Welche Rolle spielt Religion in Radikalisierungsprozessen?
Zur Frage nach der Rolle von Religion bietet die Veröffentlichung von Kiefer (2020) einen differenzierten Ansatz. In einem Beitrag für den FNRP-Sammelband Aspekte von Radikalisierungsprozessen unterscheidet er zwischen drei Arten von Akteur*innen in der salafistisch-dschihadistischen Szene. Den ersten Typus beschreibt Kiefer als Konvertit*innen aus religionsfernen oder wenig religiösen Milieus. Unter den Auswander*innen nach Syrien während der Hochphase des Islamischen Staates hatte dieser Personenkreis mit 17 Prozent einen wichtigen Anteil. Das soziale Umfeld der radikalisierten Konvertit*innen zeigte sich häufig überrascht von der Ausreise, da Religion für die betreffenden Personen lange Zeit nicht wichtig gewesen war. Eine Lehrerin sagte über Auswander*innen aus ihrer Klasse: „Bei allen hat es mich gewundert, es war nicht abzusehen. Sie waren sehr normal, sehr weltlich. Keiner zeichnete sich durch Frömmigkeit aus!“ (Lanwert 2014 zitiert nach Kiefer 2020, S. 27).
Der zweite Typus wird von Kiefer als Muslim*innen aus religionsfernen Milieus beschrieben. Die Familien dieses Personenkreises waren zwar muslimisch geprägt, die radikalisierten Personen selbst genossen jedoch keine religiöse Bildung, wie zum Beispiel Koranunterricht in der Moschee. Wenn sich Menschen aus diesem Personenkreis radikalisierten, dann gehörten sie zwar einer salafistischen Gruppierung an, ihr Islamverständnis „war aber eine wilde Collage verschiedener Elemente (darunter u. a. Internetquellen, Mutmaßungen und Gerüchte)“ (Kiefer 2020, S. 28), teilweise besaßen sie selbst keinen Koran. Der dritte von Kiefer beschriebene Typus unterscheidet sich in diesem Punkt von den ersten beiden. Kiefer beschreibt sie als Muslim*innen aus fundamentalisierten oder radikalisierten Milieus. Dieser Personenkreis ist in einem Umfeld sozialisiert, in dem eine vertiefte, affirmative Auseinandersetzung mit islamistischen Ideologien stattgefunden hat. Oftmals haben diese Menschen viele Jahre in Ländern wie Afghanistan, Syrien oder Bosnien gelebt, in denen es eine lange Geschichte kriegerischer und teils religiös begründeter Auseinandersetzung gibt. „Angehörige dieses militanten Milieus treten häufig als ideologisch gefestigte und gut geschulte Kaderpersönlichkeiten in Erscheinung“ (Kiefer 2020, S. 29).
Für Akteur*innen der Islamismusprävention ist die ausgearbeitete Unterscheidung von Bedeutung, weil sie helfen kann, adäquate Strategien im Umgang mit Personen zu finden, die sich radikalisieren oder bereits radikalisiert sind. Bei Personen der ersten beiden Typen (Konvertit*innen und religionsfern sozialisierte Muslim*innen) kann – auch wenn jeder Einzelfall sensibel geprüft werden muss – davon ausgegangen werden, dass der Islam selbst für ihr Weltbild und ihre Radikalisierungsdynamik eine nachrangige Rolle spielt. Hier geht es tendenziell eher um eine identitäre Suchbewegung, die mittels Protest und Provokation ausgelebt wird, selbst wenn sich die Akteur*innen auf den Islam berufen. Statt Religion in diesem Kontext zu vertiefen, scheinen eher sozialpädagogische Angebote ratsam. Das verhält sich beim dritten Typus (Muslim*innen aus radikalisierten Milieus) wiederum anders. Hier kann die islamistische Weltsicht bereits so ausgeprägt sein, dass ein Beratungsprozess schnell an Grenzen stößt, „da der Klient oder die Klientin und sein oder ihr Umfeld keinerlei Gesprächsbereitschaft zeigt“ (Kiefer 2020, S. 31).
