Medien und das Thema Flucht 

Die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung flüchten, steigt seit Jahren und ist so hoch wie noch nie. Deutschland zählt zu den wichtigsten Aufnahmeländern, vor allem für Menschen aus den Kriegsgebieten in Syrien (UNHCR 2019, 2020). Hier, in Deutschland, werden das Thema Flucht und die damit verwobenen Diskurse um Integration und Migration in den Medien, in der Politik sowie in Freundeskreisen und Familien häufig kontrovers und emotional diskutiert. Die im Projekt „MeKriF – Flucht als Krise [1] durchgeführte Studie zum Umgang junger Menschen mit der medialen Darstellung des Themas zeigt: Für junge Menschen spielen Medien eine zentrale Rolle bei der Aneignung des Themas. Die relevanten Medien sind dabei in erster Linie das Internet und das Fernsehen. Dies gilt sowohl für die ungezielte Begegnung mit dem Thema als auch für die gezielte themenbezogene Information. Durch Medien werden junge Menschen mit der Notlage und dem Leid von Geflüchteten konfrontiert. Viele kennen beispielsweise Bilder von flüchtenden Menschen in Seenot auf dem Mittelmeer oder sehen auf YouTube, dass Menschen Opfer von rassistischen Gewalttaten werden.

Abb. 2: Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Aneignung des Themas Flucht Negative Space, pexels

Die in den Medien sichtbare besondere Not der Geflüchteten legt es vielen Kindern und Jugendlichen nahe, sich für humanitäre Werte  einzusetzen. Diesbezüglich folgert Ingrid Schoberth (2017, S. 112), dass auch Kinder und Jugendliche angesichts so vieler medial dargestellter Fluchtschicksale nicht mehr nur Zuschauer*in bleiben können. Schließlich fordert das Betrachten von Bildern von Gewalt und Leid heraus und wirft unter anderem die Frage auf, inwieweit man selbst aktiv werden muss. 

Unterschiedliche Aneignungsweisen des Themas Flucht

Mit Blick auf die Ergebnisse der MeKriF-Aneignungsstudie zeigt sich jedoch ein facettenreiches Bild der Umgangsweisen von Kindern und Jugendlichen mit dem Thema Flucht und Geflüchtete (Gebel et al. 2021). Dabei spielt unter anderem eine Rolle, was die befragten 10- bis 16-Jährigen in Medien wahrnehmen und erleben. Die eher jüngeren Kinder und Jugendlichen, die die Notlage von Geflüchteten zum Thema machen, setzen sich mit den humanitären Bedingungen von Geflüchteten auseinander und zeigen Mitgefühl mit ihnen. Die älteren Befragten beobachten zudem auch das politische Geschehen und prangern an, dass die Politik in Deutschland und Europa den Menschen nicht hilft. Besonders für Kinder und Jugendliche mit eigener Migrations- oder Fluchtgeschichte waren die Gruppeninterviews ein Anlass, über eigene Erfahrungen mit Rassismus zu sprechen. Sie erzählen von Übergriffen und Diskriminierungen, die sie meist auf YouTube und Instagram, aber auch vereinzelt im nahen sozialen Umfeld wahrnehmen. Andere Befragte schildern, dass sie sich mit dem Thema und den damit verbundenen Fragen nicht (mehr) auseinandersetzen wollen, auch wenn ihnen die Notlage der Geflüchteten durchaus bewusst ist. Sie zeigen sich überdrüssig, eher wenig empathisch und wenden sich vom Thema ab.

Compassion Fatigue: Ein mögliches Phänomen bei der Aneignung des Themas Flucht

Ein gängiger Erklärungsansatz für dieses Phänomen ist die Annahme einer sogenannten Compassion Fatigue („Mitgefühlsmüdigkeit“), die oftmals mit einem ‚Zu-viel-an-Emotionen‘ durch die allgegenwärtige Konfrontation mit dem Leid anderer in Medien erklärt wird (Kinnick et al. 1996). In aktuellen Arbeiten zur Compassion Fatigue wurde herausgearbeitet, dass dabei die Art und Weise der Berichterstattung „die empfundene und artikulierte Solidarität“ beeinflusst (Hafez 2016). So spielt es eine Rolle, mit welchen Handlungsaufforderungen oder -optionen die Darstellung von Leid verbunden wird (Chouliaraki 2006, S. 6). Andere konzeptionelle Arbeiten zur Compassion Fatigue verweisen darauf, dass die Mitgefühlsmüdigkeit nicht auf ein ‚Zu-viel-an-Emotionalität‘ zurückzuführen ist, sondern vielmehr im Zusammenhang mit der Unterdrückung von Ängsten steht, gerade wenn diese Ängste mit weniger sozial akzeptierten Gefühlen wie Ablehnung oder Neid verbunden sind (Gerard 2017, S. 366).

