Im wirklichen Leben heißt er Tarek.[1] Er ist 17 Jahre alt, besucht das Berufskolleg und absolviert derzeit ein Praktikum an einer evangelischen Grundschule. Dort hat er die Weihnachtsfeier mit vorbereitet und auch an dieser teilgenommen. Für Tarek ist das Internet ein großes Experimentierfeld. Hier kann man viele Dinge ausprobieren und schauen, wie Menschen auf Ansichten und Meinungen reagieren. Tarek ist übrigens ein guter Schüler. Er ist durchweg freundlich und nicht besonders religiös.

Das Beispiel zeigt, dass das Internet und die sozialen Medien auch für junge Muslim*innen eine große „Spielwiese“ darstellen. Hier entdeckt man neue Freund*innen, kann sich vernetzen, Meinungen austauschen, sich informieren und mit Positionierungen experimentieren. Hierzu gehören durchaus auch Protest und Provokation. Das ist häufig der Adoleszenz geschuldet und daher normal. Die Motive und Anlässe für Internetaktivitäten junger Muslim*innen sind sehr vielfältig und in Gänze kaum beschreibbar.

Islam als Thema im Netz

Junge Muslim*innen und ihr Umgang mit Islamthemen im Netz – das ist ohne jede Frage ein großes und weitgehend unerforschtes Thema mit vielen Facetten. In einer ersten Annäherung kann gefragt werden: Wer sind denn „die jungen Muslim*innen“? Hier kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass es „die“ muslimischen Jugendlichen als eine homogene Gruppe gar nicht gibt. Islam in Deutschland manifestiert sich seit mehr als vier Dekaden in großer Vielfalt. Neben Sunnit*innen in verschiedenen Rechtsschulen gibt es Schiit*innen, Alevit*innen, Ahmadis und weitere Strömungen, die sich in zahlreichen Aspekten – so in der Glaubenspraxis – deutlich unterscheiden.

Abb. 2, Wie junge Muslim*innen Online-Informationen über den Islam nutzen, wurde bisher kaum erforscht Quelle

Ungeachtet ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu einer der genannten Denominationen spielt Religion im alltäglichen Leben der Muslim*innen eine sehr unterschiedliche Rolle. Manche nehmen religiöse Gebote sehr ernst. Folglich beten sie fünfmal am Tag und orientieren sich an allen Pflichten. Andere hingegen messen der Religion keinen hohen Stellenwert zu. Hier besteht nur in formaler Hinsicht eine Zugehörigkeit, die das alltägliche Leben in keiner Hinsicht beeinflusst. Angesichts der skizzierten Sachlage erweist es sich als schwierig mit einem Kategoriensystem die Heterogenität muslimischer Jugendlicher und deren Netzaktivitäten abzubilden. Will man dennoch nicht auf eine Typologie verzichten, so kann hier auf eine Typologie verwiesen werden, die bereits im Jahr 2010 erarbeitet wurde und grundsätzlich noch heute passend ist (Kiefer 2010).

Religionsferne und gering religiöse Jugendliche

Betrachten wir muslimische Jugendliche als Gruppe, so sind religionsferne und gering religiöse Jugendliche vermutlich in der Mehrheit. Die repräsentative Studie von Brettfeld und Wetzels zeigte auf, dass 19,3 Prozent der befragten Jugendlichen „nie“ und 16,5 Prozent lediglich „ein paar Mal im Jahr“ beten. In der Summe sind dies 35,8 Prozent aller Befragten (Brettfeld/Wetzels 2007). Diese Zahlen zeigen, dass Religion für mehr als ein Drittel der Jugendlichen keine hohe Alltagsrelevanz aufweist. Dieser Sachverhalt wird in der öffentlichen Debatte über Muslim*innen bislang wenig berücksichtigt. Es kann davon ausgegangen werden, dass religionsferne und gering religiöse Jugendliche keine oder nur geringe Internetaktivitäten entwickeln, die sich explizit auf islamische Themen beziehen. Eine Ausnahme bilden hier junge Muslim*innen, die zumeist in der Adoleszenz den Islam neu entdecken. Da diese Jugendlichen häufig über keine Anbindung an Gemeinden verfügen, ist das Internet eine wichtige Informationsquelle und die sozialen Medien ein Ort des Austauschs.

Jugendliche mit „fundamentaler“ Orientierung

Der Terminus „fundamental“ meint hier explizit nicht fundamentalistisch oder islamistisch im Sinne einer Religionsauffassung, die für das private und auch das öffentliche, politische Leben verbindliche Richtschnur sein möchte. Eine fundamentale Orientierung ist gekennzeichnet durch „eine enge religiöse Bindung und durch starke Ausrichtung des Alltags an religiösen Regeln“ (Kiefer 2010, S. 152). Jugendliche mit einer fundamentalen Orientierung finden wir im Umfeld von Moscheegemeinden, die den großen islamischen Verbänden angehören, wie der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), dem Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ) und der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG).

Abb. 3, Jugendliche mit fundamentaler Orientierung gestalten ihren Alltag streng nach religiösen Vorgaben. Quelle

Die Jugendlichen haben in der Regel die Bildungsangebote der Moscheegemeinden durchlaufen und verfügen häufig über sehr gute Kenntnisse der islamischen Religion und eine enge Anbindung an die Moscheegemeinden. Aus diesem Umfeld stammen auch Studierende, die z.B. an der Universität Osnabrück Islamische Theologie studieren. Viele Gespräche mit Studierenden zeigten, dass sie islamische Inhalte im Internet sehr kritisch betrachten, da diese häufig auf islamistische Kontexte verweisen.[2] Sie halten die klassische Bildungsarbeit der Gemeinden nach wie vor für zentral. Onlineangebote spielen für sie eine untergeordnete Rolle.

