.

 

Lena Frischlich:

Ja, und ich glaube, ganz oft ist es für uns halt irgendwie auch leichter zu denken: Na ja, es sind halt die Muslime, die Esoteriker, die Ostdeutschen, die Gamer, die psychisch Kranken, die irgendwie diejenigen sind, denen diese Radikalisierung passieren kann. Also, gerade wenn wir uns Medienberichte angucken über islamistischen Extremismus, aktuell über Corona-Skeptiker, über auch rechtsextreme Anschläge, dann gibt es oft noch ein Zusatzlabel, was darauf geklebt wird, was uns so ein bisschen das Gefühl gibt: „Alle außer uns“ könnten sozusagen in diese Situation kommen. Und das ist einfach – das ist sicherlich psychologisch sehr beruhigend, aber es ist einfach nicht gedeckt von Fakten.

Also, wir wissen, dass menschenfeindliche Einstellungen, in der, wie auch immer sie definiert sein soll, Mitte der Gesellschaft total weit verbreitet sind. Ich glaube, dass die Bereitschaft auch tatsächlich zur Gewaltausübung, ich sage das jetzt mal so hart, bei jedem Menschen es irgendeine Grenze gibt, die überschritten werden kann. Das heißt nicht, dass ich glaube, dass wir umgeben sind von Leuten, die wahnsinnig radikal sind. Ganz im Gegenteil. Also, bei allem, was im letzten Jahr passiert ist, bei allen Änderungen, bei allem „Wir hocken aufeinander“ unter wirklich auch teilweise total belastenden Situationen, schaffen wir das doch immer noch sehr gut alle miteinander, natürlich nicht an allen Stellen, aber die meisten schaffen es ja dann doch irgendwie, noch friedlich miteinander klarzukommen. Aber wir sind am Ende alle Menschen, und da können Dinge zusammenkommen, die uns einfach anfällig machen oder verletzlich machen für bestimmte Entwicklungsprozesse.

 

Moderation:

Damit wäre auch die Frage, wo Pädagog*innen ansetzen können, mit beantwortet, nämlich vielleicht bei dem Bedürfnis, was dahintersteht, in Narrativen. Und wir haben ja schon auch darüber gesprochen, dass auch in Narrativen, an denen sich Extremisten bedienen, ein Wahrheitsgehalt stecken kann. Also wenn wir sagen, es geht darum, Kinder zu schützen, dann sind sich alle einig erst mal. Und auch in anderen Narrativen ist manchmal vielleicht ein kleiner Wahrheitsgehalt, aber eben doch einer. Sonst würden sie vielleicht auch nicht so gut funktionieren. Wie sollten Pädagog*innen damit umgehen?

 

Lena Frischlich:

Ich glaube, grundsätzlich heißt es auch, ganz früh damit anzufangen, Menschen tatsächlich demokratisch zu behandeln. Also, wir können natürlich ganz viel tolle Geschichten darüber erzählen, wie – auch das ist ja ein Narrativ – das Narrativ z.B. vom Tellerwäscher zum Millionär. Dieses amerikanische „Jeder kann es bei uns schaffen“-Narrativ, das ist ja auch eine Geschichte, die viel Zugkraft hat, die aber natürlich unheimlich frustriert wird, wenn ich nie eine Wohnung bekomme, nicht eingeladen werde zu Vorstellungsgesprächen, immer das Gefühl habe, dass ich ausgegrenzt werde.

Und diese Frage, wie wir, glaube ich, demokratische, mündige Bürger*innen erziehen, das ist eine, die gar nicht so viel – ich weiß, der letzte Podcast, da ging es auch um die Frage, was ist eigentlich Bildung, was ist Pädagogik und auch Prävention. Es geht ja auch ein bisschen um die Frage: In welcher Welt wollen wir leben? Und ich glaube, gerade für Pädagog*innen heißt das auch sozusagen schon im Kindergarten damit anzufangen: Wie kann ich Menschen beibringen, auf ihre Grenzen zu achten? Wie kann ich Menschen einbetten in Entscheidungsprozesse? Wie kann ich Partizipation und Teilhabe ermöglichen? Und da auch Räume schaffen, in denen diese demokratischen Narrative – auch das sind Narrative und sinnstiftende Erzählungen – Europa zum Beispiel ist eine solche Erzählung. Wie kann ich dafür sorgen, dass die auch als reell erlebt werden? Und wo fangen diese Konstruktionen auch an, hohl oder scheinheilig zu wirken, weil sie einfach mit meiner Lebensrealität nicht übereinstimmen?

 

Moderation:

Ja, da sind wir ja jetzt eigentlich bei den alternativen Narrativen gelandet, den alternativen oder Gegennarrativen, Gegenerzählungen. Das ist ja auch schon am Anfang unseres Gesprächs gefallen, und die Begriffe tauchen eben immer wieder auf, auch in der pädagogischen Arbeit. Können wir jetzt klären, was Gegennarrative sind, und im Gegensatz dazu „alternative Narrative“?