Abb. 3: Workshop im Projekt MeKriF (MeKriF-Jugendkonferenz in München) © Anja Berg

Die MeKriF-Ergebnisse liefern Hinweise für diesen zweiten Erklärungsansatz, nach dem die Mitgefühlsmüdigkeit von jungen Menschen auch als spezifischer Umgang mit eigenen Ängsten interpretiert werden kann (vgl. Brüggen/Müller 2021). Am Beispiel von den Befunden einer Gruppe von Befragten kann dies veranschaulicht werden. So verbindet ein Teil der befragten 10- bis 16-Jährigen das Thema Flucht und Geflüchtete vor allem mit dem Gefühl einer Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland. Anhand der im Rahmen des MeKriF-Verbundes von der Heinrich-Heine-Universität durchgeführten Medieninhaltsanalyse ist nachzuvollziehen, dass ihre Wahrnehmung, wonach von Geflüchteten eine Bedrohung für die Sicherheit und die gesellschaftliche Ordnung ausgeht, manifeste Ankerpunkte in der medialen Berichterstattung hat. Im Unterschied zu anderen stellen diese Kinder und Jugendlichen diese Darstellung nicht infrage und sehen sich zum Teil in ihrem sozialen Umfeld in dieser Problemwahrnehmung bestätigt. Von Politiker*innen erwarten sie eine Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, von Geflüchteten eine unveränderte Anerkennung dieser.

Mit Blick auf die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Zugehörigkeit wird dabei deutlich, dass die Prozesse „der Veränderung und der Bestätigung des Bestehenden“ (Castro Varela/Mecheril 2010, S. 35), die mit Flucht und Migration verbunden sind, hier mit dem Wunsch verbunden werden, das Bestehende nicht zu verändern. Damit wird hinzukommenden Menschen die Option auf Zugehörigkeit zur Gesellschaft abgesprochen; sie erscheinen als eine potenzielle Bedrohung für die eigene Situation, etwa bezüglich sozialer Leistungen oder der Chancen am Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Die Befragten artikulieren also jene Gefühle, die gesellschaftlich weniger anerkannt sind (Gerard 2017, S. 366). Die MeKriF-Studie verdeutlicht, dass für diese Problemwahrnehmung der Befragten sowohl die journalistische Berichterstattung als auch Social-Media-Angebote und der Austausch im sozialen Umfeld eine Rolle spielen. Einige Befragte in dieser hier beispielhaft beschriebenen Gruppe, bei der Anzeichen von Compassion Fatigue beobachtet werden können, äußern zum Thema Flucht und Geflüchtete Standpunkte, die als rassistisch gedeutet werden können. Ohne darüber hinwegzusehen, soll mit dem Fokus auf Compassion Fatigue in der hier vorgestellten Interpretation jedoch ein Phänomenaspekt sichtbar gemacht werden, der auch Ansatzpunkte für die pädagogische Bearbeitung birgt. Gezeigt werden soll, dass hinter Mitgefühlsmüdigkeit sozialpsychologische Gründe (vor allem Ängste und Überforderung) stehen können, die sich (sozial-)pädagogisch adressieren lassen. Dabei soll nicht übersehen werden, dass die gleichen Ängste auch rassistische Einstellungen befördern oder auf diese hinweisen können.

Mitgefühlsmüdigkeit: Nicht als Folge starker
Medienwirkung

Das beschriebene Verständnis von Mitgefühlsmüdigkeit bietet eine Interpretationsfolie, die die soziale Taubheit für das Leid von Geflüchteten nicht primär als Folge einer starken Medienwirkung konstatiert und zugleich eine moralische Unzulänglichkeit in Folge dessen zuschreibt. Vielmehr eröffnet es eine andere Lesart: Kinder und Jugendliche beschäftigt das Thema Flucht, auch wenn sie sich überdrüssig und mitgefühlssmüde zeigen. Für sie sind mit dem Thema jedoch zunächst angstbesetzte Gefühle wie Neid oder Ablehnung von Veränderung verbunden. Ohne diese Haltung gut zu heißen, gilt es, die damit verbundenen Gefühle in der pädagogischen Arbeit aufzugreifen. So erscheint es hilfreich, nicht allein auf eine Information über und Sensibilisierung für die Notlage von Geflüchteten zu setzen, sondern zusätzlich eine Auseinandersetzung mit angstbesetzten Gefühlen (einschließlich der zugrundeliegenden Bedingungen und Werte ), die ansonsten der Entwicklung von Mitgefühl entgegenstehen können, anzustoßen. Dazu braucht es Raum und Zeit. In pädagogischen Settings ist es daher wichtig, dass auch diese Gefühle sowie kontroverse oder widersprüchliche Perspektiven und Erfahrungen in einem geschützten Umfeld geäußert und diskutiert werden können. Dies ermöglicht unter Wahrung der Prinzipien des Beutelsbacher Konsens Denk- und Reflexionsprozesse, bei denen es aber angesichts der möglicherweise geäußerten Haltungen auch wichtig ist, für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzustehen bzw. auch deren Wert in den Reflexionsprozessen erfahrbar zu machen.

