1. Wann ist ein Mann ein Mann?
In der Alltagssprache sagt man, dass Menschen ein Geschlecht haben bzw. weiblich oder männlich sind. Grammatikalisch ist das nicht falsch, aber die Alltagssprache deutet hier eine trügerische Sicherheit an. Die soziologische Forschung zu Geschlecht hat besonders mit dem Ansatz von Doing Gender gezeigt, dass Geschlechtszugehörigkeiten und mit ihnen verbundene Bewertungen und Erwartungen nicht als unveränderlich gegeben sind, sondern in der sozialen Praxis immer wieder hergestellt und bestätigt werden müssen. Als Beispiel für die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht werden oftmals trans* Menschen genannt. Sie haben bei der Geburt eine Geschlechtszugehörigkeit zugeschrieben bekommen, mit der sie sich nicht identifizieren können, und erleben häufig eine Übergangsphase der Geschlechtsangleichung, in der sie ihre wahrhaftige, aber gesellschaftlich neu zu akzeptierende Geschlechtszugehörigkeit immer wieder rechtfertigen müssen. Mann oder Frau zu sein oder auch sich mit beidem nicht wohl zu fühlen, wird hier als etwas sichtbar, das gesellschaftlich anerkannt werden muss (Gildemeister 2013). Diese Anerkennung hängt zu großen Teilen an kulturell geprägten Praktiken und Erwartungen, die es zu erfüllen gilt. In Bezug auf Männlichkeit schreiben deswegen Stuve und Debus:
„[Es] handelt […] sich bei Männlichkeit […] um eine (kulturelle) Anforderung, ein (kulturelles) Muster, mit dem sich all jene auseinandersetzen müssen, die als Jungen und Männer anerkannt werden wollen oder die von ihrem Umfeld als Jungen [oder Männer] gesehen werden – selbst wenn sie sich nicht selbst als solche empfinden“ (Stuve/Debus 2012).
Wann ein Mann für die Mehrheitsgesellschaft ein Mann ist, wird oft daran gemessen, ob gesellschaftlich und kulturell tradierte Männlichkeitsanforderungen erfüllt werden oder nicht. Aber selbst, wenn diese erfüllt werden: Als Mann erkannt zu werden, ist nicht gleichbedeutend damit, auch als Mann anerkannt zu werden, also ein „richtiger“ Mann zu sein. Neben der Zuschreibung, ein Mann zu sein, hängt die Anerkennung als Mann oftmals an kulturellen Idealisierungen von Männlichkeit (Stuve/Debus 2012).
Diese Idealisierungen können von jungen Menschen als Belastung erlebt werden. Mit ihnen können außerdem Abwertungen gegenüber Menschen gerechtfertigt werden, die diesen Idealen nicht entsprechen. Ziel dieses Textes ist es, die aktuellen Diskussionen und Konflikte um Männlichkeit zu skizzieren und Beispiele für mediale Erscheinungsformen aufzuzeigen, mit denen junge Menschen in sozialen Medien in Berührung kommen. Dafür wird in Kapitel 2 darauf eingegangen, warum die Konflikte um Männlichkeit so kontrovers sind. Kapitel 3 und 4 zeigen auf, wie mithilfe von hegemonialen Idealisierungen von Männlichkeit Gemeinschaft, aber auch Hierarchie und Abwertung hergestellt und aufrechterhalten werden können. Kapitel 5 zeigt auf, welche medialen Erscheinungsformen diese Dynamiken besitzen und wie konflikthaft sie sind. Kapitel 6 gibt Hinweise, wie das Thema in der medienpädagogischen Praxis bearbeitet werden kann.
2. Warum gibt es so viele Konflikte bei Genderthemen?
Die Auseinandersetzung um Gender und Sexualität ist aus makrosoziologischer Perspektive eine der vier großen Konfliktarenen der Gegenwart.[1] Mau, Lux und Westheuser bezeichnen sie in ihrem viel beachteten Buch „Triggerpunkte“ als „Wir-Sie-Ungleichheitsarena“:
„In ihr wird darum gerungen, was als ‚normal‘ und anerkennenswert gilt und was als Abweichung sanktioniert wird. Anders ausgedrückt: Thema ist hier jene mehr oder weniger offene Hierarchisierung von Gruppen, die sich im Alltag in verschiedenen Formen der Diskriminierung manifestiert: Von beiläufigen Zeichen des Unbehagens, wie irritierten Blicken in der Bahn, über Exotisierung bis hin zu rechtlichem Ausschluss, verbalen Angriffen und Hassgewalt“ (Mau et al. 2023, S. 160).
Die Norm(-alität) war über Jahrhunderte zum einen, dass es mit Mann und Frau zwei klar abgrenzbare Geschlechteridentitäten gab und dass diese über heterosexuelle Beziehungen miteinander verbunden waren. Zum anderen wurde über Religion und Kultur die männliche Rolle stark aufgewertet und über die weibliche gestellt, z. B. indem Frauen der Zugang zu Wissen, Besitz und politischer Macht lange verwehrt wurde. Die daraus entstandenen Strukturen aus Dominanz und Unterdrückung werden zwar schon lange kritisiert und wurden in den letzten Jahrzehnten durch Feminismus und kritische Männlichkeit nachhaltig aufgebrochen und für den Diskurs verfügbar gemacht. Bis heute haben sich jedoch Strukturen tradierter Muster von Männlichkeit erhalten und werden weiterhin teilweise massiv verteidigt (Connell/Messerschmidt 2005; Meuser 2022). In der Literatur wird das als hegemoniale Männlichkeit beschrieben.