 

Lena Frischlich:

Schlechte Begriffe (lacht) – nein, ich versuche das anders zu erklären. Also, die Idee vom Counter- oder Gegennarrativ ist eben, die zentrale Sinnkonstruktion des Narrativs zu nehmen, den Teil, den man sozusagen widerlegen will, zu ändern, und aber diese sinnstiftende Erzählung zu behalten. Das klingt ein bisschen wie die eierlegende Wollmilchsau, hätte meine Oma gesagt, und ist auch ungefähr genauso kompliziert.

Deswegen wird ganz oft dieser Begriff auch verwendet für zum Beispiel Videos, die sehr spezifische Aspekte ansprechen, sich z.B. über Extremist*innen lächerlich machen, um eben diese Überhöhungskonstruktion anzugehen. Das sind aber eben im eigentlichen Sinn dann keine Narrative mehr, die irgendwie sinnstiftend sind, rahmend sind. Oft sind sie auch noch nicht mal besonders gut erzählt, das nur so am Rande. Und von daher ist dieses „Countering“, dieses Widersprechen, etwas, was verschiedene Aspekte beinhaltet.

Jetzt gerade diskutieren wir auch viel über Fehlinformationen oder sogenannte Fake News, auch noch so ein gar nicht so günstig definierter Begriff – und da reden wir dann oft über Debunking, also das wirkliche Widerlegen mit Fakten. Und da haben wir in den letzten Jahren auch wirklich viele Studien gesehen, die gesagt haben: Ja, das ist eine gute Idee. Man muss schon auch mit Fakten arbeiten, aber der Effekt ist gar nicht so riesig groß, weil bestimmte Dinge eben übergreifend sind.

Und gerade wenn es um so – wir haben jetzt schon drüber gesprochen, dieser Wunsch, Schwächere zu schützen oder ein Held zu sein oder Teil von einer besonderen Gemeinschaft zu sein – das lässt sich schlecht mit Fakten widerlegen. Das sind oft sehr lange Distanzierungsprozesse, die Menschen aus solchen Gemeinschaften zurückführen. Wir haben es ja jetzt zum Beispiel auch in den USA gesehen, dass diese Behauptung, dass Donald Trump sagt, die Wahl wäre gestohlen worden, zwar einige Menschen dazu gebracht hat, nach der Amtseinführung von Joe Biden dann auch zu sagen: „Irgendwas ist hier schiefgelaufen“. Aber auch jetzt, gestern, vorgestern, bei den Reden von Donald Trump wieder frenetische Jubelrufe, die überhaupt nicht von dieser Geschichte zurücktreten.

Und alternative Narrative sollen eben genau das tun. Die sollen diesen sinnstiftenden Rahmen sozusagen ernst nehmen, das Bedürfnis ernst nehmen und eine Alternative bieten. Das heißt, von der Funktion her geht das schon viel mehr in die Richtung, die man vielleicht auch als sinnvoll erachten würde – ich finde den Begriff schrecklich ungünstig gewählt, ich hasse den.

Warum? Weil natürlich das so tut, als wäre Extremismus das „default setting“ und das, wo Menschen irgendwie drauf zulaufen. Und Demokratie, Pluralismus, Miteinander wäre irgendwie die kleine Alternative. Und das ist ja überhaupt nicht in Zahlen in irgendeiner Form gerechtfertigt. Also, Gewaltaffinität, tatsächlich das, was wir so intuitiv als Allererstes denken, wenn wir an gewaltbereite Extremisten denken, das ist ein wahnsinnig winzig kleiner Teil, der überhaupt nicht attraktiv ist für die meisten Menschen, der auch überhaupt nicht Riesenmassen anzieht.

Deswegen bin ich nicht so ein Fan von diesem „alternativen Narrativ“-Begriff. Ich glaube, die Grundidee dahinter zu sagen: Offensichtlich haben Menschen das Bedürfnis, wertgeschätzt zu sein, angesehen zu sein, das Gefühl zu haben, was zu können und sich frei entscheiden zu können – das müssen wir irgendwie hinkriegen, als Gesellschaft, ihnen das zu ermöglichen, weil sonst andere dieses Angebot machen. Davon halte ich schon deutlich mehr.

 

Moderation:

Das führt vielleicht zu einer Abschlussfrage. Also, die fast ein Resümee vielleicht ist, und zwar noch mal die nach den Narrativen und ihrer Überzeugungskraft im Gegensatz zu eher analytischen Ansätzen, argumentierenden Ansätzen und nicht erzählenden Ansätzen. Es gibt ja auch eine Kritik daran, „alternative Narrative“, wenn ich es jetzt noch einmal so nennen kann, das zu schaffen …

 

Lena Frischlich:

(unterbricht) … ich habe noch keinen besseren Begriff, ich verspreche, ich hätte ihn sonst verraten. Ich suche da auch schon seit Jahren, also Vorschläge gerne per E-Mail, jederzeit.

Ja, also, all das, worüber wir jetzt gesprochen haben, Überzeugungskraft, das alles – wie Spiderman sagen würde: „Mit großer Macht kommt große Verantwortung“. Ich glaube immer dann, wenn es nicht ehrlich gelebt wird, sondern manipulativen Charakter hat, dann wird das auch durchaus zu Recht kritisch gesehen.

