Problemstellung

Im Umgang mit muslimischen Schüler*innen können religiös interpretierte oder religiös geframte Kleidungsstücke zum Fixpunkt von Konflikten im schulischen Kontext (gemacht) werden. In diesen Szenarien besteht die Herausforderung darin, die individuelle Entwicklungsperspektive der betroffenen Schüler*innen nicht außer Acht zu lassen. Diese Vernachlässigung kann entstehen, wenn äußere Diskurse über Muslim*innen in Medien und Politik polarisierend wirken: Ein Beispiel dafür ist, wenn in der Schule bei der Diskussion über das Kopftuch oder den Burkini (Ganzkörperbadeanzug, der sowohl von Musliminnen als auch von orthodoxen Jüdinnen getragen wird) ein Politikum entsteht, welches weit über die spezifische schulische Alltagssituation hinausgeht, oder aber auch in der Gleichsetzung der Religion des Islams mit terroristischen Anschlägen im Rahmen des islamistischen Extremismus.[1] Ein wichtiges Merkmal dieser Dynamik sind pauschale Aussagen über Muslim*innen, denen individuelle Lebensentwürfe und privatreligiöse Praktiken nicht zugestanden werden.

Die Frage danach, „wer jemand ist“, ist mit Blick auf das pädagogische Szenario wesentlich zielführender, als sich auf äußerliche religiös gelesene Merkmale zu fixieren.[2] Erst wenn die Fachkraft sich ein Bild der Klientin oder des Klienten gemacht hat, sollte die Frage nach dem Stellenwert der Religion für diese Person gestellt werden. Religion, oder in diesem Fall der Islam, sollte nicht vorschnell das pädagogische Verständnis bestimmen, das sich Fachkräfte von ihren Klient*innen machen. Es gehört jedoch zu den wichtigen Aufgaben von Fachkräften, die mit diversen Gruppen arbeiten, den Einfluss von Religion auf die Lebensführung angemessen einschätzen zu können. Dass dies nicht immer einfach ist und wie es zukünftig besser gelingen könnte, zeigt der vorliegende Text. Die Antworten darauf mögen insbesondere für schulische und außerschulische Expert*innen nicht hinreichend zufriedenstellend ausfallen, zumal es keine best practices in wörtlichem Sinn gibt, sondern genau genommen nur doing better practices.

Im Folgenden wird zunächst ein Beispiel aus der Praxis vorgestellt, bevor auf religious literacy als für das aufgeworfene Thema wichtigen Ansatz eingegangen wird. Die Darstellung nutzt Daten und Ergebnisse aus einer laufenden Studie der Verfasserin an der Goethe-Universität-Frankfurt.[3]

Das Kopftuch als Symbol

Das Kopftuch (arab. Hijab) ist und bleibt ein sogenanntes Reizthema in der öffentlichen Wahrnehmung.[4] Hinweise und Diskussionen über die im Grundgesetz verbriefte Religionsfreiheit werden vielfach durch islamfeindliche Argumentationen infrage gestellt.[5] Für die betroffenen Frauen und Mädchen lässt sich hierbei eine Stigmatisierung feststellen, die weitreichende Auswirkungen auf ihren Lebensalltag und ihr Selbstwertgefühl hat. Abwertungen und körperliche Angriffe auf Frauen und Mädchen aufgrund des Kopftuchs sind keine Seltenheit, sondern Alltag für viele Betroffene.

Abb. 2, Viele  junge Musliminnen sehen den Hijab als religiöses Bekennungsmerkmal Quelle

In biografisch-narrativen Interviews mit Betroffenen rückt der Sozialraum Schule als Ort einer möglichen sozialen Ausgrenzung in den Brennpunkt. Bei den interviewten (muslimischen) Interviewpartnerinnen der Verfasserin lässt sich eine Verfestigung der Glaubenspraktiken und Glaubensinhalte während der Adoleszenz feststellen. Häufig beginnt diese Orientierung im Alter von 11–12 Jahren, also in einer Zeit, in der unmittelbare Autoritätspersonen, wie beispielsweise die Eltern, infrage gestellt werden.