Wie religiös ist religiös begründeter Extremismus?
Während Kiefers Ausführungen vor allem die Bedeutung von Religion für Radikalisierungsprozesse betreffen, befassen sich Roth und Srowig mit dem Einfluss von Religiosität. Sie fragen: „Wie religiös ist eigentlich religiös begründeter Extremismus?“ Dafür vergleichen sie die Religiosität junger straffälliger islamistischer Aktivist*innen mit der von nicht straffällig gewordenen muslimischen Jugendlichen. Junge Menschen rücken Roth und Srowig in den Fokus ihrer Teilstudie, da der Übergang zum Erwachsenenalter die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und mit existenziellen Sinnfragen beinhaltet. In dieser Phase können islamistische Angebote, die klare Antworten und Selbsterhöhung versprechen, an Attraktivität gewinnen. Ihre Daten erheben Roth und Srowig mithilfe von Fokusgruppengesprächen mit muslimischen Jugendlichen, der Analyse von Gerichtsakten straffällig gewordener islamistischer Aktivist*innen, problemzentrierter Interviews und der Analyse des WhatsApp-Chats einer salafistischen Gruppe.
Im Ergebnis finden Roth und Srowig Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den straffällig gewordenen Islamist*innen und den „normalen“ muslimischen Jugendlichen in Bezug auf ihre Religiosität. Gemein ist beiden Gruppen, dass ihnen nach eigener Aussage die Aneignung von Wissen über den Islam und die religiöse Praxis wichtig und erstrebenswert sind, da sie aus ihnen gute Muslim*in beziehungsweise bessere Menschen macht. Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen bestehen vor allem darin, wie diese Aneignung stattfindet und welche soziale Funktion sie besitzt. Roth und Srowig stellen dar, dass die islamistischen Jugendlichen in ihrer Studie einen großen Wert auf die Außenwirkung ihrer religiösen Handlungen und Überzeugungen legten. Zum Teil ging es dabei um „gezielte Provokation […] – zum Beispiel durch das Verwenden religiöser Floskeln oder durch das auffällige Tragen religiöser Symbole“ (Roth/Srowig 2020).
Diese Inszenierung als Muslim*innen stand im Kontrast zum theologischen Wissen, das die Jugendlichen tatsächlich besaßen. Oftmals hatten sie nur rudimentäre Arabischkenntnisse und bedienten sich scheinbar willkürlich bei Fatwas, religiösen Schriften und Kommentaren, die sie im Internet fanden. Roth und Srowig nennen es Copy & Paste-Religiosität, Dziri und Kiefer (2018) bezeichnen es als Lego-Islam.
Bei den nicht straffällig gewordenen jungen Muslim*innen hatte die Religiosität vorrangig eine auf das persönliche Innenleben gerichtete Funktion. Ihre religiöse Lebensführung – z. B. die täglichen Gebete, das Fasten im Ramadan, das Tragen eines Kopftuches – beschrieben sie als Anlass zur Selbstreflexion, bei der sie ihre Gedanken und Handlungen im Dialog mit Gott kritisch hinterfragten. Roth und Srowig schreiben: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich bei den straffällig gewordenen jungen Menschen eine starke Orientierung an äußerlichen Verhaltensregeln (halal/haram) herausstellen lässt; dahingegen nutzen die von uns befragten religiösen Jugendlichen ihre religiöse Praxis vielmehr, um ihr Verhalten – auch im Umgang mit ihren Mitmenschen – zu reflektieren.“
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Podcast-Reihe zu Ergebnissen der Studie "Religion als Faktor der Radikalisierung" einklappen
In fünf Podcasts werden das Forschungsprojekt und ausgewählte Ergebnisse der Teilstudien vorgestellt. Klicken Sie hier für die Verlinkung.
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Handreichung für Praxis und Politik einklappen
Eine Handreichung diskutiert Konsequenzen der Ergebnisse für die Präventionsarbeit und für politische Akteur*innen. Auch reflektieren die Autor*innen kritisch über ihre eigene Studienpraxis. Klicken Sie hier für die Verlinkung.