Dass sich die Einstellungen zu hegemonialer Männlichkeit verändert haben, zeigen auch Mau et al. auf Basis repräsentativer Erhebungen. Ihr Fokus liegt vor allem darauf, inwieweit Genderidentitäten und sexuelle Vielfalt außerhalb heteronormativer Orientierungen akzeptiert werden: So zeigen sie, dass 1990 nur 30 Prozent der Befragten der Aussage „Homosexualität ist in Ordnung“ zustimmten, während es 2018 über 60 Prozent waren.[2] Auch spricht sich eine große und wachsende Mehrheit für mehr Gleichstellung bspw. in Bezug auf das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare aus (Mau et al. 2023, S. 169). Dass parallel dazu die Konflikthaftigkeit der Auseinandersetzung um Genderentwürfe und sexuelle Orientierungen zunimmt, ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Mau et al. schreiben:
„Erst wo die Ungleichbehandlungen von Gruppen nicht mehr als ’natürliche‘, schicksalhafte, schlichtweg gegebene Tatsache akzeptiert wird, werden die Anerkennungshierarchien zum Gegenstand sozialer Verständigung. Vormals ausgeschlossene und „stumme“ Gruppen fordern dann die als verdient und angemessen wahrgenommenen Vorrechte, Selbstverständnisse, Institutionen, Sprechweisen und Praktiken der kulturell und strukturell dominanten Mehrheitsgesellschaft heraus“ (Mau et al. 2023, S. 163).
Hier zeigt sich, was in der soziologischen Forschung als Tocqueville-Paradoxon bezeichnet wird: Die steigende Sensibilisierung für diskriminierende Ungleichheiten führt zum Abbau diskriminierender Strukturen. Dies geschieht in unserem Beispiel, indem von feministischen und männlichkeitskritischen Akteur*innen zunehmend mehr Ungleichheiten als Diskriminierung markiert werden. Mit der steigenden Sensibilisierung werden mehr und mehr Ungleichheiten sichtbar. So führt der Abbau von Diskriminierung im gesellschaftlichen Diskurs vorübergehend dazu, dass ihre Problematisierung paradoxerweise wächst. Mehr Konflikte werden sichtbar und ausgetragen. El-Mafaalani, Waleciak und Weitzel formulieren es so:
„Je erfolgreicher ein Problem (etwa Geschlechterungleichheit, soziale Unterschiede oder soziale Unsicherheit) bekämpft wird, desto stärker wird das verbliebene (und zugleich kleiner gewordene) Restproblem wahrgenommen und diskutiert. Entsprechend lässt sich mit einem – zumindest zeitweise – erhöhten Konfliktpotential bei aktiver und erfolgreicher Bekämpfung von Diskriminierung benachteiligter Gruppen rechnen“ (El-Mafaalani et al. 2017, 186.).
Das erhöhte Konfliktpotenzial lässt parallel zum Abbau der Diskriminierung auch den Widerstand gegen diesen Abbau wachsen. Getragen wird dieser Widerstand vor allem durch Gruppen, deren privilegierte Positionen delegitimiert werden und/oder die diese kulturelle Veränderung als krisenhaft bzw. überfordernd wahrnehmen (vgl. Koppetsch 2017). Im gesellschaftlichen Diskurs findet sich dies in Debatten um Normalität wieder, die durch die beschriebenen Triggerpunkte angeheizt werden (vgl. Teil 1).
3. Hierarchie und Gemeinschaft der Männlichkeit(en)
Es gibt heute mehr Möglichkeiten denn je, männlich zu sein. Statt nur einer Vorstellung von Männlichkeit gibt es viele verschiedene, die besonders in den digitalen Medien zum Ausdruck gebracht werden können (vgl. Lucero 2017). Doch gerade die Männlichkeitsvorstellungen, die von traditionellen Bildern abweichen, werden in den digitalen Medien oft stark abgewertet und mit Hass konfrontiert. Hier zeigen sich erneut die paradoxen Tendenzen, die bereits oben erwähnt wurden: Während Vielfalt und ihre Sichtbarkeit zunimmt, gibt es gleichzeitig auch eine verstärkte Sichtbarkeit des Widerstands gegen diese Zunahme.
Im Weiteren skizziert dieser Text vor allem, welche problematischen Tendenzen innerhalb dieser Dynamiken entstehen können. Wichtig ist aber, herauszustellen, dass hier nicht die Dynamiken der Aushandlung von Männlichkeit an sich problematisiert werden sollen. Dass sich junge Menschen mit Männlichkeitsvorstellungen auseinandersetzen, sie für sich prüfen und andere Personen mit ihnen beurteilen, ist ein wichtiger Bestandteil jugendlicher Sozialisation. Dabei entstehen auch Konfliktdynamiken. Es wird diskutiert, konkurriert und gestritten. Selbst Formen kämpferischer Auseinandersetzung gehören selbstverständlich dazu und sind nicht für sich genommen problematisch (vgl. Teil 1).
Stuve und Debus beschreiben diese kämpferischen Formen als „ernste Spiele des Wettbewerbs“ (Stuve/Debus 2012, S. 47ff.).[3] Zu diesen Spielen gehören die verschiedensten Sportarten wie Fußball, Kanu, Ringen, aber auch kulturelle Praktiken wie Rap, Musik, Sprayen, Gaming und sogar Mutproben, Trinkrituale oder Debattierklubs.[4] Innerhalb ernster Spiele wird um soziales Prestige und Kapital gerungen, Erfolg führt zum Aufstieg in männlichen Hierarchien. Erfolg ist jedoch nicht das Einzige, was zählt. Neben Prestige und Rangordnung spenden die ernsten Spiele auch Zugehörigkeit und Zusammenhalt:
„Trotz – oder vielleicht besser wegen – des konkurrenzhaften, tendenziell kämpferischen Charakters der ernsten Spiele wirken sie auf das Verhältnis unter (den teilnehmenden) Männern und Jungen nicht trennend. Vielmehr entsteht umgekehrt eine besondere Bindung zwischen den Teilnehmern, die darauf beruht, dass sie sich in den ernsten Spielen gegenseitig als Jungen bzw. Männer anerkennen (male bonding)“ (Stuve/Debus 2012, S. 48)
Die ernsten Spiele des Wettbewerbs schaffen Gemeinschaft, gleichzeitig können sie jedoch auch eine auf Männlichkeit bezogene gruppenspezifische Hierarchie erzeugen, in der die Teilnehmenden um Anerkennung wetteifern. Das ist für sich genommen nicht problematisch. Problematisch wird es ab dem Punkt, an dem der Wetteifer um Männlichkeit mit Gewalt und Abwertung verbunden ist. Ein wichtiges Beispiel dafür ist, was als „hegemoniale Männlichkeit“ bezeichnet wird.