Der Schritt, das Kopftuch als Symbol des eigenen Glaubens zu tragen, wird sowohl als Selbstermächtigung als auch als Schritt beschrieben, für den es besonderen Mut erfordert. Dieser Entscheidung, sich über ein äußeres Wiedererkennungsmerkmal zu einer Gemeinschaft zu bekennen, gehen verschiedene Prozesse voraus: ausgehend von einer spirituellen Hinwendung und der Auseinandersetzung mit religiösen habituellen islamischen Praktiken einerseits, und der kritischen Hinterfragung der bisherigen familiären religiösen Praktiken andererseits. Die hier in Rede stehenden weiblichen Teenager kapseln sich weder von ihrer familiären Umgebung ab, noch brechen sie ihre Freundschaften und weiteren sozialen Beziehungen ab. Die Entscheidung, das Kopftuch in der Öffentlichkeit zu tragen, wird den Schilderungen zufolge nach zeitlichen Zäsuren, wie beispielsweise den Sommerferien, vorgenommen.

Reaktion von Fachkräften auf das Kopftuch

Die Reaktionen in der Schule selbst werden von den hier in Rede stehenden Interviewpartnerinnen unterschiedlich beschrieben. Häufig verhalten sich die Mitschüler*innen aufgeschlossen bis neugierig. Indes werden die Reaktionen der Lehrkräfte rückblickend als besorgt, ablehnend, misstrauisch oder verurteilend beschrieben.

In einigen Fällen, die von den Interviewpartnerinnen geschildert wurden, wurden eheliche Anbahnungsstrategien im Kontext von Zwangsverheiratungen vermutet. Daneben gab es Vermutungen, dass vonseiten der Erziehungsberechtigten Druck auf die betroffenen Schülerinnen ausgeübt worden sei. Zurückgeführt wird das auf elterliche Erziehungsvorstellungen, die eng im Zusammenhang mit einer restriktiven Vorstellung von Sexualität und Geschlechterbildern stehen.

Diese Thesen haben ihre Berechtigung, da gefährdende Handlungen durch Erziehungsberechtigte, die die heranwachsenden Mädchen unter Druck setzen, mit in den Blick genommen werden und ggf. verhindert werden müssen. Eine Pauschalisierung ist in Bezug auf das pädagogische Szenario jedoch kontraproduktiv und führt am Bedürfnis nach Anerkennung und Akzeptanz der betroffenen Schülerinnen vorbei.

In einem Interview schilderte eine Schülerin, dass sie nach dem Deutschunterricht von ihrer Lehrerin in die Schulbibliothek gerufen wurde. Dort erklärte die Lehrerin der damals 14-jährigen Schülerin die unterschiedlichen Phänomene von Frauenunterdrückung – auch hinsichtlich religiös begründeter Frauenfeindlichkeit. In ihrer Rekonstruktion des Ereignisses beschreibt die nunmehr junge Frau die Stimmung als aufgeladen und bedrohlich, zumal niemand während des genannten Zeitpunkts in der Bibliothek zugegen war. Ihre Deutschlehrerin unterstellte ihr, dass sie sich von nun an selbst unterwerfe und ihre Eltern wohl Druck auf sie ausgeübt hätten. In der Rekonstruktion gibt die Interviewpartnerin an, dass sie geweint habe und weggerannt sei.

Konfliktsituationen aufgrund problematischer pädagogischer Intervention

Morgens sei sie noch mit Aufregung und Stolz in die Schule gegangen – sie hatte sich für diesen Tag nach den Ferien sehr viel Zeit für die Auswahl ihrer Kleidung und das passende, in hellen Blumenmustern gehaltene Kopftuch genommen – und ging nun nach diesem ersten Tag weinend aus der Schule. Sie befand sich unmittelbar in einer unerwarteten Konfliktsituation mit einer Vertrauensperson aus ihrem Schulalltag; ausgelöst durch selbige Autoritätsperson in ihrem Umfeld, mit der sie noch einige Wochen zuvor keinerlei Schwierigkeit erlebt hatte.

Den Eltern gegenüber verschwieg sie den Vorfall. Diese hatten im Vorfeld befürchtet, dass die Tochter Diskriminierungserfahrungen machen könnte, sobald sie das Kopftuch trage. Ihre Mutter, die selbst ein Kopftuch trägt, hatte ihr daher davon abgeraten und sie darum gebeten, es bleiben zu lassen und auf einen späteren Zeitpunkt nach der Beendigung ihrer Schullaufbahn zu verschieben.

