Bei einer Führung durch das Museum sagten Sie, dass Deutschland erst im 20. Jahrhundert plural geworden ist, während es die Staaten im Nahen Osten bereits Jahrhunderte früher gewesen sind. Was genau meinten Sie damit?

Stefan Weber

Unsere eigene Wahrnehmung von Deutschland und Europa ist ja, dass wir eine plurale Tradition haben und von Vielfältigkeit in der Gesellschaft ausgehen können. Wenn man das mit dem Nahen Osten vergleicht, ist es allerdings nur bedingt so. Da spielen zum einen natürlich der Zweite Weltkrieg und das Dritte Reich eine große Rolle. Hier wurde Vielfalt radikal bekämpft. Erst in den 1960er-Jahren kam es danach wieder verstärkt zu Zuwanderung. Zum anderen zeigt sich das auch in der älteren deutschen Geschichte, die immer wieder durch Epochen geprägt war, die Genozide und Ausgrenzung im Zentrum hatten. Die religiöse Polarität zwischen katholischer und protestantischer Kirche ist dafür ein gutes Beispiel. Wir hatten in Deutschland über die Jahrhunderte einen Konflikt zwischen Protestant*innen und Katholik*innen. Das war schwer auszuhalten und hat unter anderem im 30-jährigen Krieg zu unglaublichen Verwüstungen geführt – nicht wegen der Religion, sondern meistens aus politischen Interessen. Aber im Nahen Osten ist das ein bisschen anders.

Im Nahen Osten sind schon die verschiedenen Konfessionen allein christlicher Gruppen deutlich mehr als in Deutschland vorhanden. Das geht auch unter anderem aus der Geschichte des Christentums hervor, das sich dort entwickelt hat. Das hängt natürlich aber auch mit Krisen zusammen, wenn man zum Beispiel an die armenischen Bevölkerungsgruppen denkt, die nach Syrien und in den Libanon migriert sind. Auch gab es Vertreibungen aus dem Osmanischen Reich. Generell kann man aber sagen, dass die verschiedenen christlichen Gruppen recht frei lebten, ihr Leben organisieren konnten, vielfältiger waren und das nicht nur bei den Christ*innen, sondern auch bei den Jüdinnen und Juden. Wir haben, wenn wir von Kultur im Nahen Osten reden, sehr stark multireligiöse, multilinguale, multiethnische Gesellschaften, die weit bunter sind, als wir das aus unseren eigenen Geschichten kennen.

Als ein Beispiel für Pluralität in islamischen Gesellschaften haben Sie bei Ihrer Führung das Aleppo-Zimmer gezeigt. Was können wir am Beispiel des Aleppo-Zimmers über Pluralität und Pluralismus lernen?

Stefan Weber

Am interessantesten finde ich, dass die vielen Minderheiten in Aleppo zusammen die Gesellschaften trugen. Wenn wir im Museum heute von muslimischen Gesellschaften reden, sprechen wir eigentlich über muslimisch geprägte Gesellschaften. Das soll auszudrücken, dass es viele andere religiöse Gruppen gab, die aber gleichzeitig die Gesellschaft mittrugen.

Abb. 2, Wanddekorationen aus Aleppo, Malerei auf Holz, ca. 1600-1603, bekannt als Aleppo-Zimmer, Quelle: Museum für Islamische Kunst

Das Aleppo-Zimmer bringt diese Multikulturalität auf eindrückliche Weise zum Ausdruck, wobei es im Aleppo der damaligen Zeit mehrere solcher repräsentativen Zimmer gab, die vor allem für die städtische Oberschicht zugänglich waren. Für die Umsetzung der Malereien in diesen Zimmern konnte beispielsweise ein Iraner aus dem Iran engagiert werden, der Persisch sprach. Der hat dann persische Malerei für einen Angestellten der osmanischen Verwaltung umgesetzt, der Christ war und selbst osmanisches Türkisch sprach, neben seiner griechischen oder armenischen Muttersprache. Die ganze Stadt war geprägt von verschiedenen sprachlichen, ethnischen und religiösen Einflüssen. Diese kulturelle, von allen mitgetragene Vielfalt zeigt sich im Aleppo-Zimmer. Da gibt es Nuancen, die das Zimmer klar als christliches verständlich machen. Auf der anderen Seite ist das Zimmer durchsetzt mit persischen und osmanischen Elementen der Malerei. Da gibt es beispielsweise einen Satz, der fängt mit bismillah an und da denkt man: „Ja, jetzt kommt der Koran.“ Aber stattdessen geht es danach um die christliche Trinität, nicht ganz offensichtlich, aber auch nicht verschlüsselt.