4. Hegemoniale Männlichkeit(en)
Womit hegemoniale Männlichkeit verbunden wird, ist zeitgeschichtlich und in Abhängigkeit von gesellschaftlicher Schicht verschieden. Entscheidend sind aber häufig Vorstellungen von Macht und Erfolg bzw. Vorstellungen davon, wie diese zu erreichen sind. Gegenwärtig zeigt sich in der Mehrheitsgesellschaft eine hegemoniale Männlichkeit, die „in hohem Maße als leistungsfähig und -bereit, belastbar, entscheidungs- und durchsetzungsfähig“ dargestellt werden kann (Stuve/Debus 2012, S. 52). Verbunden ist sie gemeinhin mit Machtpositionen und der Verfügbarkeit ökonomischer Ressourcen. Wer sich diese Attribute anschaut, wird zum einen feststellen, dass sie nicht zwangsläufig mit einem bestimmten Gender verbunden werden müssten. Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit können Menschen jeden Geschlechts zeigen. Dass sie besonders in Bezug auf das Berufsleben und damit den Erwerb gesellschaftlichen Einflusses am ehesten mit Männern verbunden werden, hat nicht mit einem wesenhaften Unterschied zwischen Mann und Frau zu tun, sondern ist das Produkt von Vorteils- und Nachteilsstrukturen (gendering structures), die in Bezug auf Männlichkeitsrollen weiterhin privilegieren (Hirschauer 2001, S. 229).
Zum anderen ist die leistungs- und erfolgsorientierte Version hegemonialer Männlichkeit für viele junge Menschen nur sehr schwer erreichbar. In ihren Peerbezügen bilden sie deswegen alternative Formen hegemonialer Männlichkeit aus, bei denen sie Macht und Erfolg mit für sie besser erreichbaren Eigenschaften verbinden. Ein Beispiel dafür sind auf der Dualität von Mann und Frau beruhende Vorstellungen des starken und gewaltbereiten Mannes, dessen Wert sich vor allem aus der Unterscheidung zum ‚Kontrastgeschlecht Frau‘ bemisst. Die Abhängigkeit des Wertes von Männlichkeit zeigt sich besonders deutlich in Genderkonzepten des Rechtsextremismus:
„Aus dem dualen Geschlechtermodell, das keine Gender-Identitäten anerkennt, werden nicht nur klare Rollenverteilungen zwischen Männern und Frauen abgeleitet, selbige fungieren auch als Basis von Identitätskonstruktionen. […] Anstelle von vielfältigen und an individuellen Bedürfnissen ausgerichteten Lebensentwürfen stehen normative Vorgaben, unter die sich die Einzelnen unterwerfen können oder sollen. Die Attraktivität der Zugehörigkeit und Unterordnung ist nicht zuletzt in den Dominanz- und Privilegienstrukturen zu finden, die aus der Geschlechterkonstruktion sowie der damit einhergehenden Heteronormativität abgeleitet […] werden“ (Goetz 2022, S. 38).
Mit einem als ‚natürlich‘ verstandenen Geschlechterdualismus argumentieren rechtsextreme Akteur*innen gegen queere Genderentwürfe und Vorstellungen von Männlichkeit, die eben diesen Dualismus auflösen. Als ‚natürlich‘ gedachte Vorstellungen sind sie gut anschlussfähig an Auseinandersetzungen der Mehrheitsgesellschaft um die herausgeforderte ‚Normalität‘ der Geschlechterordnung, wie sie in der Wir-Sie-Arena verhandelt wird. Auf diese Weise können sich rechtsextreme Diskurse über Männlichkeit mit den Aushandlungen der Mehrheitsgesellschaft verbinden. In der Fachliteratur wird von Scharnierdiskursen oder Brückenideologien gesprochen, die extremistische Sprecher*innen und ihre Positionen anschlussfähig für die breite Bevölkerung machen (Goetz 2022, S. 38).
Besonders anschlussfähig ist der rechtsextreme Geschlechterdualismus an die Auseinandersetzung von Jungen mit ihrem eigenen Gender. Ohne Verweis auf rechtsextreme Ideologien stellt Meuser fest, dass Jungen ihr Gender im Vergleich zu Mädchen unter einem starken Eindeutigkeitszwang herausbilden. Es hat für sie negativere Konsequenzen, wenn sie vermeintlich weibliche Eigenschaften zeigen, als für Mädchen, die vermeintlich männliche Eigenschaften zeigen. Besonders in männlichen, homosozialen Peergroups kann aus dieser Abgrenzung ein starker Verhaltensdruck entstehen, durch den die Orientierung an hegemonialer Männlichkeit verstärkt wird (Meuser 2022, 1390ff.).
