Wie aus „Ausländern“ „Muslime“ wurden

Nicht immer war es so wichtig wie in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte, ob jemand muslimisch war oder nicht. Zwar lebte schon seit den 1970ern eine größere Zahl von Menschen aus mehrheitlich muslimischen Herkunftsländern in Deutschland, diese wurden aber in erster Linie als „Ausländer*innen“ angesehen. Ihre religiöse Zugehörigkeit wurde erst in den folgenden Jahrzehnten nach und nach zu einem wichtigen Thema. Insbesondere die Debatten um die Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes und die folgende Einbürgerung zahlreicher Migrant*innen sowie die Anschläge vom 11. September sorgten zu Beginn der 2000er Jahre für eine wachsende Aufmerksamkeit für „den Islam“ und „Muslim*innen“. Sie rückten zunehmend ins Zentrum des Interesses von Politik, Medien und Öffentlichkeit und tauchten in deutschen Statistiken und Debatten auf. In der öffentlichen Debatte kann man seither zwei Trends beobachten: Erstens werden „Muslim*innen“ häufig auf ihre Religionszugehörigkeit reduziert. Zweitens werden Probleme in Zusammenhang mit Migration und Integration oft einseitig auf diese Religionszugehörigkeit zurückgeführt (Spielhaus 2013, S. 4; Rohe 2018, S. 77).

Islamisierung von als muslimisch markierten Nicht-Muslim*innen: Das Dilemma der Kategorisierung

„Hört auf, mich zu islamisieren!“, beschwert sich die Journalistin Ferda Ataman in einem Artikel im Spiegel vom Dezember 2018. Sie beklagt sich darüber, zur Gruppe der „Muslim*innen“ gezählt zu werden, obwohl sie sich weder als gläubig noch praktizierend versteht (Ataman 2018). Doch wie kann das sein? Offizielle Statistiken über die Zahl der „Muslim*innen“ in Deutschland basieren auf Schätzungen. In der Vergangenheit wurde dabei in der Regel von der Staatszugehörigkeit von Migrant*innen auf ihre Religionszugehörigkeit geschlossen (Rohe 2018, S. 76).

Abb. 1: Nach Haug et al. (2009, S. 141)

Neuere Studien gehen zwar differenzierter vor, dennoch werden auch hier nicht-gläubige sowie nicht-praktizierende Menschen mit einem „muslimischen Hintergrund“ dazugezählt (Haug et al. 2009). Sie werden mit dem Label „Muslimisch“ versehen, obwohl sie das – wie Ataman – eventuell gar nicht wollen. In den Hintergrund rückt dabei, dass diese Menschen ganz unterschiedliche Auffassungen vom Islam haben und ihm eine unterschiedliche (oder gar keine) Bedeutung innerhalb ihres Lebens beimessen. Zudem werden die vielen weiteren Identitätskomponenten und Interessen dieser Menschen dabei tendenziell – im Vergleich zu ihrer Religion – als weniger wichtig dargestellt (Spielhaus 2006, S. 31–34, 2010, S. 15).

Auch ich stehe in diesem Artikel vor diesem Dilemma der Kategorisierung und setze „Muslim*innen“ daher immer dann in Anführungszeichen, wenn damit auch Menschen gemeint sein können, die aufgrund äußerer Merkmale als „Muslim*innen“ gelabelt  werden, ohne sich selbst als solche zu verstehen. Eine Lösung für das Problem ist das nicht, aber es macht zumindest darauf aufmerksam.

„Der Islam ist …“  – Mediale Klischees über „Muslim*innen“

Das Bild, das Menschen in Deutschland vom Islam und von „Muslim*innen“ haben, wird wesentlich durch die Medien geprägt. Worüber die Medien berichten und wie, beeinflusst, was viele Menschen mit „dem“ Islam und „Muslim*innen“ verbinden. Wenngleich deutschen Medien nicht pauschal Islamfeindlichkeit vorgeworfen werden kann, zeichnen sie durch die Auswahl der Themen und die Art ihrer Darstellung oft ein einseitiges und negatives Bild des Islam.

Abb. 2: Titel mit Islambezug von deutschen Magazinen

So finden sich in Medienberichten nach wie vor viele Klischees: „Der“ Islam wird beispielsweise häufig mit Frauenunterdrückung und Gewalt in Verbindung gebracht. Verbreitet ist auch die Annahme, der Islam kenne generell keine Trennung zwischen Religion und Politik. Die Folge davon ist immer wieder eine pauschale Verbindung von Islam mit radikalem Fundamentalismus, Extremismus und Terrorismus. Dabei ist das Problem weniger, dass das Berichtete sachlich falsch wäre, sondern eher eine fehlende Ausgewogenheit zwischen positiver und negativer Berichterstattung. Dies schlägt sich auch in Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber „Muslim*innen“ nieder (Hafez 2009, S. 102–105; Schiffer 2013, S. 126–127; Schneider et al. 2013, S. 5; Mediendienst Integration 2019, S. 109–111).

Initiativen wie die Neuen Deutschen Medienmacher*innen, in denen Journalist*innen mit Migrationsbiografien aktiv sind, appellieren daher an die Verantwortung von Medien, gesellschaftliche Vielfalt auch jenseits von Stereotypen und Klischees darzustellen und dabei zum Beispiel auch Muslim*innen (ohne Anführungszeichen, weil hier Selbstbezeichnung) selbst zu Wort kommen zu lassen. So fordern sie u. a., verstärkt auch Journalist*innen mit Migrationsbiografien einzustellen, um die gesellschaftliche Vielfalt auch in den Redaktionen abzubilden (Neue Deutsche Medienmacher*innen 2019).