Sie beschreiben Multikulturalität als ein hochgeschätztes Element von privilegierten urbanen Schichten. Übertragen auf die Ausgangsfrage: Inwiefern war Aleppo nicht nur plural, sondern auch pluralistisch in dem Sinne, dass die verschiedenen Gruppen gleichberechtigt und gemeinsam die Stadt gestalteten und regierten. War das schon Pluralismus oder war es vor allem Vielfalt?

Stefan Weber

Wir reden von einer vormodernen Gesellschaft, von einer nicht-demokratischen Gesellschaft. Damals waren die Maßstäbe, die man heute an plurale Gesellschaften setzt – jeder partizipiert, kann aber sein, wie er möchte – nicht realisierbar. Bestimmte Gruppen hatten keinen Zugang zur Macht und das wurde auch nicht verhandelt. Vorne stand – in der osmanischen Zeit – der Gouverneur und da kam man nicht so schnell hin. Trotzdem ist es so, dass es ein Miteinander dahingehend gab, dass bestimmte Werte, wie Gesellschaft zu funktionieren hat, auch geteilt wurden. Hochzeiten, Beerdigungen und andere wichtige gesellschaftliche Ereignisse laufen zwar unterschiedlich ab, aber sind auch in Vielem gleich. Zu vielen Sachen gab es einen sehr pragmatischen Zugang. Im frühen 17. Jahrhundert in Aleppo war es beispielsweise üblich, dass jede Glaubensgemeinschaft ihre Gerichtshöfe hatte. Das wurde toleriert und organisiert, innerhalb der Communities. Aber die Bürger*innen der Stadt konnten unabhängig von ihrer Ethnie oder Religion hingehen, wo sie wollten – wo es billiger war oder schneller ging.

Ohne idealisieren zu wollen, ist das schon ein beeindruckendes Beispiel, wie sehr unterschiedliche Gruppen vor Jahrhunderten auf engstem Raum zusammenleben und kooperieren konnten. Gleichzeitig ging das auch nicht ohne Konflikte. Kann man rückblickend etwas davon lernen, wie im Osmanischen Reich mit Konflikten umgegangen wurde?

Stefan Weber

Ja, gesellschaftliche Konflikte sind etwas, das in Wellen und Zyklen immer wieder vorkommt. Das ist, glaube ich, etwas, das dazugehört, wenn sich Menschen über Gruppenzugehörigkeiten organisieren und es irgendwann nicht mehr klappt, dass sie gemeinsame Interessen über Partikularinteressen setzen. Was wir für uns heute lernen können, ist, dass wir nicht die Gesellschaften anderer Länder für Intoleranz verdammen und uns selbst als beste Beispiele für Toleranz loben sollten. In der Geschichte islamisch geprägter Gesellschaften gab es äußerst interessante Phasen. Die sollte man sich anschauen. Aber die Lösung von Konflikten ist Verhandlungssache, und diese Verhandlungen beginnen immer wieder von vorn. Das kann uns kein historisches Modell abnehmen.

Sie verfolgen in Ihrem Museum einen transnationalen Ansatz, der kulturhistorische Verbindungen deutlich machen möchte. Was können wir von diesen Verbindungen lernen und wie eng war der Mittelmeerraum historisch und kulturell miteinander verbunden?

Stefan Weber

Wenn man so historisch in einem Museum arbeitet, dann merkt man manchmal auch seinen eigenen Hang zur Romantisierung. Es gibt beides. So wie heute. Wenn man sich heute vorstellt, der eine liegt am Badestrand und auf der anderen Seite kommt jemand als Bootsflüchtling an, dann weiß man, dass das Mittelmeer verbindend und abgrenzend gleichzeitig ist. Und das ist es über die Jahrhunderte, Jahrtausende kann man schon fast sagen. Es ist das Mare Monstrum und das Mare Nostrum. Es hat zu viel Unglück und zu viel Glück geführt. Die positiven Seiten, die Verbindungen sind über die Jahrhunderte da. Das ist auch etwas, woran man festhalten sollte. Selbst die Kreuzzüge sind nicht nur Brandflecken, sondern auch Kulturautobahnen zwischen Nord und Süd, vor allem Richtung Norden. Diese Dinge gehörten zu unserem Lebensalltag in der Geschichte. Und das versuchen wir im Museum zu erzählen.