Der Konflikt belastete die Schülerin. Im Interview gibt sie jedoch an, dass sie nicht mit dem Gedanken spielte, ihr Kopftuch wieder abzusetzen. Die Schülerin wählte für sich einen anderen Weg: Einige Tage später schrieb sie ihrer Deutschlehrerin einen langen Brief, in dem sie ihr ihre Motivation und die Bedeutung ihres Glaubens beschrieb. Sie erklärte, dass ihr Glaube ihr Kraft für die Aufgaben in der Schule gebe und sie dadurch ruhiger werde, weil sie inneren Halt finden würde. Sie erklärte ihr weiter, dass sie mit Stolz ihr Kopftuch trage und es zu ihrem Selbstverständnis als Muslimin gehöre. Danach entspannte sich das Verhältnis wieder, das zuvor gestört wurde.

Bei der Frage, was sie sich von ihrer Lehrerin zum damaligen Zeitpunkt gewünscht hätte, antwortete sie:

[…], dass sie mich fragt, wie es mir geht. Und warum ich mich dazu entschlossen habe. Ich hatte Angst vor ihr und wusste nicht, was ich ihr antworten sollte. Es war doch mein Lieblingsfach.

Religious literacy für bessere Fachlichkeit

Die Herausforderung, diese Situation gut zu lösen, wurde von der damals 14-jährigen Schülerin selbst in die Hand genommen: Weder wollte sie die Stigmatisierung dulden, noch wollte sie sich unterstellen lassen, aufgrund von Zwang diesen Weg gewählt zu haben. Die Anforderungen an diese Konfliktsituation sind allerdings hoch: Der von ihr gewählte Lösungsweg setzt eine intensive mentale und emotionale Auseinandersetzung voraus sowie eine resiliente Grundeinstellung. Als Jugendliche war sie mit Stereotypen über Musliminnen konfrontiert, dass sie, nachdem sie sich für das Tragen des Kopftuchs entschieden hatte. Die hier in Rede stehende „monolithische Wahrnehmung des Islams“ als demokratiefeindlich verhinderte die Auseinandersetzung mit „hybriden und individuellen Formen“[6] von Religiosität als Teil fließender und sich je nach Lebenskontext und Lebensalter ändernder Lebensstilrichtungen.

Hilfreich in einer solchen Situation wäre die Bereitschaft der Lehrerin, eigene Vorannahmen über „den“ Islam und „die“ Muslim*innen, die ihre Deutung der Entscheidung der Schülerin prägen, selbstkritisch zu hinterfragen. Ihre Abwehrhaltung führte an einem differenzierten Umgang mit der Jugendlichen vorbei.

Ein Lösungsansatz für Pädagog*innen liegt in der Kompetenz der „religious literacy“. Notwendig für Pädagog*innen ist hier eine „religionsbezogene Grundordnung“ im Sinne einer „religiösen Belesenheit“, welche sich nicht nur auf den Islam bezieht.[7] „Religious literacy“ meint die Bereitschaft, Religion und Religiosität als ein mit sozialen, politischen und kulturellen Erfahrungen verwobenes Phänomen zu verstehen, das den individuellen Alltag und das individuelle Selbstverständnis maßgeblich prägt.[8]

Mittels dieser Kompetenz würde deutlicher, dass Religion stets in einem sozialen sowie politischen und kulturellen Kontext zu verstehen ist. Erst im Verhältnis zu diesen Bezügen entfaltet sich die

Abb. 3, Nachvollziehbarkeit religiöser Praktiken über den Erwerb von Kompetenz Quelle

individuelle Wirksamkeit von Religion und macht ihre Bedeutung verstehbar. Dieser Ansatz erleichtert eine differenzierte Aufarbeitung pluraler Werteverhältnisse und Selbstpositionierungen zur Religion und von Religiosität in pädagogischen Kontexten.

Damit ist keineswegs eine theologische Expertise in Religionsfragen und zu einzelnen Religionen gemeint. Religious literacy steht vielmehr für ein grundlegendes Verständnis für historische sowie gegenwärtige Verhältnisse und religiöse Ausdruckweisen – ästhetische und gewohnheitsmäßige, die im Alltag verankert sind –, die sich insbesondere bei Jugendlichen in der Adoleszenz zeigen können und stetig modifiziert werden.

