Man kennt das eigentlich zur Genüge: In regelmäßigen Abständen fordern Lobbyist*innen oder Vertreter*innen von Berufsgruppen die Einführung neuer Schulfächer. Ob „Glück“, „Zukunft“, „Wirtschaft“, „eSport“ oder gar „Angeln“ – all das und vieles mehr sollte schon einmal fest in schulische Curricula aufgenommen werden. Oft werden solche Forderungen erhoben, obwohl klar ist, dass sie wenig Chancen haben, jemals realisiert zu werden, denn die Organisationsformen in der Schule sind starr und Veränderungen nur sehr schwer und wenn überhaupt, dann unendlich langsam zu erreichen.

Dennoch kann man solchen Versuchen zugutehalten, dass sie helfen können, offenzulegen, wo sich die Gesellschaft verändert hat und Schule als Sozialisationsraum nicht mehr adäquat funktioniert. Doch nicht nur in diesem Sinne möge die hier vorgetragene Forderung verstanden werden, Meinungsfreiheit – zumindest für ein Halbjahr – zu einem eigenen Schulfach zu machen, denn die Situation in unserem Land hat sich in einer Weise dramatisch verändert, dass auch und gerade der Bildungssektor reagieren müsste: und zwar in drastischer Weise, da sich sonst Entwicklungen verfestigen, die nicht mehr umkehrbar sind.[1] Meinungsfreiheit scheint dabei das Grundrecht zu sein, das dringend in den Fokus geraten sollte, denn um sie herum lassen sich Probleme bearbeiten, die zu den allerorten geforderten und für die Demokratie so wichtigen Kernkompetenzen (wie etwa der Medienkompetenz) hinführen können.

Die Fokussierung auf ein einziges Menschen- bzw. Grundrecht hätte dabei den Vorteil, dass die Arbeit deutlich konkreter und nachhaltiger geraten könnte, als dies bei der auch von der Kultusministerkonferenz (KMK) immer wieder geforderten (und gestärkten) allgemeinen Demokratieerziehung der Fall ist. Und die Konzentration auf ein ganzes Halbjahr – statt wie die KMK z.B. vorschlägt: auf einzelne Projekttage – machte es möglich, dass die Schülerinnen und Schüler zu Demokratieexpert*innen werden können, die sich dann in anderen Zusammenhängen, in denen Grundrechte thematisiert werden, dezidiert positionieren können, innerhalb wie außerhalb der Schule. Natürlich braucht es dafür die notwendigen Stunden – aber die stehen eigentlich zur Verfügung, wenn man für dieses eine Halbjahr all jene Fächer zusammenschalten könnte, bei denen bereits jetzt Meinungsfreiheit und vor allem die Toleranz für die Ansichten anderer dezidiert in den Kerncurricula bzw. Lehrplänen auftauchen: Deutsch, Geschichte und Politik/Wirtschaft (Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftskunde). Aus der jeweiligen Perspektive der Fächer könnten unterschiedliche Dimensionen der Meinungsfreiheit und – das gehört entscheidend dazu – der Geschichte der Zensur in den Blick geraten. So könnten sich Schülerinnen und Schüler eine differenzierte freedom-of-speech-literacy aneignen, die sie ganz anders dazu befähigt, in ihrem Alltag, der wie niemals zuvor vom Umgang mit Medien bestimmt ist, zu agieren.