Im Zusammenspiel von der Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrem Gender, den beschriebenen Konzepten hegemonialer Männlichkeit und den ernsten Spielen des Wettbewerbs können Hierarchisierungen von Männlichkeit entstehen, die Stuve und Debus wie folgt darstellen:
Wenige Jungen/Männer entsprechen dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit. Vielmehr finden sie sich in einer Lage wieder, die als komplizenhafte Männlichkeit beschrieben wird. Als Komplizen verhalten sie sich anerkennend und unkritisch gegenüber den wenigen, die das Ideal erfüllen können. Gegenüber Jungen/Männern oder Mädchen/Frauen, die unter den Männlichkeitspraxen leiden, sind sie nicht solidarisch. Auf diese Weise stützen sie die Hegemonie. Die untergeordnete Männlichkeit stellt das Gegenbild zu hegemonialer Männlichkeit dar. Auf diesen Platz können beispielsweise homosexuelle Männer verwiesen werden. Marginalisierte Männlichkeit ist noch weiter ausgegrenzt und abgewertet. Während Komplizen und Untergeordnete noch innerhalb der Gruppe sind und mehr Anerkennung oder „Aufstieg“ erfahren können, sind marginalisierte Männer* davon größtenteils ausgeschlossen. Stuve und Debus führen dafür rassistische und soziale Ungleichheitslinien sowie geistige und/oder körperliche Behinderungen an.
5. Mediale Konflikte um Männlichkeit
Medien sind für die Verhandlung von Männlichkeit und an sie geknüpfte Erwartungen eine wichtige Öffentlichkeit. Junge Menschen rezipieren über Medien verschiedene Geschlechterbilder. Besonders digitale Medien bieten ihnen die Möglichkeit, sich auch anonym oder vor einem (scheinbar) ausgewählten Publikum mit unterschiedlichen und auch abweichenden Entwürfen von Männlichkeiten darstellen zu können. Für viele junge Menschen ist das eine wichtige Ressource (Koschei 2021, 15ff.). Gleichzeitig finden sich online aber auch Inhalte, durch die problematische Bilder von und Erwartungen an Männlichkeit verstärkt werden können. Darüber hinaus befördern diese Inhalte Konfliktdynamiken in der Wir-Sie-Ungleichheitsarena, deren demokratische Aushandlung durch medienpädagogische Bildungsarbeit unterstützt werden sollte. Beispiele für problematische Erscheinungsformen hegemonialer Männlichkeit, die in sozialen Medien weitere Verbreitung gefunden haben, sollen im Folgenden vorgestellt werden.
5.1 Echte Chads, richtige Männer?
Eine in Memes verbreitete Art, sich mit Männlichkeit auseinanderzusetzen, sind verschiedene Chad-Charaktere. Es gibt den Giga Chad, den Yes Chad oder auch Chad Thundercock (Abb. 2,3 & 4 zu den Chads). Allen Chads gemein ist, dass sie eine Idealisierung hegemonialer Männlichkeit darstellen, bei der es vor allem um körperliche ‚Attraktivität‘ und den ‚Erfolg‘ bei Frauen geht (vgl. 5.2).
Die Attraktivität der Chads wird vor allem an ihren Körpern festgemacht: Sie sollen groß, durchtrainiert und muskulös sein. Das idealtypische Beispiel dafür ist der Giga Chad, der den Körper eines Bodybuilders hat.[5] Vom Giga Chad abgleitet wird als Idealbild eine bestimmte Kinnform, für die bei Snapchat sogar Filter aufgerufen werden können, die von User*innen hinzugefügt wurden (Know your Meme) (Vgl. Abb. 4 & 5, Snaps vom Autor). Filter für ähnliche Gesichtsveränderungen werden auch für Videos auf TikTok und anderen Plattformen genutzt
Als Referenz für Männlichkeit genutzt werden die Chads vor allem von rechtsextremen und frauenfeindlichen Gruppierungen. Besonders wichtig sind die Chad-Idealisierungen für die sogenannten Incels (involuntary celibates), die von sich sagen, unfreiwillig auf sexuelle Beziehungen zu Frauen verzichten zu müssen. In der Vorstellung der Incels sind Chads einerseits Ideale von Männlichkeit, denen sie gerne nachstreben würden. Gleichzeitig betrachten sie die Chads jedoch auch als verachtenswert, weil sie Teil eines Systems sind, das aus der Sicht der Incels durch die Politiken zur Gleichstellung der Frau korrumpiert wurde. Frauen hätten auf diese Weise die Macht bekommen, weniger ‚attraktive‘ Männer abzulehnen und auf diese Weise zu Incels zu machen (Temel 2022). Der Logik dieses Denkens folgend teilen die Incels Männer (und Frauen) nach Attraktivität auf einer Skala von eins bis zehn ein. Die einzelnen Stufen der Skala werden teilweise zusammengenommen und es entstehen Gruppen von Männlichkeit(-sanforderungen), die der oben beschriebenen Hierachisierungsdynamik (Abb. 6) sehr ähnlich sind.
Stufe 1 entspricht der marginalisierten Männlichkeit, bei der es ausgeschlossen ist, dass sie Anerkennung oder ‚Aufstieg‘ erfährt. Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen werden am Anfang dieser Skala eingestuft und die Personen selbst als Truecels bezeichnet – als wahrhaft, im Sinne von verdient, zölibatär lebende Personen. Die Incels selbst sehen sich auf Stufe 2 und 3. Diese Stufen werden als solche beschrieben, auf denen man Ablehnung und Abwertung aufgrund seines Äußeren erfährt. Entsprechend der oben beschriebenen Hierarchisierung wären sie auf der Stufe der untergeordneten Männlichkeit, die noch auf einen Aufstieg hoffen kann. Komplizenhafte Männlichkeit kommt den sogenannten Normies zu (Stufen 4–7). Diese haben Beziehungen zu Frauen, da sie aber gleichzeitig – in der Logik der Skala – jeweils bestimmte Fehler und Schwächen haben, sind diese Beziehungen immer prekär, weil Frauen sich – in der Logik der Incels – vor allem für Chads (Stufen 8–10) interessieren und Normies verlassen, sobald sich die Möglichkeit für eine Beziehung mit einem Chad ergibt.