Abb. 3, Prof. Dr. Stefan Weber, Direktor des Museums für Islamische Kunst im Pergamonmuseum, Quelle: Issam Hajjar

Das, was da passiert, an kulturellem Austausch über die Jahrhunderte hat uns und unser kulturelles Ich geprägt. Also meine Lieblingsgeschichte ist immer die der Oud, eines Saiteninstruments, das aus dem südlichen Mittelmeerraum kommt und sogar schon vorislamisch dort vorhanden war. Die Oud ist in der islamischen Zeit sehr verbreitet gewesen und kam darüber nach Spanien, wurde die Laute und nachher die Gitarre. Auf diese Weise gibt es eine ganze Reihe weiterer Instrumente, die keine gerade Entwicklungslinie haben, aber deren Ursprung immer wieder auf den Nahen Osten zurückweist, wie die Geige, das Klavier, die Oboe. Oder anders: Die Instrumente sind gewachsen, sie haben sich verändert. Aber sie sind ursächlich miteinander verbunden. Ohne den Nahen Osten, ohne die arabische Oud gäbe es Elvis Presley nicht, wie ich in Vorträgen gerne verkürzt sage. Denn die Musik, die wir heute kennen, ob es Klassischeres, ob es Rock’n‘Roll oder Folk ist, wäre nicht möglich gewesen. Und wenn man jetzt die Musik im Nahen Osten anschaut, die Helden der arabischen Moderne, wie Fairuz oder Umm Kulthum, mit ihren Geigenorchestern, dann sind sie wieder ganz stark aufgebaut auf den Instrumenten, die aus Europa in den Nahen Osten kamen. Es ist also ein ständiges Hin und Her und eine ständige Verbindung. Und wenn man das weiß, dass Wissen, Wissenschaften, Zahlen, Optik, Mathematik, Philosophie, Kunst, Musik auf diesen Netzwerken beruhen, die durch Andere mitgeprägt wurden – und wenn man weiß, dass man selber genau so ist, wie man ist, weil es das gibt, was ich als „Andere“ bezeichne, dann hilft mir das heute vielleicht auch ganz gut, diese Pluralität auszuhalten und zu verstehen: Dass nicht alle gleich sein müssen, sondern dass es sogar gut ist, dass der Andere anders ist, weil dadurch auch ich einen Mehrwert bekommen habe. Und das ist ja etwas, was man in der Kunst super gut zeigen kann und was man auch nicht wegdiskutieren kann. Man kann das annehmen oder man kann natürlich sagen: „Das interessiert mich nicht.“

Merken Sie in Ihrer Arbeit im Museum auch die Konjunkturen der medialen Islamdebatte, der Islam mal als Bedrohung, der Islam mal als Teil Deutschlands, mal nicht als Teil Deutschlands?

