Gegennarrative kritisch hinterfragen

In Deutschland ergänzen die Forderungen nach der Produktion von Gegennarrativen die Schaffung einer Infrastruktur von präventiven Maßnahmen weit im Vorfeld von etwaigen Radikalisierungen und stellen so eine scheinbare Abgrenzung von repressiveren, in die Grundrechte von Zielgruppen eingreifenden Maßnahmen dar. Diese Forderungen bleiben dabei weitestgehend unwidersprochen. Während die Verschleierung staatlicher Kommunikation durch das Einspannen von (zum Teil nur für diesen Zweck gegründeten) zivilgesellschaftlichen Organisationen zum Beispiel in Großbritannien durchaus kritisch begleitet wurde[2], wird im deutschsprachigen Diskurs nur zaghaft Kritik an staatlich geförderten Gegennarrativen und Kampagnen hörbar.

Dabei wird oft ignoriert, dass auch die Forderung nach Gegennarrativen selbst hegemonialen Erzählungen folgt – Narrative sind immer „powerful [and] their power is tricky“[3]. So wird mittels der Forderung nach staatlich orchestrierten Gegennarrativen nicht selten der Eindruck vermittelt, dass im Zeitalter von Online-Diskursen und sozialen Netzwerken staatliche Institutionen mit nicht-staatlichen Akteur*innen als beinahe gleichberechtigte Partner*innen in den diskursiven Arenen agieren und um Deutungshoheiten ringen müssten. Gleichzeitig wird verschwiegen, dass es gerade das oft verschleierte oder intransparente staatliche Eingreifen an sich ist, welches von angesprochenen Personen und Gruppen „auch als Ausdruck der Ablehnung und Ausgrenzung (und selten als Gesprächsangebot) begriffen werden“ kann[4].

Abb. 2, Jeder Aussage steht auch eine kritische Gegenfrage gegenüber Quelle

Außerdem kristallisieren sich in Gegennarrativen oftmals „stereotypisierende Gefährdungsannahmen“ über die anvisierte Zielgruppe und tragen so zu einer Stigmatisierung bei[5]. So fokussieren Gegennarrative gegen sogenannten Islamismus vor allem eine, oft nur vage definierte, islamistische Ideologie, von der teilweise behauptet wird, dass sie für eine ganze Generation von Muslim*innen attraktiv sei und breiten Anklang fände[6]. Die Forderung nach Gegennarrativen impliziert so einen Verdacht gegenüber jungen Muslim*innen, die angeblich mit neuen staatlichen und staatlich geförderten Angeboten von ihrem immanenten Drang zu Terrorismus und Demokratiefeindlichkeit abgehalten werden müssten.

Sich mit politischen Forderungen islamistischer Gruppierungen auseinandersetzen

Besonders Pädagog*innen sind in diesem Zusammenhang immer wieder dazu aufgefordert, Narrative gegen sogenannten Islamismus zum Einsatz zu bringen. Eine unvoreingenommene pädagogische Auseinandersetzung mit denjenigen Positionen und Motiven, die von sogenannten Islamist*innen erzählt werden, wird jedoch gleichzeitig zumeist kategorisch ausgeschlossen. In Hinblick auf das ständige Bedrohungsszenario Terrorismus, in den jeder Radikalisierungsprozesses jeder angesprochenen Person münden könnte, sollen Pädagog*innen vielmehr in erster Instanz gegen Islamismus anerzählen, Überzeugungsarbeit leisten, für Demokratie werben und sie verteidigen.

Als Rahmen für diese Ansprachen wird in den meisten Fällen politische Bildungsarbeit vorgeschlagen. Tatsächlich ignorieren derartig gestaltete Ansprachen jedoch politische Aspekte, Positionen und Motive der Zielgruppen und argumentieren vielmehr auf Grundlage einer scheinbaren moralischen und ethischen Richtigkeit. Junge Muslim*innen werden so auch von Pädagog*innen in vielen Fällen auf Basis problematischer integrations- und sicherheitspolitischer Prämissen adressiert und sind womöglich islamfeindlichen und rassistischen Zuschreibungen ausgesetzt[7]. Speziell für das Feld der politischen Bildung wird sogar grundsätzlich konstatiert, dass das „sicherheitspolitische Konzept der Extremismusprävention […] für die politische Bildung ungeeignet“ ist, da es „den Individuen gegenüber nicht offen und dynamisch-subjektorientiert“ und auf „fatale Weise“ sogar selbst für „ autoritäre und fundamentalistische Politikangebote […] anschlussfähig“ sei[8].

Kritische Bildungsarbeit sollte Politisierung fördern

Wie kann eine angemessene Reaktion angesichts der Forderungen nach mehr Gegennarrativen und der sich auf ausbreitende Bildungsangebote ausbreitende Präventionslogik aussehen?  Anstöße hierzu liefern die Grundsätze einer explizit kritischen politischen Bildungsarbeit, in welcher Machtkritik, die Herstellung echter Kontroversität und das ständige Hinterfragen von hegemonial gewordenen Sichtweisen fest als Prinzipien verankert sind. Pädagog*innen wären dementsprechend nicht gefragt, Video- und Audioformate gegen sogenannten Islamismus ins Feld zu führen und die Gesinnungen anhand deren Zustimmung oder Ablehnung dieser Formate zu überprüfen.

