Rashad, du bist der HuT beigetreten als du 15 warst. Kurz danach bist du Führungsmitglied geworden. Und das in einer Organisation, die eigentlich für ihren anspruchsvollen Aufnahmeprozess bekannt ist. Anwärter*innen müssen eine zwei- bis dreijährige ideologische Schulung machen. In dieser Zeit werden sie von einem Anleiter eng begleitet, sie gehen zu Lesungen, wo aus den Büchern des Parteigründers Scheich Taqi ad-Din an-Nabhani vorgetragen wird und verinnerlichen so die ideologischen Glaubensinhalte der Partei. Warum sind junge Leute bereit, sich ein derart anspruchsvolles Programm aufzuhalsen?

Rashad Ali

Ich glaube, das Reizvolle daran ist einerseits das Emotionale und andererseits das Intellektuelle. HuT spricht emotionale und psychologische Bedürfnisse an oder befördert diese. Zum Beispiel den Wunsch, irgendwo dazuzugehören, Selbstvertrauen und eine zumindest halbwegs stimmige, kohärente Identität zu haben. HuT gibt Bewerber*innen Vertrauen in einen Islam, der kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern eine intellektuell anspruchsvolle, relevante und dynamische Ideologie ist. Die Gruppe spricht konservative religiöse Überzeugungen an, gibt ihnen aber einen starken ideologischen Anstrich – es ist wie eine neue Brille, durch die man auf alte religiöse Ideen blickt, wodurch diese als reine politische Lehre erkennbar werden. In Kombination mit populistischer Finesse, historischem Interesse, einfachen Lösungsangeboten für komplexe politische Fragen und ein paar Anti-Establishment-Parolen hat das Ganze einen Reiz für bestimmte Personen. Darüber hinaus hat die Partei ein sehr eigenes Islamverständnis, das anderen Erweckungsbewegungen fehlt – weswegen letztere auch gescheitert sind.

Wie würdest du das Verhältnis zwischen Politik und Religion in der Ideologie von HuT beschreiben?

Rashad Ali

HuT unterscheidet nicht zwischen Politik und Religion. Tatsächlich geht die Gruppierung sogar so weit zu sagen, dass der Islam für sie keine Religion ist, sondern eine Ideologie, also eine Lehre, die ein bestimmtes politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System hervorbringt. Also ein totalitäres System. Dementsprechend lehnt HuT alle anderen Weltanschauungen und Wertesysteme auch ab. Im Gegensatz zu den meisten anderen islamischen Traditionslinien begreift HuT den Islam nicht im Rahmen universeller, allgemein geteilter Werte. Für die Mitglieder von HuT ist der Islam eine gänzlich andere Zivilisation. Deswegen gefällt ihnen die Idee eines Clash der Kulturen so gut. Sie haben sogar ein eigenes Buch zu diesem Thema mit dem Titel „Die Unausweichlichkeit des Kampfes der Kulturen“[1] herausgegeben.

An-Nabhani war in den 1950er Jahren bei einem Berufungsgericht in Jordanien Scharia-Richter…

Rashad Ali

Die späten 1940er und die 1950er Jahren waren stark geprägt vom ideologischen Krieg zwischen der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten auf der einen sowie den Vereinigten Staaten und ihren Alliierten auf der anderen Seite. Beide Lager kämpften um die ideologische Vorherrschaft. An-Nabhani wollte zeigen, dass es neben Kommunismus und Kapitalismus noch eine weitere Alternative gab.

Einen dritten Weg also, der Sozialismus und Islam zusammenführt?

Rashad Ali

Genau. Als ehemaliges Mitglied der syrischen Ba’ath-Partei war An-Nabhani stark beeinflusst vom arabischen Sozialismus. Von daher hielt er den Staat für das ultimative Mittel. Ihm schwebte sozusagen ein Superstaat vor. Aus seiner Sicht hatte der Islam alles, was auch der Kommunismus hatte – und noch mehr. An-Nabhani war zudem ein Mensch der Moderne. Er wollte beweisen, dass sein ideologischer Islam alles mitbrachte, um den Fortschritt voranzutreiben. In seinem ersten Buch „Nidham ul-Islam“ („Die Lebensordnung des Islam”) geht es genau darum. Er beschreibt darin, wie der Islam sich Wissenschaft und Technologie zunutze machen kann, ohne dabei seine Werte zu verraten. Er zeichnet den Islam nicht als fatalistisch, sondern als der Veränderung zugewandt, als ein das Materielle wie das Spirituelle und sogar das Ethische umspannendes Prinzip. Geistliche bzw. einen Klerus braucht es für ihn nicht. Alle Menschen können gleichzeitig säkular und religiös sein, das Konzept eines modernen Staats wird von ihm großgeschrieben: An-Nabhani plädiert für einen sehr modernen Verfassungsstaat mit klar definierten Aufgaben für eine Judikative und eine beratende Legislative, beide allerdings dem Kalifen untergeordnet.

In welchem Verhältnis steht HuT zu anderen islamistischen Gruppen, beispielsweise den Muslimbrüdern oder Millî Görüş, aber auch zu dschihadistischen Gruppen wie dem IS und al-Qaida?