Es ist natürlich nicht möglich (und nicht sinnvoll), hier bereits ein vollständiges Curriculum des Faches Meinungsfreiheit auszubreiten, allerdings lassen sich einige anzustrebende Teilkompetenzen entwerfen und auch Projekte vorstellen, die für den Unterricht eine Rolle spielen könnten, vielleicht sogar müssten. Eine zentrale Einsicht, die ein solches neues Schulfach nachhaltig befördern müsste, wäre es, zu verstehen, dass man Meinungen nicht nur intuitiv hat, sondern dass man sie sich bildet, indem man sich zu einem Thema informiert und lernt, seriöse Quellen von unseriösen („Fake News“) zu unterscheiden. Dabei wird die Funktion, die Qualitätsmedien (z.B. Spiegel, Die Zeit, öffentlich-rechtliche Programme) als „Gate Keeper“ haben, besonders in den Blick geraten müssen. Eine weitere Fähigkeit, die ganz offensichtlich umfassender erworben werden muss als bislang, ist es, beurteilen zu können, wann es sich um eine legitime (und letztlich legale) Meinung handelt und wann um eine Tatsachenbehauptung, für die andere (Rechts-)Maßstäbe gelten. Entscheidend wäre hier, dass die Schülerinnen und Schüler eben genug Zeit erhalten, sich diese Unterscheidung nicht nur theoretisch zu erarbeiten, sondern sie konkret anzuwenden. Gelegenheit dazu geben z.B. Wettbewerbe, in denen besonders junge Menschen zur Meinungsäußerung aufgefordert werden (gerade aktuell auf der Website der Frauenkirche Dresden: https://www.frauenkirche-dresden.de/mitreden/), oder aber durch Initiativen, die die Schülerinnen und Schüler selbst starten, indem sie Meinungsbildungsprozesse zu regionalen oder schulinternen Vorhaben oder Debatten usw. initiieren und vor allem: moderieren und begleiten.

Dafür aber müssen sie über jene „robuste Zivilität“ verfügen, die der britische Politikwissenschaftler Timothy Garton Ash als Grundbedingung für die Aufrechterhaltung der Meinungsfreiheit unter den neuen Bedingungen des „globalen Dorfes“ definiert.[2] Robust heißt hier unter anderem, es aushalten zu können, dass unterschiedliche Meinungen existieren und vor allem dass Meinungsfreiheit auch bedeutet, dass andere die eigene Meinung kritisieren und mitunter deutlich zurückweisen (können). Gerade die sogenannten Querdenker*innen und Wutbürger*innen verfallen angesichts der von ihnen als Mainstream denunzierten Mehrheitsmeinung in ihr wütendes Geschrei, dass jede Kritik an ihren mitunter abstrusen Positionen oder schon deren Nichtbeachtung eine Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit sei. Diese radikale (und intendierte) Verwechslung von Meinungsfreiheit und Freiheit von Kritik gilt es, immer wieder freizulegen.

Eines der aufregendsten Projekte, an dem sich Schülerinnen und Schüler in dem hier vorgeschlagenen Halbjahres-Fach „Meinungsfreiheit“ aktiv beteiligen können (und sollten), ist die von Garton Ash initiierte Seite https://freespeechdebate.com/, die zehn Prinzipien zur Diskussion stellt, die angesichts der neuen Kommunikationstechnologien unseren Umgang miteinander neu regeln wollen. „Es geht auch darum“, heißt es dort,

welchen Normen die Meinungsfreiheit im geopolitischen Westen (oder dem ‚globalen Norden‘) unterliegt und was Menschen aus dem aufsteigenden Osten und Süden fordern. In einer Welt, in der der Westen seine Vormachtstellung immer mehr verliert, gibt es keinen Zweifel daran, dass eine weltweite Debatte zwischen Menschen und Regierungen aus allen Himmelsrichtungen nötig ist. Nur wenn wir diese Debatte offen, ehrlich und gut informiert miteinander führen, können wir herausfinden, welche Normen universell gültig sind – oder es werden können – und wo lokale Unterschiede nötig und unabdingbar sind.

Schon jetzt lesen sich die dort im Moment festgehaltenen Prinzipien so gut, dass man sich nur wünschen kann, dass ihnen die meisten im Alltag folgen werden:

„1. Wir – alle Menschen – müssen die Freiheit genießen und befähigt sein, frei unsere Meinung zu äußern und, ohne Rücksicht auf Grenzen, Informationen und Ideen zu ersuchen, zu empfangen und mitzuteilen;

2. Weder drohen wir mit Gewalt, noch akzeptieren wir gewaltsame Einschüchterung;

3. Wir nutzen jede Chance, Wissen zu verbreiten, und tolerieren hierbei keine Tabus;

4. Wir benötigen unzensierte, vielfältige und vertrauenswürdige Medien, um gut informiert Entscheidungen zu treffen und vollständig am öffentlichen Leben teilzuhaben;

