Wer hat's gesagt?
Die Erziehung und Wertevermittlung übernimmt das System. Der Begriff Sorgeverpflichteter trifft es ganz gut. Du als Vater oder Mutter sorgst für Essen, Trinken und Obdach. Den Rest übernimmt das System. Das Kind geht ganztägig zur Schule. Die Eltern arbeiten in Vollzeit. Die praktische Zeit der Wertevermittlung ist sowieso nur ganz geringfügig vorhanden und wird von den Eltern selbst leider kaum betrieben.
Dein Kind wird beeinflusst. Die Frage, die sich hier (…) stellt, ist: Von wem wird dein Kind beeinflusst? (…) [Das] System möchte die Erziehung übernehmen (…).
Richtig!
Leider Falsch. Die richtige Antwort wäre "Generation Islam".
Die Gruppe Generation Islam (GI) wird wegen ihrer Nähe zur Hizb ut-Tahrir (HuT) als islamistisch eingestuft. Das Ziel der sehr aktivistischen Bewegung HuT ist es, einen modernen, islamischen Staat als Alternative zu Kapitalismus und säkularer Demokratie zu errichten. Der Hizb ut-Tahrir wird vorgeworfen, zur Gewalt aufzurufen, daher ist sie in Deutschland seit 2003 verboten.
Neben außenpolitischen Themen behandelt Generation Islam in den u.a. auf Instagram, Facebook und YouTube veröffentlichten Beiträgen besonders die Diskriminierungserfahrungen von Muslim*innen in Deutschland.
Die Gruppe hat 67.100 Abonnent*innen auf YouTube, 66.700 Follower*innen auf Instagram und 72.486 auf Facebook (Stand 28.02.22).
Analyse
GI spricht in dem Zitat verschiedene Themen an: die Rolle der Eltern bei der Kindererziehung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Aufgabe der Wertevermittlung und den allgegenwärtigen Konsum. Dahinter steht aber eine übergeordnete Frage: Wie wollen wir leben? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Die Aussage steht dabei für eine grundsätzliche Warnung: „Das System“ wolle die Kinder manipulieren. Wie? Indem beide Elternteile dazu ermuntert werden, zu arbeiten. Lohnarbeit werde als einzig sinnvolle Aufgabe für Erwachsene dargestellt. Dadurch mangele es Eltern an Zeit für die Familie und sie könnten den eigenen Kindern kaum noch Werte vermitteln. In der Konsequenz bestimmt „das System“ die Erziehung und vermittelt den Kindern „seine“ eigenen Werte.
Generation Islam geht davon aus, dass ein zentralisiertes (Gegen)System (hier der Staat) Werte und suggeriert, dass die im Erziehungssystem vermittelten Werte insgesamt nicht den Werten der Gruppe oder den Werten muslimischer Eltern entsprächen.
Was sagen Rechtsextremist*innen dazu?
Auch rechtspopulistische und -extreme Personen und Gruppierungen stellen das Thema Erziehung in den Fokus ihrer Gesellschaftskritik. Zentral dafür ist der Begriff der „Umerziehung“. Er suggeriert, dass in staatlichen Bildungseinrichtungen Schüler*innen indoktriniert werden. Das System wolle sie entsprechend umerziehen. Zum Beispiel würde die Gleichstellung der Geschlechter gefördert. Das widerspreche der angeblich natürlichen Geschlechterhierarchie. Auch würde der Staat an Schulen eine Umerziehung zu einer Kultur der Beliebigkeit und kulturellen Relativierung vorantreiben, mit dem Ziel, die monoethnische, deutsche Kultur abzuschaffen.
Zudem wird das demokratische Erziehungsverständnis, das auf Mündigkeit basiert, kritisiert. Kinder und Jugendliche sollten im Verständnis von Rechtsextremen wie Islamist*innen nicht zu Mündigkeit erzogen, sondern im Sinne natürlicher Werte wie Gehorsam, Disziplin, Pflichterfüllung, Unterordnung geformt werden.
Handlungsalternativen
Wo liegt das Problem?
Einige im Zitat angesprochene Themen können viele Eltern nachvollziehen: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schwierig. Besonders während der Pandemie haben sich Eltern von Kindern angesichts der oft widersprüchlichen Anforderungen an sie überfordert gefühlt. Und es ist legitim zu hinterfragen, inwieweit Arbeit und Beruf gesellschaftlich überwertet werden.
Problematisch an der Kritik von Generation Islam ist allerdings die verschwörungstheoretische Vorstellung, „die“ Politik, „der“ Staat, „die da oben“ oder „das System“ würde hier bestimmte Werte mit dem Ziel einer Zerstörung muslimischer Werte (so wie die Gruppe sie auslegt) durchsetzen. Mit der Realität einer pluralistischen Gesellschaft, in der unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Werte und Normen gelebt werden, haben diese identitären Vorstellungen kaum etwas zu tun.
Narrative, wie Generation Islam sie hier verbreitet, befördern dagegen Misstrauen in demokratische Strukturen und Institutionen. Die Narrative gehen damit über Gesellschaftskritik hinaus, weil sie nicht dazu auffordern, sich demokratisch für Veränderung einzusetzen, sondern auf Rückzug, soziale Abgrenzung und Abwertung hinauslaufen. Das dadurch geschaffene Misstrauen kann so weit gehen, dass wichtige gesellschaftliche Institutionen wie Schulen, Medien, Parteien oder auch Gerichte abgelehnt werden. Im Extremfall kann dies auch in Gewaltbereitschaft münden.