Vielmehr hätten Pädagog*innen die nicht unkomplizierte Aufgabe, die Diskussionen über von sogenannten islamistischen Gruppen propagierte Forderungen wieder tatsächlich zu politisieren: Eine Politisierung der Auseinandersetzung mit sogenannten islamistischen Forderungen bedeutet unweigerlich die Abkehr davon, eine Bewertung der Argumente als islamistisch bezeichneter Gruppierungen als grundsätzlich „böse“ oder „falsch“ ohne tiefer gehende Auseinandersetzung mit den politischen Motiven dieser Gruppen und Personen vorzunehmen. So würde in einer kritischen politischen Bildungsarbeit nicht „unsere“ scheinbar neutrale, wahrhaftige, rationale, unschuldige Darstellung den scheinbar ideologischen, verfälschten, wahn- und böshaften Darstellungen von Islamist*innen gegenübergestellt werden. Das gilt besonders in Bezug auf das Anprangern von Missständen in unserer Gesellschaft, mit dem sogenannte islamistische Gruppen oft um junge Menschen werben. Eine Ablehnung des Totalitarismus sogenannter islamistischer Gruppen sollte nicht zur Folge haben, Unmut über Rassismus, Sexismus und Klassismus in Deutschland nicht kontrovers zu diskutieren.

Deprivationserfahrungen nicht umerzählen, sondern Gesellschaftskritik stärken

Ein Beispiel veranschaulicht die Dringlichkeit dieser Unterscheidung: In Empfehlungen für pädagogische Präventionsarbeit gegen Islamismus wird vielerorts dazu angehalten, junge, über ihre Diskriminierungserfahrungen wütende Muslim*innen im Zuge der Stärkung gegen sogenannte Islamist*innen, die diese Erfahrungen für Missionierung und Rekrutierung instrumentalisieren könnten, zu „empowern“ und Wege aufzuzeigen, wie Muslim*innen mit Diskriminierung in einem als vielfältig und mehrheitlich aufgeschlossen erzählten Deutschland trotzdem erfolgreich leben könnten, ohne ihre Erfahrungen von Rassismus, Klassismus und Sexismus stets in den Vordergrund zu stellen. Mit den Grundsätzen der kritischen politischen Bildung  würde in Reaktion auf Unmutsäußerungen über Rassismus – unabhängig davon, ob sie im Kontext von Forderungen sogenannter islamistischer Gruppen auftauchen oder nicht – die Relativierung und Umerzählung dieser Erfahrungen nicht im Mittelpunkt stehen.

Pädagog*innen wären vielmehr dazu angehalten, in kontroversen Diskussionen eine gemeinsame Suche nach Wegen anzuleiten, diese Missstände zu beseitigen. Im Idealfall wäre eine Antwort auf totalitäre, wie sogenannte islamistische, Forderungen nicht eine Abkehr von Radikalität und Stärkung von Konformismus – sondern im Gegenteil die Förderung von radikaler und machtkritischer Kontroversität, in der um die Veränderung unserer ungerechten Gesellschaft gestritten wird. Dazu benötigen Pädagog*innen keine strategischen Gegennarrative, die „unsere“ Gesellschaft bewerben und die großen hegemonialen Erzählungen unserer Zeit – das nie eingelöste Freiheitsverspechen des Neoliberalismus, den zerstörerischen Drang nach Wachstum des Kapitalismus und die bestehenden globalen Ungleichheiten auf Grundlage von Rassen, Klassen und Gender – als unumstößliche Wahrheiten vermitteln. Vielmehr müssen sie den Mut aufbringen, eben diese Erzählungen als Perspektiven, die nicht von allen Menschen geteilt werden müssen, zum Thema kritischer Diskussion zu machen.

 

veröffentlicht am 10.11.2020

Einzelnachweise

  1. Zum Beispiel im Nationalen Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus der Bundesregierung von 2017., https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/sicherheit/praeventionsprogramm-islamismus.pdf?__blob=publicationFile&v=2; oder dem Leitfaden zum Umgang mit Counter-Narratives der AG „Deradikalisierung“ des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums., https://www.hamburg.de/contentblob/11233354/acebc6c39b4b7b32b878490671db22e1/data/leitfaden-counter-narratives.pdf [Zugriff: 09.11.2020] Zurückspringen
  2. Hayes, Ben/ Qureshi, Asim. (2016). „We are completely independent“: The Home Office, Breakthrough Media and the PREVENT Counter Narrative Industry, CAGE., https://www.cage.ngo/product/we-are-completely-independent-report [Zugriff: 09.11.2020] Zurückspringen
  3. Maan, Ajit (2015). Counter-Terrorism. Narrative Strategies. New York: University Press of America, S. 1. Zurückspringen
  4. Hohnstein, Sally/ Glaser, Michaela (2017). Wie tragen digitale Medien zu politisch weltanschaulichem Extremismus im Jugendalter bei und was kann pädagogische Arbeit dagegen tun? Ein Überblick über Forschungsstand, präventive und intervenierende Praxis im Themenfeld. In: Hohnstein, Sally/ Herding, Maruta (Hrsg.), Digitale Medien und politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter: Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis. Halle: DJI, S. 260–61. Zurückspringen
  5. Ebd. Zurückspringen
  6. Zum Beispiel Mansour, Ahmad (2015). Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen., Frankfurt: Fischer. Zurückspringen
  7. Vgl. Karakaşoğlu, Yasemin/ Wojciechowicz, Anna. A. (2017). Muslim_innen als Bedrohungsfigur für die Schule – Die Bedeutung des antimuslimischen Rassismus im pädagogischen Setting der Lehramtsausbildung. In: Fereidooni, Karim/ El, Meral (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer VS, S. 507–528. Zurückspringen
  8. Gill, T./ & Achour, S. (2019). Liebe Teilnehmende, liebe Gefährderinnen und Gefährder: Extremis-musprävention als politische Bildung? In: Journal für Politische Bildung, 2/19, S. 32–37. Zurückspringen