5. Wir sprechen offen und mit Respekt und Höflichkeit über jegliche Art von Unterschieden zwischen Menschen;

6. Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte;

7. Wir sollten unsere Privatsphäre schützen und Rufschädigungen entgegentreten können. Jedoch sollten wir auch Einschränkungen der Privatsphäre akzeptieren, sofern dies im öffentlichen Interesse ist;

8. Wir müssen befähigt sein, Einschränkungen in der Informationsfreiheit zu hinterfragen, die etwa mit dem Schutz der nationalen Sicherheit begründet werden;

9. Wir verteidigen das Internet und andere Kommunikationsmittel gegen illegitime Eingriffe durch öffentliche und private Mächte;

10. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen und tragen dafür die Konsequenzen.“

Weitere Verbesserungen bzw. Präzisierungen dieser (oder auch neuer) Prinzipien sind angestrebt – denn genau darauf zielt letztlich Garton Ashs ambitioniertes Projekt, das viele Angebote für die Schülerinnen und Schüler bereithält, sich an den Aushandlungsprozessen zu beteiligen.

Zu lernen gibt es hier für die Schülerinnen und Schüler auch, dass die Meinungsfreiheit kein absolutes Recht ist, sondern eingeschränkt wird von anderen Grundrechten und Gesetzen und dass ihre Grenzen immer wieder neu bestimmt werden müssen. In praktischer Hinsicht können die Schülerinnen und Schüler diese Güterabwägungen im Übrigen auch selbst an einem Gegenstand durchspielen, der vielen von ihnen lebensweltlich nahestehen dürfte: dem Rap und seinen Texten. Hier wäre zu fragen und am Einzelfall zu prüfen, ob die im Gangsta-Rap geäußerten Gewaltfantasien, frauenfeindlichen Männlichkeitsbehauptungen oder die nicht seltenen antisemitischen Klischees noch von der Meinungs- bzw. Kunstfreiheit gedeckt sind oder eben nicht mehr.

Die Forderung nach einem eigenständigen (Halbjahres-)Fach Meinungsfreiheit ist sicherlich radikal; radikal – und in besonderem Maße beunruhigend – sind aber auch die antidemokratischen Entwicklungen, die wir hierzulande sehen, besonders durch jene, die auch noch scheinheilig die Meinungsfreiheit ins Feld führen, wenn sie ihre extremen Botschaften verbreiten wollen oder verteidigen. Die Schule als Institution hat den Vorteil, alle Kinder und Jugendlichen erreichen zu können: Wenn unsere Gesellschaft also demokratische Einstellungen weiter (oder endlich?) festigen möchte, muss sie bereit sein, eingetretene Bildungswege auch einmal zu verlassen. Unrealistisch ist diese Vorstellung eigentlich nicht: Die an einem möglichen Fach Meinungsfreiheit beteiligten Fächer Deutsch, Geschichte und Gesellschaftskunde müssten in dem entsprechenden Schuljahr ja nicht alle Stunden für das gemeinsame Projekt abgeben, sondern nur so viele, dass (vorübergehend) ein Hauptfach entsteht. Außerdem würden ohnehin vorhandene Lehrinhalte der Fächer nur ausgebaut und zudem zeitlich verdichtet (was ihnen eine sichtbare Relevanz verliehe), statt sie spiralcurricular anzuordnen. Der Gewinn wäre für alle ganz sicher gewaltig.

veröffentlicht am 22.02.2022

Einzelnachweise

  1. Hier sind vor allem die Entwicklungen gemeint, die Hate Speech im Internet für viele akzeptabel gemacht haben, was auch daran lag, dass gesellschaftliche Institutionen diese Radikalisierungen zu lange ignoriert und in ihrer Auswirkung auf alle Lebensbereiche unterschätzt haben. Zu diesen Phänomenen gehört aber auch die weitreichende Diskreditierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Zunahme gefährlicher und immer erfolgreicherer Verschwörungstheorien und die weit verbreitete Annahme, Meinungsfreiheit bedeute das Recht, nicht kritisiert zu werden. Zurückspringen
  2. Garton Ash, T. (2016). Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. München: Hanser. Zurückspringen