Das Thema Flucht in pädagogischen Settings
behandeln

Die MeKriF-Arbeitshilfe, die auf Grundlage der Studienergebnisse entwickelt wurde, setzt die oben skizzierten Überlegungen methodisch um. Die darin beschriebenen Materialien zielen darauf ab, junge Menschen bei der Aneignung des Themas Flucht in pädagogischen Settings zu begleiten und ihre Medienkompetenz zu stärken. Eine Einheit konzentriert sich beispielsweise auf die Arbeit zu eigenen Gefühlen und Gedanken zum Thema Flucht. Die Kinder und Jugendlichen sollen hier in Bezug auf einen beispielhaften Fernsehbeitrag ihre Gefühle und Gedanken bewusst wahrnehmen und reflektieren und so in einen Austausch darüber treten.

Abb. 4: Jugendliche setzen sich mit dem Thema Flucht auseinander (MeKriF-Jugendkonferenz in Leipzig), © Tino Reiher

Die pädagogischen Materialien beinhalten mehrere Videos und eignen sich für die Arbeit mit 12- bis 16-Jährigen. Die Materialien geben Anregungen, wie junge Menschen dabei unterstützt werden können, Medien selbstbestimmt und souverän in den Dienst zu nehmen, eine eigene reflektierte Haltung zum Themenkomplex Flucht, Migration und Integration zu entwickeln, sich mit den Sichtweisen anderer auseinanderzusetzen und ihre eigene Sichtweise in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen.

Die Ergebnisse der Studie sowie die pädagogischen Materialien sind online verfügbar unter https://mekrif.jff.de

veröffentlicht am 04.05.2021

 

Literaturverzeichnis

Brüggen, Niels/Müller, Eric (2021). Diskussion der Ergebnisse aus medienpädagogischer Perspektive. In: Brüggen, Niels/Dohle, Marco/Kelm, Ole/Müller, Eric (Hrsg.), Flucht als Krise? Flucht, Migration und Integration in den Medien sowie die themenbezogene Aneignung durch Heranwachsende. München: kopaed, S. 311–319.

Castro Varela, Maria do Mar/Mecheril, Paul (2010). Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen. In: Mecheril, Paul/Castro Varela, Maria do Mar/Dirim, Inci/Kalpaka, Annita/Melter, Claus (Hrsg.), Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz, S. 23–53.

Chouliaraki, Lilie (2006). The spectatorship of suffering. London, Thousand Oaks, Calif: SAGE Publications.

Gebel, Christa/Müller, Eric/Schober, Maximilian/Cousseran, Laura/Jennewein, Nadja/Brüggen, Niels (2021). Mediale und soziale Aneignung des Themenkomplexes Flucht, Migration und Integration durch Heranwachsende. In: Brüggen, Niels/Kelm, Ole/Dohle, Marco/Müller, Eric (Hrsg.), Flucht als Krise? Flucht, Migration, Integration in den Medien und die themenbezogene Aneignung durch Heranwachsende. München: kopaed.

Gerard, Nathan (2017). Rethinking compassion fatigue. In: Journal of Health Organization and Management, 31 (3), S. 363–368. DOI: 10.1108/JHOM-02-2017-0037.

Hafez, Kai (2016). Compassion Fatigue der Medien? Warum der deutsche „Flüchtlingssommer“ so rasch wieder verging. In: Global Media Journal, 6 (1), S. 1–8.

Kinnick, Katherine N./Krugman, Dean M./Cameron, Glen T. (1996). Compassion Fatigue: Communication and Burnout toward Social Problems. In: Journalism & Mass Communication Quarterly, 73 (3), S. 687–707. DOI: 10.1177/107769909607300314.

Schoberth, Ingrid (2017). Migration und ethische Bildung im Religionsunterricht. In: THEO-WEB. Zeitschrift für Religionspädagogik, 16 (2), S. 111–120.

UNHCR (2019). Global Trends – Forced Displacement in 2018. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UNHCR/Global_Trends_2018.pdf [Zugriff: 07.12.2019]

UNHCR (2020). Global Trends – Forced Displacement in 2019. https://www.unhcr.org/5ee200e37.pdf [Zugriff: 03.11.2020]

Einzelnachweise

  1. Im Projekt „MeKriF – Flucht als Krise. Mediale Krisendarstellung, Medienumgang und Bewältigung durch Heranwachsende am Beispiel Flucht“ hat das JFF – Institut für Medienpädagogik gemeinsam mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig die Auseinandersetzung von jungen Menschen mit dem Themenkomplex Flucht, Migration und Integration untersucht. Analysiert wurden ihr Medienhandeln und die von ihnen genutzten Medieninhalte im Jahr 2018. Auf Grundlage der Studienergebnisse wurden Arbeitshilfen für die journalistische und pädagogische Praxis entwickelt. Zurückspringen