Rashad Ali

HuT arbeitet traditionell nicht gern mit anderen zusammen. Der Muslimbruderschaft hat HuT schon früh Verrat vorgeworfen. Sie sei den westlichen Werten und Systemen in die Falle gegangen, akzeptiere demokratische Prozesse und lasse sich sowohl auf den säkularen Staat als auch auf zu viele Kompromisse ein. Aus der Sicht von HuT ist all das „kufr“, also ungläubig und mit dem Islam nicht vereinbar. Dschihadistische Gruppierungen haben aus der Sicht von HuT zwar eine Daseinsberechtigung, wählen aber die falschen Mittel. Anders als die Muslimbrüder werden dschihadistische Personen allerdings nicht als Verräter wahrgenommen, die durch ihre verwässerten Vorstellungen vom Islam kompromittiert seien.

Wie sähe denn für Hizb ut-Tahrir der Wunschstaat aus?

Rashad Ali

Sie wollen eine Regierung, die die Scharia als Gesetz erlässt und die die Interessen ihres Volks, also die Interessen der Ummah bzw. der „islamischen Nation“, vertritt. Ein solches System lässt sich für HuT nur in Form des Kalifats denken. Man will den politischen Kampf mit dem Ziel der Revolution. Einer Revolution, die nicht auf Freiheit, Demokratie und Menschenrechten fußt, sondern ausschließlich auf der Scharia. Vorgängerregierungen sollen durch Militärcoups, die von der Bevölkerung befürwortet werden, abgesetzt werden. Das ist allerdings offensichtlich nicht das, was wir in der muslimischen bzw. der arabischsprachigen Welt zurzeit beobachten: In den meisten Ländern fordern die Menschen eine nicht konfessionell gebundene Herrschaftsform, eine demokratisch legitimierte, repräsentative Regierung, die Abschaffung der Willkürherrschaft und garantierte Grundrechte.

Werfen wir einen Blick auf HuT in Europa. In Deutschland ist die Gruppierung ein eher kleines Phänomen und seit 2003 verboten. Schätzungen zufolge hat sie hier nicht mehr als ein paar hundert, maximal 2.000 aktive Mitglieder. Muss man dennoch über sie sprechen?

Rashad Ali

Die Gruppe war schon immer eine Randerscheinung. Auch wenn zu ihren Konferenzen mehrere tausend Menschen kommen, ist sie verglichen mit anderen islamistischen Gruppierungen und Aktivitäten und der Anzahl von Muslim*innen in Europa eher klein geblieben. Die Gefahr, die von der HuT ausgeht, liegt nicht in der Größe der Organisation, sondern in ihrer Ideologie: Hizb ut-Tahrir ist gefährlich, weil die Gruppe alle, wirklich alle ihr fremden Überzeugungen und Denksysteme als falsch und ungültig zurückweist, weil sie Demokratie und Menschenrechte rundheraus ablehnt, weil sie sich für einen revolutionären Islamismus ausspricht, der nicht von den Menschen und ihren Rechten ausgeht, sondern von der sektiererischen Interpretation einer religiösen Ideologie, und weil sie alle Menschen und jede Regierung, die nicht die ihre ist – sogar islamistische oder post-islamistische wie die Partei Ennahda in Tunesien – für „kufr“ (ungläubig oder vom Glauben abgefallen, Anmerkung der Redaktion) hält. Ein solches Gedankengut hat seine Auswirkungen. Es nimmt Einfluss auf Hunderte, wenn nicht Tausende. Wer nicht bei HuT landet, für den bleiben noch die Dschihadist*innen, also gewalttätig-religiöse Revolutionäre wie al-Qaida und – kaum überraschend – der IS.

„Generation Islam“ und „Realität Islam“, zwei Plattformen, denen eine Nähe zu HuT nachgesagt wird, veröffentlichen  vor allem Beiträge über Rassismus in Europa, die negativen Folgen des Kapitalismus sowie der Geopolitik auf mehrheitlich muslimischen Ländern, also Themen, die vor allem Muslim*innen betreffen. Welche Lösungsvorschläge hat HuT für diese Probleme?

Rashad Ali

Sie gibt vor, eine Lösung für alle Probleme zu bieten. Das Problem ist ökonomischer Natur? Nun, der islamische Staat bzw. das Kalifat lösen es auf diese und jene Weise. Das Problem heißt politische Korruption? Nun, im Rechtswesen unseres Kalifats gibt es ein spezielles Gericht für Korruption und Ungerechtigkeit. Teile unseres Landes sind besetzt? Nun, hätten wir eine echte Führung, könnten wir unsere Armeen schicken. Wir brauchen das Kalifat, um die Macht über unsere Armeen zurückzugewinnen. Muslimische Menschen werden verfolgt oder unterdrückt? Nun, das würde niemand wagen, wenn er ein starkes, mächtiges Kalifat fürchten müsste, einen Superstaat, der alle muslimischen Staaten in sich vereint, etc.