Die beschriebene Skalierung von Attraktivität scheint extrem, sie findet sich aber in abgeschwächter Form in vielen Inhalten (nicht nur) US-amerikanischer Populärkultur sowie auch z. B. auf TikTok und Instagram wieder. Dort halten junge Frauen und Männer ihre Gegenüber an, sie zu bewerten – und die User*innen kommentieren fleißig mit.
Auch ein Chad-Charakter findet sich außerhalb der Incel-Vorstellungen in Auseinandersetzungen um Männlichkeiten wieder. So wird der Yes Chad in rechtsextremen Memes genutzt, um den Mann als Ernährer der Familie und Vater vieler Kinder darzustellen. Hier wird ein traditionelles Bild von Männlichkeit anschlussfähig für rechtsextreme Ideologien gemacht, ohne dass dies sofort offensichtlich ist (Abb. 14-15). Eingebettet sind diese Inhalte, die den Yes Chad nutzen, oftmals in eine Auseinandersetzung um Veränderungen von Männlichkeitsvorstellungen durch mehr Gleichstellung und das Aufbrechen tradierter hegemonialer Männlichkeit. Diese Debatten stehen im Kern der Auseinandersetzungen der Wir-Sie-Arena.
Besonders deutlich wird das in Videos, in denen bei leichter Musik Körper, die nicht der idealisierten Norm entsprechen, wie die Körper von trans und inter Menschen, Menschen mit Behinderung und mehrgewichtigen Menschen in Kontrast gesetzt zu den Körpern von Bodybuildern, die bei starkem Bass und martialischen Klängen gezeigt werden. Diese Videos stellen eine liberale, angeblich verweichlichte Männlichkeit der ‚normalen‘, ‚natürlichen‘, hegemonialen Männlichkeit gegenüber, die es anzustreben gelte.
5.2 Erfolg im Dating, Erfolg als Mann?
Ein wichtiges Merkmal der hier verhandelten Form hegemonialer Männlichkeit ist, dass sich der Wert eines Mannes direkt aus seinem ‚Erfolg‘ bei Frauen bemisst. ‚Erfolg‘ meint in diesem Zusammenhang vor allem, dass ‚attraktive Männer‘ – sog. Chads (vgl. 5.1) – schnell und leicht sexuelle Beziehungen mit ‚attraktiven Frauen‚ eingehen können – die Attraktivität der Frau wird auch hier wieder vor allem über ihren Körper begründet. In der frauenfeindlichen Gruppe der Pick up Artists (PUAs), die zudem der extremen Rechten zugeordnet werden, wird diese Logik auf die Spitze getrieben. PUAs verstehen die Anbahnung einer sexuellen oder auch langfristigen Beziehung in einer stark instrumentellen Logik: Sie müssen in sich selbst investieren, in ihr Aussehen, ihren wirtschaftlichen Erfolg, Statussymbole und ihre Persönlichkeit. Dadurch erhöhen sie ihren Marktwert auf der Attraktivitätsskala. Rothermel et al. zitieren den Beitrag eines PUAs aus einem Online-Forum:
„The key to getting women to want you is to get to them to invest in you. Certain characteristics may cause them to invest in you without the need to try hard or even approach. […] Increasing the number and quality of these characteristics will have a direct positive effect on our ability with the opposite sex” (Rothermel et al. 2022, S. 126).
Die Beziehungsanbahnung zu Frauen wird hier über eine Wenn-Dann-Logik beschrieben. Das übt einerseits Druck auf die Männer aus, bestimmte Bedingungen erfüllen zu müssen. Andererseits legt es nahe, dass Beziehungen als eine Form von Manipulation verstanden werden können und ‚erfolgreiche‘ Männer diejenigen sind, die am besten wissen, wie sie Frauen manipulieren können. Im Detail mag das abwegig klingen, in der Grundtendenz ist es jedoch für viele junge Männer anschlussfähig. Denn Männlichkeit und Sexualität werden in der Adoleszenz häufig miteinander verknüpft. Meuser schreibt:
„In der männlichen Peergroup ist Sexualität ein zentrales Thema der Kommunikation (Cohan 2009; Matthiesen 2013; Tervooren 2006, S. 195-200). Für die Jungen ist es wichtig, sich als sexuell kompetent darzustellen. Geschlechtsverkehr mit einer Frau gehabt zu haben, fungiert als Männlichkeitsbeweis und verschafft einen Statusgewinn bei den Freunden (Winter und Neubauer 1998, S. 241)“ (Meuser 2022, S. 1398).
Was Meuser hier beschreibt, gilt auch für junge Männer, die noch keine sexuellen Beziehungen mit Frauen gehabt haben. Auch für sie ist die heterosexuelle Selbstrepräsentation als Beweis eigener Männlichkeit von großer Bedeutung (ebd.). Bei einigen von ihnen können deswegen die Angebote selbst ernannter Dating Coaches in sozialen Medien auf besonderes Interesse stoßen. Diese Angebote sind nicht zwangsläufig rechtsextrem, sie verbinden aber sehr häufig unreflektierte Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit mit frauenfeindlichen und antifeministischen Positionen.