Also, ich glaube, das ist schon auch eine Frage: Wie sollte strategische Kommunikation aussehen? Wie sollte Pädagogik aussehen? Wollen wir nicht Menschen auch zu kompetenten analytischen Bürger*innen in diesem Staat erziehen? Ich glaube aber, dass da verschiedene Dinge vermischt werden. Und ich glaube, ein zentraler Punkt, den wir uns hoffentlich merken, ist, dass es keine Gießkanne für eine gute Welt gibt. Es gibt keine Gießkanne, die uns alle zu willenlosen Extremist*innen macht. Aber es gibt auch nicht eine Gießkanne, die dafür sorgt, dass wir morgen alle mit uns selbst im Reinen lebende demokratische Bürger*innen sind.

Dafür ist das alles zu kompliziert. Grundsätzlich gibt man in der Persuasions-, also in der Überzeugungsforschung davon aus, dass es zwei Pfade gibt, eine eher heuristische Verarbeitung, sozusagen nebenbei, wo man sich auf so Daumenregeln – wir nennen das halt Heuristiken – verlässt: „Hat ein Experte gesagt, wird schon stimmen“ oder „War ein längerer Text, der ist vielleicht ein bisschen überzeugender, als wenn jemand einen kurzen Tweet schreibt“, und eine eher systematische, elaborierte Auseinandersetzung mit Inhalten. Das ist eigentlich das, wovon wir träumen, in so einer deliberativen Demokratie, dass die Leute sich wirklich hinsetzen, Argumente prüfen, sich eine eigene Meinung bilden, sich wirklich mit dem Thema auseinandersetzen.

Jetzt wissen wir alle, wir haben auch noch andere Dinge zu tun. Wäsche muss gewaschen werden, wir müssen arbeiten, Kinder müssen zur Schule – keine Ahnung. Ganz oft geht das also gar nicht in jedem Detail. Und vor allem immer dann, wenn uns das Thema nur so am Rande interessiert oder wenn wir auch gar nicht die kognitive Kapazität übrighaben, uns wirklich mit Argumenten auseinanderzusetzen, dann folgen wir sozusagen eher dieser heuristischen Route.

Und das macht es dann eben schwierig, Menschen zu erreichen, die vielleicht gar nicht so sehr am Thema interessiert sind oder vielleicht auch ein bisschen skeptisch einem Thema gegenüberstehen. Und da können Geschichten ein Türöffner sein. Türöffner in dem Sinne, als dass wir bei Geschichten oft nicht als Allererstes in so einer Widerstandshaltung sind. Also, ich kann Harry Potter nicht lesen oder Star Wars nicht gucken, wenn ich denke: „Ach, im Weltraum, auf dem Schiff, ohne Anzug, funktioniert ja alles nicht“, wenn ich nicht bereit bin, sozusagen ein bisschen Inkonsistenten auch für die Geschichte mit aufzunehmen. Und das eröffnet erst mal Möglichkeiten, miteinander ins Gespräch zu kommen. Aber man muss eben auch wirklich ganz klar sagen: Alle diese Dinge – das ist keine hypodermale Nadel, durch die irgendwelche Medieneffekte in Leute reinkommen wie eine Medizin, und dann ist alles in Ordnung, sondern Menschen verarbeiten Medieninhalte oder Kommunikation allgemein, und diese Verarbeitung beeinflusst am Ende auch, ob da irgendwie eine Änderung der Einstellung oder eine Modifizierung der Einstellung passiert.

Wer schon mal versucht hat, seine Einstellung gegenüber z.B. Schokolade zu ändern, jetzt gerade in der Fastenzeit, wird wissen: Einstellungsänderung sehr schwierig, Verhaltensänderungen noch schwieriger. Das alles sind sehr lange Prozesse, die nicht von heute auf morgen gehen.

 

Moderation:

Das ist eine Erfahrung, an die ich zumindest sehr gut anknüpfen kann … und damit wäre auch geklärt, was Schokolade in diesem Podcast zu suchen hat – sie illustriert bestens, dass sich Einstellungen und Verhaltensweisen nicht so leicht ändern lassen und dass also auch ein Narrativ nicht einfach Einstellungen von heute auf morgen ändern kann.

Veröffentlichungen von Lena Frischlich haben wir ebenfalls in der Beschreibung unseres Podcasts verlinkt, für alle, die das Thema noch weiter vertiefen möchten. Auf der Internetseite des RISE-Projekts findet ihr zum Thema „Narrative gegen islamistischen Extremismus“ außerdem einen kritischen Kommentar von Sindyan Qasem von der Uni Münster. In seinem Text „Powerful and Tricky“ bezweifelt der Sprach- und Kulturwissenschaftler, dass Gegennarrative ein geeignetes pädagogisches Mittel für die Extremismusprävention sind.

Mit diesem Lesetipp verabschiede ich mich – auf Wiederhören – und bis zur nächsten Folge!