Religion zwischen Normativität und Relativierung

In der Schule oder in Jugendgruppen kommen junge Menschen mit religiöser Vielfalt und verschiedenen Weltanschauungen in Kontakt. Dabei treffen unterschiedliche normative Orientierungen aufeinander, was zu Konflikten führen kann. In religionsbezogenen Konflikten sind die Positionen häufig in besonderer Weise normativ geladen, da sie mit subjektiv bindenden Werten in Verbindung stehen, die eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis des*der Betroffenen spielen können.

Abb. 2, Wenn sich normative Ansprüche entgegenstehen Quelle

In letzter Zeit ist jedoch auch eine starke Subjektivierung von Religion, vor allem bei Jugendlichen mit christlichem Hintergrund, festzustellen. Dabei wird subjektiven Überzeugungen ein hoher Stellenwert zugesprochen, während normative Geltungsansprüche religiöser Traditionen mitunter stark relativiert werden. Nach welchen Werten und Normen man das eigene Leben gestalten möchte, liegt demnach in der Verantwortung jedes*r Einzelnen. Für manche Jugendliche hingegen erscheinen die Vorgaben der jeweiligen religiösen Tradition nach wie vor bindend. Unter dem Einfluss beispielsweise von salafistischen Diskursen kommt es aktuell zu einer zusätzlichen Dogmatisierung muslimischer Religiosität und damit zu normativen Ansprüchen, die weder Ambivalenzen noch Abweichungen zulassen. Dies stellt einen pädagogischen Ansatz, der kritische Reflexion und individuelle Argumentationsfähigkeit ins Zentrum setzt, vor besondere Herausforderungen.

Eine Möglichkeit, mit solchen normativen Konflikten umzugehen, bietet der Ansatz des dialogischen religionsbezogenen Lernens. Demnach kann ein dialogischer Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt zur Überwindung von verabsolutierten Positionen und zur Anerkennung anderer Weltsichten beitragen.

Religiöses Sprechen oder Sprechen über Religion?

Im Wesentlichen lassen sich zwei Herangehensweisen an Religion in der pädagogischen Arbeit unterscheiden. Die erste nähert sich Religion aus einer innerreligiösen Perspektive. Diese im Grunde theologische Herangehensweise ist meist konfessionell geprägt und orientiert sich am Feld der religiösen Bildung. Bei diesem Ansatz geht es in erster Linie um die Vermittlung religionsbezogenen Wissens und grundlegender Fähigkeiten, zum Beispiel im Umgang mit Textquellen oder religiösen Autoritäten. Den Jugendlichen wird dabei Raum für religiöses Sprechen und theologisches Argumentieren gegeben. Wenn extremistische Narrative thematisiert werden, wird ihnen auf derselben religiösen Ebene begegnet. Dies kann hilfreich sein, da sich religiöse Argumente häufig der Nachprüfbarkeit entziehen und daher auf rationaler Ebene schwer irritiert werden können. Jedoch besteht die Gefahr, sich auf eine Art Kräftemessen einzulassen, in dem Wahrheiten und Autoritäten gegeneinander ausgespielt werden.

Die zweite Herangehensweise nähert sich Religion aus einer Außenperspektive. Aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive wird angestrebt, Religion „neutral“ von außen zu betrachten. Dieser Ansatz ist stärker von der politischen Bildung geprägt und stellt nicht das religiöse Sprechen, sondern das Sprechen über Religion ins Zentrum. Auch hier soll ein geschützter Raum zur offenen Diskussion über politische und religiöse Themen geschaffen werden. Anstatt sich auf der religiösen Ebene mit extremistischen Narrativen auseinanderzusetzen, steht hierbei jedoch eher eine Stärkung des Demokratieverständnisses der Jugendlichen im Vordergrund. Durch lebensweltbezogene Diskussionen soll den Jugendlichen eine positive Einstellung gegenüber Vielfalt und eine respektvolle Haltung gegenüber den religiösen Überzeugungen anderer vermittelt werden.

Religion als Herausforderung für die pädagogische Arbeit

Bei der pädagogischen Auseinandersetzung mit Religion stellen sich weitere Herausforderungen. Eine besteht darin, in eine Art Gruppendenken zu verfallen und vereinheitlichend über „Muslim*innen“ oder „Christ*innen“ zu sprechen. In der Folge werden nicht mehr die religionsbezogenen Positionen der Einzelnen in den Vordergrund gestellt, sondern Konstrukte wie „der Islam“ oder „das Christentum“ diskutiert. Das führt schnell zu kulturalistischen  und stigmatisierenden Zuschreibungen. Anstatt also zu fragen „Was sagt ihr Muslime dazu?“, sollte man den einzelnen Jugendlichen Raum geben, ihre je individuellen religiösen Überzeugungen zur Sprache zu bringen.

Abb. 3, Eigene Haltungen reflektieren Quelle

Darüber hinaus sollten Pädagog*innen stets reflektieren, welche grundlegenden Vorstellungen von Religion an sich oder einzelnen religiösen Traditionen sie unter Umständen transportieren. Die Vorstellung eines „richtigen“ Religionsverständnisses, das sich eindeutig von falschen Auslegungen abgrenzen lässt, kann dazu führen, dass Pädagog*innen von ihnen als „falsch“ eingeordnete Verständnisse pauschal zurückweisen. Die Förderung der religiösen Mündigkeit und Selbstbestimmtheit der Jugendlichen tritt dann in den Hintergrund. Ebenso können Pädagog*innen, die Vorbehalte gegenüber Religion allgemein oder gegenüber einzelnen Traditionen zum Ausdruck bringen, eine Herausforderung darstellen. Eine religionssensible Haltung und die Reflexion der eigenen Überzeugungen sind Voraussetzung für eine gelingende Praxis.

veröffentlicht am 14.07.2020

Informationen zur Studie:

Langner, Joachim/Herding, Maruta/Hohnstein, Sally/Milbradt, Björn (Hrsg.) (2020). Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus. Halle: Deutsches Jugendinstitut e.V. https://www.dji.de/veroeffentlichungen/literatursuche/detailansicht/literatur/28555-religion-in-der-paedagogischen-auseinandersetzung-mit-islamistischem-extremismus.html [Zugriff: 02.07.2020]

Verwendete Beiträge:

Langner, Joachim/Milbradt, Björn/Hohnstein, Sally/Herding, Maruta (2020). Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus – Phänomene, Kontexte und Spannungsfelder, S. 6–31.

Knauth, Thorsten (2020). Dialogisches religionsbezogenes Lernen als Beitrag zur Radikalisierungsprävention? Ansätze der pädagogischen Bearbeitung religiöser Normenkonflikte in der Schule, S. 98–122.

Langner, Joachim/Herding, Maruta/Pausch, Felix (2020). „Klar ist das Thema“ – Religion in der Distanzierungsarbeit im Handlungsfeld des gewaltorientierten Islamismus, S. 126–159.

Langner, Joachim (2020). Religion als Ressource in der Radikalisierungsprävention?, S. 160–185.