Ein Beispiel dafür ist der Account „Lasse Landeck – Datingcoach für Männer“, der auf Instagram über 75.000 Follower*innen hat (Stand August 2024). Landeck ist neben Instagram auch auf TikTok, YouTube und Facebook aktiv.[6] Seine Videos tragen Titel wie „Die drei häufigsten Fehler, die Männer immer wieder auf Dates machen“, „Wie versagt man als Mann nicht mehr im Bett“, „Ohne maskuline Ausstrahlung zu daten, ist lost“ oder „10 von 10 daten, ist gar nicht so schwer, wenn du …“
Wer sich für mehr interessiert, dem bietet Landeck ein kostenpflichtiges Coaching. Die Inhalte von Landeck sind teilweise bestärkend. Sie versuchen, jungen Männern Mut zuzusprechen und fordern sie auf, sich um sich selbst zu kümmern. Landeck verbindet seine Hinweise jedoch immer wieder mit problematischen Grundeinstellungen, wie sie für hegemoniale Männlichkeit typisch sind. Männlichkeit leitet er aus dominanten Verhaltensweisen ab und den Erfolg seines Coachings für Männer aus der Anzahl der Dates, die sie anschließend mit Frauen haben. In einem Video zu „Kundenerfolgen“ erzählt einer seiner Kunden:
„Durch das Coaching, gerade beim Online-Dating, wurde an gewissen Stellschrauben gedreht und auf einmal funktioniert es. Seitdem hatte ich schon 26 Dates. Beim Online-Dating komme ich gar nicht nach, weil ich Schwierigkeiten habe, mit mehreren Frauen gleichzeitig zu schreiben. Ich muss mich dann wirklich auf 2-3 konzentrieren, sonst komme ich durcheinander. Da schreiben mich sogar attraktive Frauen an, was vorher gar nicht da war, also das finde ich schon echt klasse.“
Der interviewte Mann hat „Stellschrauben“ verändert und ist auf einmal ‚erfolgreich‘. Dass er ‚Erfolg‘ beim Dating hat, verbindet er mit der Anzahl von Treffen und Kontakten, die er mit Frauen durch das Coaching hat. Auch die anderen Männer im „Kundenerfolg-Video“ sprechen darüber, wie viele Dates sie hatten: 80–90 seit dem Coaching, eine zweistellige Zahl im Monat usw. Die Aussagen der Interviewten sind ein fast schon idealtypisches Beispiel dafür, wie der Wert eines Mannes in der Vorstellung hegemonialer Männlichkeit aus seiner Beziehung zu Frauen abgeleitet wird.
6. Konfliktdynamiken um Männlichkeit mit Medien bearbeiten
In diesem letzten Abschnitt sollen Anregungen gegeben werden, wie zur kontroversen Verhandlung von Männlichkeit medienpädagogisch gearbeitet werden kann. Grundlegend ist es dafür hilfreich, sich an zwei Prinzipien der geschlechterreflektierten Arbeit zu orientieren: Dramatisierung und Entdramatisierung (Debus 2012).[7] Mit der Dramatisierung werden die jeweils zu bearbeitenden Aspekte von Männlichkeit im pädagogischen Setting sichtbar gemacht. Dies geht oftmals mit der Reproduktion von Stereotypen einher oder dem Aufzeigen von Ungerechtigkeiten bzw. Diskriminierung. Ziel ist es, die jeweiligen Aspekte besprechbar zu machen und im Gruppenprozess zu reflektieren. Die Herausforderung besteht darin, die behandelten Stereotype nicht weiter zu verstärken oder Momente von Diskriminierung in der Gruppe hervorzurufen. Hier muss je nach Setting und Zielgruppe entschieden werden, wie das am besten gelingen kann.
Im Anschluss an eine Dramatisierung oder wenn bestimmte Konflikte, z. B. um Männlichkeit, in einer Gruppe wiederholt auftreten, braucht es eine Entdramatisierung: „Entdramatisierende Herangehensweisen geschlechterreflektierter Pädagogik lassen sichtbar bzw. erfahrbar werden, dass Geschlecht weder die einzige noch die wichtigste Kategorie individueller wie gesellschaftlicher Differenz ist.“ Der Fokus kann hier individuelle Interessen und Lebenswege einbeziehen, durch die auch Unterschiede innerhalb von Genderkategorien sichtbar werden. Möglich ist es auch, nicht primär genderbezogene Zugehörigkeiten anzusprechen, aus denen gemeinsame Interessenlagen entstehen, z. B. kulturelle Vorlieben, sozioökonomische Schichten, Herkünfte, Bildungsabschlüsse. Beide Prinzipien sollen in der Folge helfen, die Empfehlungen zur (medien-)pädagogisch unterstützten Aushandlung von Konflikten zu strukturieren.
Fachkräfte reflektieren die eigene Gendersozialisation
Voraussetzungen für eine vertiefte (medien-)pädagogische Arbeit zum Thema Männlichkeit ist, dass sich die Fachkraft mit ihrer genderrelevanten Sozialisation auseinandersetzt. Dafür existieren verschiedene Materialien, bei denen es sich empfiehlt, sie im Kolleg*innenkreis zu diskutieren. Hilfreich sind bspw. die Arbeitsblätter „Welche Rolle spielt Geschlecht in meiner Biografie?“ und „Reflexionsfragen zur Bedeutung der eigenen Geschlechtlichkeit und Sozialisation für pädagogisches Handeln“ von Dissens e. V. Bei den Arbeitsblättern geht es einerseits darum, für sich selbst Rollenbilder und Prägungen zu erkennen und darüber nachzudenken, welche Genderrollen diese bedingen. Anderseits lassen sich von dieser Arbeit auch eigene Sprechweisen und die (un)bewusste Reproduktion von Geschlechterbildern im Umgang mit der Zielgruppe abstrahieren. Das ermöglicht, für sich zu prüfen, inwiefern das eigene Handeln den pädagogischen Zielen zuträglich ist.