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Sammelband "Aspekte von Radikalisierungsprozessen" einklappen
In sieben Artikeln werden Typologien, Fallanalysen sowie Vergleichsstudien vorgestellt. Das thematische Spektrum ist breit: z. B. Medienanalysen, Darstellung innermuslimischer Kontroversen oder Deradikalisierungsarbeit im Gefängnis. Klicken Sie hier für die Verlinkung.
Was lässt sich mitnehmen?
Wissenschaftliche Studien helfen, Problemstellungen differenziert zu betrachten. Sie machen es einem aber dadurch nicht leichter, wichtige Fragen wie „Welche Bedeutung hat Religion für Radikalisierungsprozesse?“ zu beantworten. Auf Basis der dargestellten Ergebnisse lautet die einfachste Antwort vielleicht: Die Bedeutung kann verschieden sein. Sie hängt zum einen davon ab, welche Rolle Religion für die sich radikalisierenden Individuen spielt und zum anderen, welche Rolle Religion in ihrem sozialen Umfeld einnahm bzw. einnimmt. Kiefer hat dafür eine hilfreiche Typologie vorgestellt, die sicherlich noch weiter differenziert werden kann und wird. Roth und Srowig konnten überdies zeigen, dass die von ihnen untersuchten islamistischen Akteur*innen eine besondere Religiosität aufwiesen. Viele weitere Beiträge der Studie konnten hier nicht erwähnt werden, beispielsweise zu Telegram und WhatsApp als Vehikel der Radikalisierung (Wagner 2020) oder Deradikalisierungsarbeit im Gefängnis (Er/Sponick 2020). Diese finden Sie über die angegebenen Verlinkungen.
veröffentlicht am 08.12.2020
Literaturverzeichnis
Dziri, Bacem/Kiefer, Michael 2018. „Baqiyya im Lego-Islam“ – Anmerkungen zu den WhatsApp-Protokollen der „Ansaar Al Khilifat Al Islamiyya“ aus einer islamwissenschaftlichen Perspektive. In: Kiefer, Michael/Hüttermann, Jörg/Dziri, Bacem/Ceylan, Rauf/Roth, Viktoria/Srowig, Fabian/Zick, Andreas. „Lasset uns in scha’a Allah ein Plan machen.“ Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe. Springer VS: Wiesbaden, S. 23-57.
Er, Samet/Sponick, Sören 2020. FNRP-Podcast Folge 4: Radikalisierungsprävention in der JVA. Online verfügbar unter: https://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/hintergrundseiten/handlungsempfehlungen_und_podcast_religion_als_faktor_der_radikalisierung.html
Kiefer, Michael 2020. Religion in der Radikalisierung. In: Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention (Hg.). Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte Studien. Osnabrück, S. 15-34. Online verfügbar unter: https://repositorium.ub.uni-osnabrueck.de/bitstream/urn:nbn:de:gbv:700-202001092485/8/FNRP_Radikalisierung_und_Pr%C3%A4vention_2020.pdf [Zugriff: 07.12.2020]
Roth, Viktoria/Srowig, Fabian 2020. FNRP-Podcast Folge 3: Perspektiven aus der Sozialisationsforschung. Online verfügbar unter: https://www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de/hintergrundseiten/handlungsempfehlungen_und_podcast_religion_als_faktor_der_radikalisierung.html [Zugriff: 07.12.2020]
Wagner, Kathrin 2020. Telegram und WhatsApp als Vehikel der Radikalisierung. Eine Darstellung der Daten aus den Telegram- und WhatsApp-Protokollen. In: Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention (Hg.). Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte Studien. Osnabrück, S. 35-65. Online verfügbar unter: https://repositorium.ub.uni-osnabrueck.de/bitstream/urn:nbn:de:gbv:700-202001092485/8/FNRP_Radikalisierung_und_Pr%c3%a4vention_2020.pdf [07.12.2020]