Vielfältige muslimische Stimmen

Bei dem Versuch, die vielfältigen Lebenswelten von Muslim*innen sichtbar zu machen, kann auch das Internet einen wichtigen Beitrag leisten. Das Netz bietet auch Privatpersonen eine Bühne, auf der die Darstellung vielfältiger muslimischer Perspektiven und Erfahrungen möglich ist (Rezek 2019). „Ich bin Muslima, aber kein Terrorist!“, erklärt beispielsweise eine junge Frau in einem YouTube-Video einer Kölner Koranschule und ein Mann fügt hinzu: „Ich bin Muslim, aber ich unterdrücke keine Frauen!“ (Sadiq Initiative 2015). Dies zeigt: Wenn Muslim*innen in Deutschland sich selbst und ihre (muslimische) Identität definieren, sehen sie sich häufig genötigt, sich mit Klischees über den Islam auseinandersetzen und sich dazu zu positionieren. Dabei stehen sie oftmals unter großem Rechtfertigungsdruck. Hinter diesen öffentlichen Positionierungen steht auch der Kampf um einen eigenen Standpunkt und die Macht, selbst definieren zu können, was es bedeutet, Muslim*in zu sein (Spielhaus 2010, S. 17–24).

Abb. 3: Junge Muslim*innen positionieren sich auf YouTube gegen Vorurteile

Im Kontext dieser Positionierungen melden sich seit einigen Jahren verstärkt junge muslimische Stimmen zu Wort. Diese (jungen) Menschen sind meist in Deutschland geboren und sehen sich als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Für viele ist der Islam mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen vereinbar (Isik 2015, S. 55–56). „Ich bin Muslima und schwimme gerne“, erklärt ein Mädchen im Video der Sadiq Initiative und ein Junge sagt: „Ich bin Muslim und gehe gern ins Kino“. „Ich bin Muslima und ich bin Deutsche“, fügt eine Frau hinzu (Sadiq Initiative 2015). Diese Menschen bestimmen selbst, was ihnen wichtig ist und wie sie sich definieren. Auf diese Weise schaffen sie es, das Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung neu zu bestimmen.

veröffentlicht am 21.05.2020

Literaturverzeichnis

Ataman, Ferda (2018). Hört auf, mich zu islamisieren! In: Spiegel. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/deutsche-islamkonferenz-hoert-auf-mich-zu-islamisieren-kolumne-a-1241327.html [Zugriff: 01.04.2020]

Hafez, Kai (2009). Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft? Gesellschaftliche Entstehungsbedingungen des Islambildes deutscher Medien. In: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 99–118.

Haug, Sonja/ Müssig, Stephanie/ Stichs, Anja (2009). Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Isik, Tuba (2015). Dispositiv Muslim in Deutschland – ein nie endendes Unterfangen. In: Schmitz, Sabine/ Isik, Tuba (Hrsg.), Muslimische Identitäten in Europa. Dispositive im gesellschaftlichen Wandel. Bielefeld: transcript, S. 43–64.

Korucu, Canan (2020). Lebensrealitäten von muslimischen Jugendlichen – Zwischen Fremdzuschreibungen, Rassismuserfahrungen und (kritischen) Selbstpositionierungen. https://www.ufuq.de/lebensrealitaeten-von-muslimischen-jugendlichen/ [Zugriff: 22.04.2020]

Mediendienst Integration (2019). Handbuch Islam und Muslime. https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/MDI_HBI_Neuauflage.pdf [Zugriff: 22.04.2020]

Neue Deutsche Medienmacher*innen (2019). Was wir ändern wollen. https://www.neuemedienmacher.de/ueber-uns/standpunkte/ [Zugriff: 23.04.2020]

Rezek, Said (2019). Muslimische Gegenöffentlichkeit. Chancen und Risiken. https://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/freitagsforum/Muslimische-Gegenoeffentlichkeit-Chancen-und-Risiken,gegenoeffentlichkeit100.html [Zugriff: 03.04.2020]

Rohe, Mathias (2018). Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. München: C.H. Beck.

Sadiq Initiative (2015). Ich bin Muslim, aber. https://www.youtube.com/watch?v=bJDXkkvUrls [Zugriff: 23.04.2020]

Schiffer, Sabine (2013). Islam in deutschen Medien. In: Spenlen, Klaus (Hrsg.), Gehört der Islam zu Deutschland? Fakten und Analysen zu einem Meinungsstreit. Düsseldorf: Düsseldorf University Press (dup), S. 123–140.

Schneider, Jan/ Fincke, Gunilla/ Will, Anne-Kathrin (2013). Muslime in der Mehrheitsgesellschaft. Medienbild und Alltagserfahrungen in Deutschland. Berlin: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2013/03/Medienbild-Muslime_SVR-FB_final.pdf [Zugriff: 22.04.2020]

Spielhaus, Riem (2006). Religion und Identität. Vom Versuch „Ausländer“ zu „Muslimen“ zu machen. In: Internationale Politik (3), S. 28–37.

Spielhaus, Riem (2010). Media making Muslims: the construction of a Muslim community in Germany through media debate. In: Contemporary Islam 4 (1), S. 11–27.

Spielhaus, Riem (2013). Wer ist Muslim und wenn ja wie viele? Berlin: Mediendienst Integration. https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Muslime_Spielhaus_MDI.pdf [Zugriff: 22.04.2020]