Was tun?
Wie bei vielen anderen Verschwörungserzählungen gilt auch hier: Wertet euer Gegenüber nicht ab! Die Kunst ist es, die Aussage zu hinterfragen, ohne die Person anzugreifen. Zudem lohnt es sich, die Sach- und Faktenebene ruhigen Gewissens zu verlassen: Klar könntet ihr darauf verweisen, dass Schulgesetze von demokratisch gewählten Landesparlamenten verabschiedet werden oder das Überwältigungsgebot es Lehrkräften verbietet, Schüler*innen vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Oder dass die Förderung von ethischer Reflexions- und moralischer Urteilsfähigkeit als Bildungsziel Schüler*innen dazu befähigt, in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Argumentationen einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, auch wenn dieser von der Meinung der Eltern oder der Lehrer*in abweicht.
Meistens helfen solche Fakten aber nicht.
Was sagen?
Alternativ könnt ihr stattdessen nach den Beweggründen fragen:„Wie kommst du darauf? Hast du selbst in der Schule solche Erfahrungen damit gemacht?“ Das zeigt, dass du dein Gegenüber ernst nimmst. Dadurch wird ein Gespräch möglich, bei dem du die Person im besten Fall dazu bewegen kannst, ihre eigenen Annahmen kritisch zu hinterfragen und Wege zu finden.
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Was sind Narrative überhaupt?
Narrative sind in aller Munde. Ob in Politik, in den Medien oder in der Psychologie: Überall wird von Narrativen gesprochen. Aber was sind Narrative und was haben sie mit Extremismus zu tun?
Die meisten Menschen begegnen Narrativen das erste Mal in Kinderbüchern, Comics, Liedern, Spielfilmen oder Computerspielen – immer gibt es spannende Geschichten, die uns in andere Leben, Zeiten und Welten mitnehmen. Denn Narrative bezeichnen zunächst einmal die einzelnen, miteinander verbundenen Handlungsstränge einer Geschichte.
Der englische Schriftsteller E. M. Foster macht den Unterschied zwischen einer auf Fakten basierten Geschichte und einer Handlung mit einem Beispiel deutlich. In dem Satz „The king died, and then the queen died“ (Der König starb und dann starb die Königin) werden zwei Ereignisse geschildert, die auch unabhängig voneinander passiert sein können. Doch in dem Satz „The king died, and then the queen died of grief“ (Der König starb und dann starb die Königin vor Gram) erfahren wir einen Grund, der beide Ereignisse miteinander verbindet. Was erzählt wird, was ausgelassen wird und welchen Ereignissen wie viel Raum gegeben wird, das ist ausschlaggebend dafür, wie wir die Ereignisse wahrnehmen.
Narrative werden aber nicht nur in Unterhaltungsmedien genutzt. Sie nehmen besonders im politischen Denken und in öffentlichen Diskussionen eine zentrale Stellung ein. Denn in ihnen stecken oft überzeugende und motivierende Geschichten, die Geschehnissen einen Sinn geben. Sie ermöglichen es uns, schwierige und komplizierte Zusammenhänge zu verstehen. Sie beeinflussen unser Bild von uns und von anderen. Sie können darüber hinaus dazu beitragen, dass wir uns als Teil einer Gruppe verstehen – oder eben auch nicht. Kurzum: Narrative haben Einfluss auf unsere Weltsicht.
Und was hat das jetzt mit Extremismus zu tun?
Angesichts der Wirkweise von Narrativen ist es wenig überraschend, dass auch populistische oder extremistische Personen oder Gruppierungen Narrative nutzen, um ihre rassistische, sexistische oder menschen- und demokratiefeindliche Weltsicht in die Öffentlichkeit zu bringen. Narrative erfüllen damit eine wichtige ideologische Funktion.
Oftmals sprechen Narrative Themen an, in denen Gesellschaftskritik oder Fragen zu Werten und Religion, Identität und Zugehörigkeit, Gender und Pluralismus angesprochen werden. In Form von Brückennarrativen können sie sowohl in politischen Randgruppen wie auch im gesellschaftlichen Mainstream anzutreffen sein. Narrative verbinden extremistische politische Spektren mit der Mitte der Gesellschaft. Dies zu erkennen ist jedoch nicht immer leicht.
Autor*innen
Das Quiz ist im Rahmen des außeruniversitären Bildungsangebots „MasterClass: Präventionsfeld Islamismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung entstanden. Es ist das Abschlussprojekt der Arbeitsgruppe von Nicole Bopp, Merve Genç, Pirkko Jahn, Sarah Müller und Bence Zámbó. Betreut wurden sie von Maral Jekta (ufuq.de).
Die Inhalte, Aussagen und Themensetzungen dieses Angebots liegen in der Verantwortung der Arbeitsgruppe. Sie wurden in redaktioneller Autonomie gestaltet und spiegeln die Meinung der Autor*innen wider und repräsentieren nicht notwendigerweise die Meinungen und Standpunkte der Bundeszentrale für politische Bildung.