Drohnenangriffe, Waffenexporte und der Umgang mit Geflüchteten im Mittelmeer sind aus der Perspektive der Menschenrechte ja tatsächlich fragwürdig. Wie können pluralistische Gesellschaften auf legitime Gesellschaftskritik und moralische Dilemmata reagieren?

Rashad Ali

Wir leben nicht in einer utopischen Welt. Von daher wird es natürlich immer Probleme und Missstände geben, um die wir uns kümmern müssen. Manche Probleme haben wir allerdings immer größer werden lassen, ohne uns darüber im Klaren zu sein, dass sie auf den unterschiedlichsten Ebenen große Folgen haben. Der weitaus größte Missstand heute ist wohl die Situation in Syrien. Wir haben zugelassen, dass Baschar al-Assad mehr als eine halbe Million Menschen umbringt und zehn Millionen in die Flucht treibt, fünf Millionen davon über die Landesgrenzen hinaus, viele davon nach Europa. Das hat in Deutschland einer populistischen Stimmungsmache, die von Rechtsextremen befördert wird, Auftrieb gegeben. Sie wendet sich gegen Einwanderer und schuf damit ein Klima, das von Dschihadist*innen wie al-Qaida, dem IS und anderen genutzt wird. Indem wir unsere humanitären Werte aufgegeben haben, haben wir dafür gesorgt, dass Demokratie und Menschenrechte wie alte Hüte aussehen, für die sich niemand mehr einsetzt. Indem wir den Genozid in Syrien, den sogar die Holocaust-Zentren in den USA als solchen bezeichnen, geschehen lassen, haben wir uns und unsere Werte verraten. Wir müssen uns für unsere Werte, den Pluralismus und die Menschenrechte engagieren und zeigen, dass das nicht nur reine Lippenbekenntnisse sind.

Was können wir den Narrativen von Hizb ut-Tahrir und vergleichbaren Gruppierungen entgegensetzen?

Rashad Ali

Wir dürfen drei Dinge nicht vergessen. Erstens: Wir wenden uns gegen die Ideen und den ideologischen Einfluss dieser Gruppen. Also sollten wir wissen, für welche Ideen sie stehen. Wogegen wenden wir uns? Gegen den extremen Islamismus – oder gegen den Islam? Es gibt große Unterschiede im Glauben und der religiösen Praxis von Muslim*innen. Das Spektrum reicht von konservativen bis hin zu liberalen Einstellungen. Es gibt aber gemeinsame Werte und eine grundlegende Auffassung von „Anstand“, die sowohl von Muslim*innen und Menschen anderer Glaubensrichtungen als auch von Nichtgläubigen geteilt werden. Auf diesen Werten lässt sich aufbauen – eine inklusive Gesellschaft ist das beste Argument und die konsequenteste Antwort auf HuT und vergleichbare Gruppierungen.

Zweitens: Wir sollten den Konstrukten und der Weltsicht von HuT als einer modernen, neofaschistischen und totalitären Ideologie begegnen und sie als solche angreifen. Ihr monolithischer Islam mitsamt seiner Idee eines islamischen Staates hat mit dem vielfältig gelebten, pluralistischen Islam ebenso wenig gemein wie mit den gesellschaftlichen Realitäten in muslimischen Ländern. Wir sollten nicht davor zurückschrecken, einen solchen Islam infrage zu stellen. Muslim*innen und jene, die sich mit der klassischen islamischen Zivilisation auskennen, sind prädestiniert, um die religiösen Interpretationen und ideologischen Verzerrungen solcher Gruppierungen anzufechten. In diesen Bemühungen sollte man sie unterstützen.

Die dritte Empfehlung richtet sich ans große Ganze: Wir sollten uns ernsthaft mit unseren Schwächen auseinandersetzen. Wir müssen unsere Schwachstellen kennen, denn genau die werden von solchen Gruppierungen ausgenutzt. Gut möglich, dass wir dabei auf Dinge stoßen, die paradox sind. Gut möglich, dass wir uns bewusst machen müssen, dass wir Muslim*innen tatsächlich nicht gut behandeln. Dass unsere Gesellschaften sie fortwährend zum großen „Anderen“ machen. Aber Muslim*innen in zweiter oder dritter Generation sind einfach keine Gastarbeiter*innen mehr. Sie sind Europäer*innen, Brit*innen, Deutsche mit denselben Rechten, und sie gehören zu unseren Gesellschaften. Wir sollten uns intensiv darum kümmern, dass unsere Gesellschaften nicht versagen: Es müssen integrative Gesellschaften entstehen. Andersherum dürfen wir genauso wenig davor zurückschrecken, klar zu benennen, was „Integrationsgesellschaft“ bedeutet. Wir sollten am Aufbau von Gesellschaften arbeiten, zu denen alle Menschen mit ihren inklusiven Werten gehören, und wir sollten wissen, was es heißt und wie gefährlich es ist, sich totalitären Ideologien nicht bewusst entgegenzustellen. Auf globaler wie auf lokaler Ebene.

veröffentlicht am 18.05.2020

Einzelnachweise

  1. Originaltitel: The Inevitability of the Clash of Civilisations. Zurückspringen