Aktive Medienarbeit zum Thema Männlichkeit
Grundlegend für das pädagogische Arbeiten mit Medien ist die aktive Medienarbeit. Sie beinhaltet, dass junge Menschen einen kompetenten Umgang mit Medien nicht nur in der Auseinandersetzung mit Medieninhalten erlernen, sondern selbst eigene Medienbeiträge zu einem für sie relevanten Thema produzieren. Der Prozess der Produktion ist hierbei wichtiger als die Qualität des Endproduktes. Denn während der Produktion setzen sich die Teilnehmenden zum einen mit dem Thema auseinander und diskutieren die für sie relevanten Details. Zum anderen müssen sie sich in der Auswahl des Mediums mit den unterschiedlichen Darstellungsformen und -grenzen medialer Kommunikation befassen (Materna et al. 2022; Schell 2003).
Eine geschlechterreflektierte Methode der aktiven Medienarbeit wurde im Projekt „GenderONline – Geschlechterbilder und Social Media zum Thema machen“ entwickelt. Nach einem Warm-up zur Darstellung von Superheld*innen wird darüber diskutiert, wie Männlichkeit und Weiblichkeit auf Selfies von Prominenten dargestellt werden. Im Anschluss daran bekommen die Teilnehmenden in Gruppenarbeit die Aufgabe, Instagram-Profile verschiedener Personas ausgehend von einem einfachen Portraitfoto entsprechend unterschiedlicher Gendervorgaben zu gestalten (Link hier). Mit dem Format des Selfies können Teilnehmende aktiv und kreativ zu dem Thema arbeiten. So findet sich bei GenderONline eine Methode, bei der die teilnehmenden Selfie-Aufnahmen von sich selbst als männlich, weiblich oder genderneutral inszenieren sollen. Ziel der Methoden ist, dass die Teilnehmenden in den Austausch über ihre Vorstellungen von Gender und Männlichkeit kommen, diese miteinander diskutieren und reflektieren können.[8]
Eine weitere Methode hat Debus (Link hier) ausgearbeitet: Die Teilnehmenden werden in zwei Gruppen aufgeteilt und gestalten auf Basis von Pressefotos und -überschriften jeweils eine Wandzeitung zum Thema Rollenerwartungen an Männlichkeit. Statt einer Collage wäre hier auch eine Methode denkbar, bei der Screenshots aus dem Netz zusammengetragen und dann präsentiert werden (z. B. mit Canva, Mural, Padlet).
Gesprächsanlässe zu Männlichkeit schaffen
Für den didaktischen Einsatz von Medien in der Arbeit zu Männlichkeit bietet die Plattform geschlechtersensible-paedagogik.de Materialien. Neben einer niederschwelligen Einführung zum Thema Männlichkeit findet sich auf der Plattform das Video eines Theaterprojekts, in dem sich junge Menschen mit Versatzstücken hegemonialer Männlichkeit und ihren Auswirkungen auf ihre Freundschaften humoristisch auseinandersetzen. Wie das Video pädagogisch eingesetzt werden kann, wird dort beispielhaft ausgeführt (Link hier). Vielfache Gesprächsanlässe zum Thema Männlichkeit bietet auch ein Diskussionsvideo aus öffentlich-rechtlicher Produktion: Im ZDF-Format Unbubble geht es darum, verschiedene Meinungen zusammenzubringen und zur Diskussion zu stellen. Im Video „Männer zu weich geworden? Moderne vs. traditionelle Männlichkeit“ (Link hier) diskutieren sechs Personen, Influencer*innen, Autor*innen und ein Psychiater, 13 Fragen. Fragen und Antworten schaffen unterschiedliche Anknüpfungspunkte zum Inhalt dieses Textes, nicht immer werden allerdings problematische Antworten ausreichend aufgelöst.[9] Insgesamt bietet das Video einen sehr guten Einblick in die Kontroverse um Männlichkeit und verschiedene Anknüpfungspunkte, um mit verschiedenen Jugendlichen in die Diskussion zu kommen.
Diskussionsführung und Entdramatisierung
Für die Diskussionsführung entscheidend ist, die Diskussion nicht auf Konsens, sondern auf die Akzeptanz unterschiedlicher – aber nicht aller – Positionen herauslaufen zu lassen und dadurch die Vielfalt von Gendervorstellungen in einer Gruppe sichtbar zu machen (vgl. Teil 1). Wie mit den Herausforderungen in diesem Prozess umgegangen werden kann, dafür teilt Debus in ihren Materialien Erfahrungen und gibt hilfreiche Hinweise (siehe Link hier in den Abschnitten „Kommentare, Erfahrungen, Risiken“). Wichtig ist, auch bei problematischen Äußerungen die Kommunikationsabsicht der Sprecher*innen verstehen zu wollen und diese in die Diskussion einbringen zu können. Die größten Herausforderungen bestehen zum einen, wenn menschenverachtende Positionen gezeigt werden. Hier gilt es als Fachkraft, die professionellen Grenzen vorher im Team geklärt zu haben und diese gemeinsam mit der ganzen Gruppe dann auch durchzusetzen. Zum anderen ist es herausfordernd, dass in kontroversen Diskussionen einzelne Teilnehmende verbal verletzt oder diskriminiert werden könnten. Die Methodenauswahl und auch die bearbeiteten Themen müssen deswegen der Gruppe bestmöglich angepasst werden. Empfehlenswert ist es, am Anfang der gemeinsamen Arbeit mit den Teilnehmenden über ihre Grenzen zu sprechen und gemeinsame Regeln aufzustellen. Dazu gehört auch, dass sich einzelne Personen aus Diskussionen zurückziehen können bzw. dass die Gruppenleitung einzelne Personen vorübergehend aus der Gruppe nimmt, um individuell mit ihnen zu arbeiten.