Stefan Weber

Wir stellen uns natürlich auch der Debatte. Wir versuchen, was wir im Museum haben, in die Gesellschaft hineinzutragen. Vor zehn Jahren haben wir angefangen, Materialien zu entwickeln, mit Schulen, fünfte, sechste Klasse. Das Projekt heißt Kulturgeschichten, das kann man umsonst abrufen. Ebenso haben wir Materialien für eine junge muslimische Zielgruppe entwickelt. Wir haben sehr viel auch mit Imamen geredet, die uns gesagt haben, die jungen Muslim*innen kommen zu uns und wollen von uns ihre Identität. Die Imame sagten aber: „Wir sind Theologen, wir können den Koran erklären und sagen, wie die Dinge im Text so zusammenhängen. Aber wir sind ja keine Identitätswache oder Freizeitgestalter.“ Es fehlt den Moscheegemeinden sehr oft an Personal, an Strukturen. Die Gemeinden sind sehr, sehr vielfältig organisiert und haben leider keine finanzierte Seelsorger-Struktur. Wir haben uns zusammengetan, um gemeinsam zu überlegen, wie wir die Geschichten erzählen können. Im Projekt TAMAM entwickelten wir mit 15 Moscheegemeinden und Organisationen vielfältiges Material, das für Jugendarbeit bereitsteht und helfen soll, Pluralität und Verbundenheit auch aus den Objekten und ihren kulturhistorischen Schichten heraus zu sehen. Eben für Fragen, die junge Leute haben. Dies kann man ebenfalls kostenlos abrufen. Gegenwärtig entwickeln wir im Projekt „Gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Zukunft“ weitere Materialien (das Projekt wird wie RISE aus Mitteln der BKM finanziert, Anm. d. Redaktion). Unter anderem arbeiten wir mit dem Georg-Eckert-Institut in Bezug auf Schulbücher zusammen. Mit diesem Material versuchen wir, noch mehr junge Menschen zu erreichen, sodass man diese Zusammenhänge, die Zusammengehörigkeit, die Verknüpfung des eigenen Ichs mit dem, was man sonst als anders definiert, versteht.

  • Kulturgeschichten aus dem Museum für Islamische Kunst einklappen

    Im Projekt Kulturgeschichten wurden fünf Unterrichtsmaterialien für den Einsatz ab der 5. Klasse entwickelt. In den Materialien geht es um Fragen nach dem Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft oder der Überlieferung von Wissen und Know-how am Beispiel von Objekten aus Ländern wie Agypten, Syrien oder Iran. Hier gibt es mehr Informationen und Downloadmöglichkeiten.

  • TAMAM - ein Projekt für kulturelle Bildung einklappen

    Im Projekt TAMAM produzierte das Museum für Islamische Kunst gemeinsam mit dem Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück sowie verschiedenen Moscheegemeinden Materialien für die kulturelle Bildung. Themen der Angebote sind zum Beispiel: Wie kannst du Freiheit beschreiben? Oder: Was ist für dich islamische Architektur? Hier gibt es mehr Informationen und Downloadmöglichkeiten.

  • Multaka: Treffpunkt Museum - Geflüchtete als Guides in Berliner Museen einklappen

    Im Projekt Multaka (arabisch für Treffpunkt) wurden syrische und irakische Geflüchtete in verschiedenen Berliner Museen zu Museums-Guides fortgebildet, damit diese Museumsführungen wiederum für arabisch-sprachige Geflüchtete in ihrer Muttersprache anbieten können. Hier gibt es mehr Informationen.

  • Gemeinsame Vergangenheit - gemeinsame Zukunft einklappen

    Das Projekt nutzt vorhandene Materialien der kulturellen Bildung am Museum für Islamische Kunst und entwickelt diese weiter. Dafür bietet es unterschiedliche Bausteine an, zum Beispiel politische Bildung im Museum, Projekte mit Jugendfreizeiteinrichtungen, Konzertreihen oder die Erarbeitung von Migrationsgeschichten.Hier gibt es mehr Informationen.

Wie kann Museumsarbeit zu gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen bezüglich kultureller und religiöser Pluralität beitragen? Kann dadurch ein Beitrag zu kollektiver Identität gestiftet werden?

Stefan Weber

Das Tolle bei diesen Dingen im Museum ist, dass man sich nicht positionieren muss, man darf sich positionieren, aber man wird nicht wie in vielen Diskursen gezwungen, Positionen zu vertreten. Es geht erst mal nicht darum, seine Meinung gegenüber anderen Meinungen zu verteidigen. Man ist also nicht direkt in so einem Erklärungsmodus oder einer defensiven Verteidigungshaltung, sondern man kann diese Objekte und ihre Geschichten erst mal auf sich wirken lassen und hingucken. Ich habe etliche Führungen gehabt, auch mit Personen, die politisch etwas weiter rechts standen, die auf einmal ganz offen waren für diese anderen Dinge und diese sogar auf ihre eigene Lebenswirklichkeit bezogen. Kultur kann unglaublich charmant sein. Da lassen sich Menschen gerne auch in Gefilde führen, die sie sonst nicht betreten würden.

veröffentlicht am 16.12.2020