Entsprechende Kompetenzen spielen in der Ausbildung von außerschulischen und schulischen Fachkräften gegenwärtig kaum eine Rolle. Für einen lösungsorientierten und diversitätssensiblen Umgang mit religionsbezogenen Konflikten in einer Migrationsgesellschaft wären sie allerdings Voraussetzung.

veröffentlicht am 03.11.2020

Literaturverzeichnis

Behr, Harry Harun (2020; unveröffentlichtes Manuskript). Migration, Religion, Gender, Bildung. Intersektionale Zusammenhänge von Lebensweltorientierung, Identität, Gesundheit und Integration (Juli 2020).

Dittrich, Monika (2020). Yasemin El-Menouar: „Muslimfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit“. In: Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/islam-in-deutschland-muslimfeindlichkeit-ist.886.de.html?dram:article_id=483675, 07.09.2020 [Zugriff: 12.09.2020]

Karakaşoğlu, Yasemin (2020). Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen. In: Kulaçatan, Meltem/Behr, Harry Harun (Hrsg.), Migration, Religion, Gender und Bildung. Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität. Bielefeld: transcript, S. 83–107.

Religious Literacy Project (2020). What is religious literacy? https://rlp.hds.harvard.edu/our-approach/what-is-religious-literacy [Zugriff: 12.09.2020]

Religiöse Selbstentwürfe junger Musliminnen in pädagogischen Handlungsfeldern. https://relpos.de/forschungsschwerpunkte/teilprojekt-islamische-studien-ii/

Sauerteig, Elke/Wegner, Lothar (2020). Mädchen. Muslimisch. Mehr. Lebenswelten anerkennen, Fremdes zulassen. http://www.lag-maedchenpolitik-bw.de/lag/maedchen-arbeit-konkret/empowerment/Bericht-bildung-und-wissenschaft-04-2020.pdf, 04.2020 [Zugriff: 12.09.2020]

 Verkackt – ob mit oder ohne Kopftuch I KARAKAYA TALK (2019). https://www.youtube.com/watch?v=o_fRolD_m5M, 27.11.2019 [Zugriff: 12.09.2020]

Einzelnachweise

  1. In meinem Fallbeispiel, der diesem Beitrag zugrunde liegt, konzentriere ich mich auf das Kopftuch und nicht auf den Niqab, der das Gesicht bis auf die Augenpartie vollständig bedeckt. Der Niqab wirft andere Fragen auf, die sich von den unterschiedlichen Diskursen zum Kopftuch grundlegend unterscheiden. Zurückspringen
  2. Sauerteig, Elke/Wegner, Lothar (2020).: Mädchen. Muslimisch. Mehr. Lebenswelten anerkennen, Fremdes zulassen. http://www.lag-maedchenpolitik-bw.de/lag/maedchen-arbeit-konkret/empowerment/Bericht-bildung-und-wissenschaft-04-2020.pdf, 04.2020 [Zugriff: 12.09.2020]. Zurückspringen
  3. https://relpos.de/forschungsschwerpunkte/teilprojekt-islamische-studien-ii/ Zurückspringen
  4. Verkackt – ob mit oder ohne Kopftuch I KARAKAYA TALK. https://www.youtube.com/watch?v=o_fRolD_m5M, 27.11.2019 [Zugriff: 12.09.2020] Zurückspringen
  5. Dittrich, Monika (2020).: Yasemin El-Menouar: „Muslimfeindlichkeit ist Menschenfeindlichkeit“. In: Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/islam-in-deutschland-muslimfeindlichkeit-ist.886.de.html?dram:article_id=483675, 07.09.2020 [Zugriff: 12.09.2020] Zurückspringen
  6. Karakaşoğlu, Yasemin (2020). Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen. In: Kulaçatan, Meltem/Behr, Harry Harun (Hrsg.) Migration, Religion, Gender und Bildung. Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität, S. 95. Zurückspringen
  7. Begriffe nach Behr, Harry Harun (2020 unveröffentlichtes Manuskript). Migration, Religion, Gender, Bildung. Intersektionale Zusammenhänge von Lebensweltorientierung, Identität, Gesundheit und Integration (Juli 2020). Zurückspringen
  8. Siehe dazu: Religious Literacy Project (2020). What is religious literacy? https://rlp.hds.harvard.edu/our-approach/what-is-religious-literacy [Zugriff: 12.09.2020] Zurückspringen