Zum Ende der Arbeit zu Männlichkeit ist es wichtig, das Thema pädagogisch zu entdramatisieren. Denn selbst wenn die Teilnehmenden sich in ihren Gender- und Diskussionspositionierungen unterscheiden, kann es auf anderen Ebenen gemeinsame Erfahrungen und Interessen geben. Diese Erfahrung nach einer Kontroverse zu machen und zu erleben, wie weitere Zugehörigkeiten und Verbindungen sichtbar werden, hilft, das diskutierte Thema als eines – wenn auch wichtiges – unter vielen einordnen zu können. Methodisch können hierfür verschiedene Positionierungsspiele genutzt werden. Eine sehr niederschwellige Methode heißt „Alle, die …“ (Link hier). Die Teilnehmenden bilden einen Stuhlkreis, eine Person, der ein Stuhl fehlt, steht in der Mitte und überlegt sich eine Aussage, die mit „Alle, die …“ beginnt, z. B. „Alle, die nicht ohne Handy ihr Haus verlassen“ oder „Alle, die von ihrem Taschengeld Spiele kaufen“. Alle, auf die die Aussage zutrifft, erheben sich und suchen sich mit der stehenden Person einen neuen Platz. Eine Person bleibt übrig und ist die nächste, die eine „Alle, die …“-Aussage treffen soll.
Eine umfangreichere Methode ist die „Identitätsblume“. In dieser Übung setzen sich die Teilnehmenden mit den verschiedenen Facetten ihrer Identität auseinander und schaffen über diese Gemeinsamkeiten mit anderen. Am Anfang der Übung bekommt jede*r Teilnehmer*in ein Blatt mit einer gedruckten Blume, deren Blätter groß genug sind, um darin schreiben zu können. Die Teilnehmenden füllen die Blütenblätter jeweils mit Bezugsgruppen oder Aktivitäten aus, die ihnen besonders wichtig sind. Anschließend fragt die Workshopleitung nach den unterschiedlichen Antworten und diejenigen Teilnehmenden stehen auf, die das Gleiche oder etwas sehr Ähnliches in die Blüte geschrieben haben. Im Anschluss finden sich Kleingruppen und sprechen über ihre Gemeinsamkeiten und wie sie diese in ihrem Alltag gestalten (Link hier).
Die beschriebenen Themen und Methoden bilden jeweils nur einzelne Bausteine für die Auseinandersetzung mit Männlichkeitsbildern. Je nach Zielgruppe können sie für die medienpädagogische Arbeit unterschiedlich geeignet sein. Entscheidend ist, dass sie als Teil einer prozesshaften Auseinandersetzung mit Geschlechterbildern verstanden werden. Für die Begleitung dieses Prozesses soll dieser Text einige Impulse geben und die angegebenen Links und Quellen sollen als Ausgangspunkte für die weiterführende Beschäftigung dienen.
veröffentlicht am 04.11.2024
Literaturverzeichnis
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Einzelnachweise
- Die anderen drei sind die Oben-Unten-Ungleichheitsarena, die Innen-Außen-Ungleichheitsarena und die Heute-Morgen-Ungleichheitsarena (Mau et al. 2023). Zur besseren Verständlichkeit und aufgrund der Zeichenbegrenzung des vorliegenden Textes soll hier auf die Wir-Sie-Ungleichheitsarena fokussiert werden. Auch diese wird jedoch nicht in Gänze dargestellt. In der Darstellung von Mau et al. umfasst sie Auseinandersetzung um strukturellen Rassismus sowie heterosexistische Diskriminierungen queerer und nicht binärer Personen. Eingegangen wird hier auf die letztgenannten Diskriminierungsformen.
- Mau et al. diskutieren, dass „in Ordnung“ finden zwar tolerieren heißt, aber nicht mit Wertschätzung einhergeht und vorhandene Machtasymmetrien und damit eingehende Abwertungen oftmals unberührt lässt. Ihre Diskussion bezieht sich auf unterschiedliche Formen von Toleranz nach Rainer Forst, die für eine vertiefte Beschäftigung sehr zu empfehlen sind
- Stuve und Debus beziehen sich hier auf Vorarbeiten von Pierre Bourdieu.
- Die „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ werden hier in ihrer Funktion zur Erfüllung von Männlichkeitsanforderungen dargestellt. Sie werden jedoch selbstverständlich auch von Personen genutzt, die sich nicht als männlich identifizieren, und haben subjektiv wie kollektiv auch andere Funktionen als den Erwerb von Genderrollen.
- Die Fotos des Giga Chads sind höchstwahrscheinlich manipulierte Bilder, in denen es um die Idealisierungen eines männlichen Körpers ging, für den unterschiedliche Aufnahmen zusammengefügt wurden
- Die Accounts von Lasse Landeck sind mittlerweile nicht mehr abrufbar. Wir behalten seine Accounts als Referenz bei, weil die hier beschriebenen Dynamiken auch für andere Accounts sog. Dating-Coaches typisch sind.
- Mit Nicht-Dramatisierung stellt Katharina Debus ein drittes Prinzip vor (Debus 2012). Dieses wird aus Platzgründen hier ausgespart.
- Methodisch sollte hier in jedem Fall eine Entdramatisierung folgen, vgl. unten.
- In der Arbeit zum Video könnten sich die Teilnehmenden mit den Social-Media-Accounts und Positionen der einzelnen „Expert*innen“ im Video auseinandersetzen. Diese decken ein beachtliches Spektrum an möglichen Positionen ab. Kritisch hinterfragt werden muss das Video vor allem wegen der Relativierung eines „Experten“ in Bezug auf die Rolle von Andrew Tate für Erwartungen an Männlichkeit. Wenn dies ausreichend bearbeitet wird, kann das Video sehr hilfreich für eine Reflexion sich wandelnder Erwartungen an Männlichkeit sein.