Aktivistische muslimische Jugendliche

Aktivistische muslimische Jugendliche ist ein Sammelbegriff für Akteur*innen aus neuen muslimischen Jugendbewegungen, die sehr verschiedene Orientierungen aufweisen können. Grundsätzlich bemühen sich ihre Akteur*innen um ein neues Verhältnis von Islam und Modernität. Sie suchen einen neuen Weg zwischen Abschottung und Assimilation. Häufig geht es um Themen, die mit der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung zusammenhängen. Tätig ist in Deutschland eine Vielzahl von Organisationen. Bekannt und erfolgreich ist z.B. die „Muslimische Jugend Deutschland“ (MJD). Ihrer Selbstdarstellung nach ist sie „die einzige deutsche, unabhängige, muslimische Jugendorganisation“. Die MJD wurde in den zurückliegenden Jahren immer wieder kritisch betrachtet, da Verfassungsschutzbehörden die MJD im Umfeld der Muslimbruderschaft vermuteten.[3] Seit ihrer Gründung ist sie in wachsendem Ausmaß aktiv und unterhält in vielen Städten Lokalkreise, die sich an muslimische Jugendliche ab dem 13. Lebensjahr richten. Auch im Internet ist die MJD sehr aktiv. Neben einer modernen und ansprechenden Website (https://muslimischejugend.de) ist die Organisation auch in sozialen Medien gut aufgestellt. Bei Facebook weist die Profilseite derzeit 7.200 Abonnent*innen aus, auch auf Instagram und YouTube ist sie vertreten.

Islamistische Jugendströmungen

Islamistische Jugendströmungen verfügen zwar über eine relativ kleine Anhängerschaft, erzielen aber mit ihren diversen Netzaktivitäten eine hohe Reichweite. In der medialen Berichterstattung der vergangenen zehn Jahre waren insbesondere Gruppierungen aus dem salafistischen Spektrum präsent. Der Niedergang des sogenannten „Islamischen Staates“ führte jedoch zu einer deutlichen Abnahme der Szene- und auch Internetaktivitäten. Das sich abzeichnende Vakuum wurde mittlerweile von Gruppen besetzt, die unter anderem dem Spektrum der in Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir (HuT) zugeordnet werden können. Umfangreiche Netzaktivitäten gehen insbesondere von „Generation Islam“ aus.

Abb. 4, Die Kampagne #NichtOhneMeinKopftuch nutzt soziale Medien, um Diskriminierungserfahrungen zu instrumentalisieren, Quelle: Islamischer Zentralrat, Twitter.

Die Internetangebote adressieren gezielt junge Muslim*innen. Thematisiert und instrumentalisiert werden Erfahrungen mit Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung. Hierbei wird häufig ein dichotomes Weltbild erzeugt, in dem die Muslim*innen stets Opfer und der Staat der Aggressor ist (Schmitt 2019). Bekannt wurde „Generation Islam“ mit seiner Kampagne #NichtOhneMeinKopftuch, die 2017 und 2018 eine hohe Wirkweite erzielte und in mehr als 70.000 Twitter-Beiträgen aufgegriffen wurde.  Hintergrund waren Debatten um Kopftuchverbote in Deutschland und Österreich (Schmitt 2019). Ähnliche Aktivitäten gehen auch von „Realität Islam“ aus. Auch diese Organisation kann im Umfeld der HuT verortet werden. Beide Initiativen zeigen, welche Breitenwirkung ein Online-Islamismus bei jungen Muslim*innen entfalten kann.

Fazit

Das Internet und die sozialen Medien werden auch von jungen Muslim*innen intensiv genutzt. In welchem Ausmaß religiöse Themen oder Anliegen eine Rolle spielen, ist noch nicht in allen Aspekten erforscht. Die Ausführungen zeigen, dass religionsferne und in den Moscheegemeinden sozialisierte Jugendliche Islamthemen im Netz vermutlich keine hohe Aufmerksamkeit zukommen lassen. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn wir aktivistische und islamistische Gruppierungen fokussieren. Diese betrachten das Internet und insbesondere die sozialen Netzwerke als zentrale Handlungsplattformen. Gut orchestrierte und professionell gestaltete Kampagnen ermöglichen ihnen eine große Reichweite.

veröffentlicht am 04.08.2020

Literaturverzeichnis

Brettfeld, Katrin/Wetzels, Peter (2007). Muslime in Deutschland. Hamburg.

Kiefer, Michael (2010). Lebenswelten muslimischer Jugendlicher – Eine Typologie von „Identitätsentwürfen“. In: Behr, Harry Harun et al. (Hrsg.), Was soll ich hier? Lebensweltorientierung muslimischer Schülerinnen und Schüler als Herausforderung für den Islamischen Religionsunterricht. Berlin, S. 149–159.

Schmitt, Josephine B. (2019). Antimuslimischer Rassismus als islamistisches Mobilisierungsthema. https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/295951/antimuslimischer-rassismus-als-islamistisches-mobilisierungsthema [Zugriff: 09.07.2020]

Einzelnachweise

  1. Der Name wurde geändert. Zurückspringen
  2. Der Autor wirkte von 2010 bis 2018 an zertifizierten Weiterbildungen von Imamen an der Universität Osnabrück mit. Seit 2012 unterrichtet er Studierende der Islamischen Theologie in Osnabrück. Im Kontext dieser Tätigkeit führte der Autor zahlreiche Gespräche mit Imamen, Religionsbediensteten und Studierenden. Zurückspringen
  3. https://lfv.hessen.de/extremismus/islamismus/erscheinungsshyformen/islamistische-organisationen Zurückspringen