Herr Häberle, Sie sind der Herausgeber des Buches „Islam – Meinungsfreiheit – Internet“, in dem rechtliche Aspekte im Verhältnis von Religions-, Meinungs- und Medienfreiheit verhandelt werden. Der Umgangston im Netz ist harsch, immer häufiger ist von „kommunikativer Verrohung“ in unserer Gesellschaft die Rede. Inwiefern stellt die Meinungsvielfalt im Internet die Demokratie und ihre Funktionsbedingungen vor eine besondere Herausforderung?
Die „kommunikative Verrohung“, von der Sie zu Recht sprechen, ist sehr stark auch auf strukturelle Ursachen im Internet zurückzuführen, denn Kommunikation im Netz unterscheidet sich oft von der persönlichen: Man sieht das Gegenüber nicht, nimmt nicht wahr, wie sie oder er auf Äußerungen reagiert, bemerkt oft ihr oder sein Verletzt-werden auch nicht. Man kommuniziert in den Äther hinein, nicht mit einem Menschen. Man kommuniziert meist anonym oder pseudonym und meint, „mir kann keener!“ – das fördert Verantwortlichkeit leider gar nicht.
Darüber hinaus wiegen Verletzungen der Ehre, um die es sich bei solcher Verrohung zumeist auch handelt, im Internet deshalb schwerer als außerhalb des Netzes, weil sie sofort in aller Welt abrufbar sind und sich später nie mehr ganz wieder „einfangen“ lassen.
Zudem gibt es das Phänomen der Echo-Kammern und Filterblasen. Durch die Personalisierung des Suchalgorithmus bei Google, Facebook u.a. bekommt man (fast) nur Nachrichten aus einer Richtung, die man selbst für wichtig und richtig erachtet. Bei Werbung ist das ja gewünscht – wenn ich mich für Hardrock interessiere, möchte ich nicht mit Soft-Pop beworben werden –, aber bei Nachrichten halte ich das für sehr problematisch. Ein Beispiel: Auf einer mehrtägigen Bustour hörte ich einen aus der Reisegruppe öfter erzählen, welch schreckliche Taten „die“ Muslime hier und dort in der Welt wieder angerichtet hätten. Irgendwann stellte ich ihn zur Rede: „Es mag ja sein, dass alles stimmt, was Ihnen da aus aller Welt zusammengetragen wird, aber behaupten Sie bitte nicht, das sei die ganze Wahrheit – das sind bestenfalls 2% der Wahrheit, falls das, was Ihnen berichtet wurde, auch stimmt! Sie leben in einer ‚Echo-Kammer‘, bekommen nur eingespielt, was Ihnen und Ihresgleichen in Ihr eigenes, allzu enges Weltbild passt, das so nur noch enger wird. Zudem fühlt man sich unter Gleichgesinnten ja so wohl – das befördert Radikalisierung!“ Da fest davon auszugehen ist, dass auf der Gegenseite Ähnliches passiert, dürfte klar werden, wie schlecht das für die demokratisch gesinnte Mitte der Gesellschaft ist.
In RISE beschäftigt uns die Frage, wie viel Kontroversität die Meinungsfreiheit aushalten muss. Wo sind aus rechtlicher Perspektive die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten und wo ist bereits ein Straftatbestand erreicht?
Die von Art. 5 GG geschützte Meinungsfreiheit soll individualrechtlich kommunikative Selbstentfaltung ermöglichen und ist für einen vitalen demokratischen Willensbildungsprozess unverzichtbar:
Demokratie braucht die Möglichkeit öffentlicher Meinung – und zwar ohne Qualitätsprüfung durch den ohnehin politisch auf Neutralität verpflichteten Staat –, und dazu gehören nicht nur kritische und provozierende, sondern auch alberne, dümmliche und sogar bösartige Meinungsäußerungen.
Demokratie braucht die Möglichkeit öffentlicher Meinung – und zwar ohne Qualitätsprüfung durch den ohnehin politisch auf Neutralität verpflichteten Staat.
Zugespitzt: Jeder darf sich selbst so gut blamieren, wie er kann. Dabei darf ihm kein Staatsorgan „über den Mund fahren“. Das Bundesverfassungsgericht rechnet selbst die „Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“ mit den Mitteln des geistigen Meinungskampfes dem von Art. 5 GG geschützten Bereich zu, aber halt nur die geistige Auseinandersetzung, also den in Gewaltfreiheit stattfindenden Diskurs.
Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist mithin sehr großzügig bemessen, unbegrenzt jedoch ist er nicht. Deshalb ist jeder auch gut beraten, seine Meinungsfreiheit kopfgesteuert wahrzunehmen, allein schon, um nicht mit dem Staat aneinander zu geraten. Wo sind verfassungsrechtlich Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten, wo hat der Staat „rote Linien“ gezogen?
a) Verboten ist es, zu Straftaten anzuleiten oder aufzufordern (§ 130a StGB).
b) Gleiches gilt für Volksverhetzung (§ 130 StGB): Man darf den öffentlichen Frieden nicht stören, indem man „gegen eine nationale, rassische [1], religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe“ oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen oder gegen Teile der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert, oder indem man die Menschenwürde einer Person aus diesen Gruppen durch Beschimpfung, böswillige Verächtlichmachung oder Verleumdung angreift. Dabei ist mit dem „öffentlichen Frieden“ nicht die Vergiftung des „gesellschaftlichen Klimas“ gemeint – das wäre rechtlich nicht fassbar –, sondern das Grenzgebiet hin zur Gewalttätigkeit – es geht um die Aufrechterhaltung des friedlichen Miteinanders, eine der Früchte von Toleranz zwischen den Bürgern und Bürgerinnen.
c) Verboten ist auch Schmähkritik: Sie liegt dann vor, wenn bei einer Äußerung statt einer Auseinandersetzung in der Sache eine Diffamierung der Person, also die persönliche Kränkung, im Vordergrund steht.
d) In den § 185–187 StGB sind die Verbote von Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung normiert, die auch in unseren Kontext gehören.
e) Auch Hate Speech und die bewusste Verbreitung von Unwahrheit wären noch zu erwähnen.
Ist alles, was nicht strafbar ist, erlaubt?
Vorab, das Leben sollte in erster Linie durch umfassende Bildung (frühkindliches Lernen eingeschlossen) die nötige Struktur bekommen, nicht durch das Recht und schon gar nicht durch das Strafrecht. Das Strafrecht stellt die letzte Möglichkeit staatlichen Rechtsgüterschutzes dar, wenn es um das Ausziehen „roter Linien“ geht, deren Überschreiten das Zusammenleben sehr erschweren oder gar unmöglich machen würde.
Von guter Bildung hängt Entscheidendes ab – deshalb ist das, was Sie hier im Projekt tun, wichtig. Wenn man Jugendliche dazu bringt darüber nachzudenken, dass und warum andere Menschen anders reden und handeln, und wenn sie diese Andersartigkeit zumindest tolerieren, möglichst sogar respektieren lernen, ist schon viel gewonnen. Im Christentum gibt es die sogenannte „Goldene Regel“, die besagt: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Matthäus 7,12). Ähnliche Gedanken finden sich in anderen Religionen (im Judentum, auch im Islam) sowie auch, säkular gewendet, in dem Prinzip der Reziprozität, indem jemand beispielsweise den Standpunkt eines anderen einnimmt. Was wir in Anspruch nehmen, müssen wir anderen ebenso zugestehen bzw. zukommen lassen. Das klingt einfach, ist es aber nicht.
Meist gibt es eine größere Grauzone zwischen dem, was erlaubt ist, und dem, wo die „rote Linie“ des Strafbaren überschritten wird. Weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft wäre es gut, sich sehr viel in dieser Grauzone aufzuhalten. Man findet das, was dort vertreten wird, nicht gut, aber auch noch nicht so unvertretbar, als dass es bekämpft werden müsste. Moralischer Fortschritt bestünde darin, sich aus dieser Grauzone herauszubewegen in eine „Gut-Zone“, also in vielen Fällen und Bereichen wirklich gut zu handeln.
Mit RISE möchten wir Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften erklären, was Artikel 5 GG für ihre Partizipation im Internet und ein demokratisches Zusammenleben bedeutet. Welche Äußerungen sind durch die Meinungsfreiheit geschützt und wie verhält sich das zu Fake News, Hate Speech, bewussten Desinformationen und Verschwörungsideologien?
Art. 5 GG wünscht geradezu eine klare Auseinandersetzung in der Sache, sogar eine polemische, aber keine persönliche Herabwürdigung, keine Diffamierung des Andersdenkenden.
Zu Fake News, bewusster Desinformation und auch Verschwörungsideologien: Das Bundesverfassungsgericht verwehrt der erwiesen unwahren Tatsachenbehauptung den Schutz von Art. 5 GG. Damit laufen diese Phänomene in der Abwägung mit anderen Rechtsgütern, der persönlichen Ehre etwa, leer: Dann setzt sich immer die persönliche Ehre durch.
Hate Speech stellt ein sehr wahrnehmbares Problem dar: 2018 wurden in Deutschland bei Facebook, Twitter und YouTube insgesamt 990.000 Beschwerden gemeldet, von denen 165.000 stattgegeben und die entsprechenden Beiträge dann gelöscht oder gesperrt wurden … Ob immer zu Recht, ist eine andere Frage. Hate Speech dürfte oft unter Schmähkritik zu subsumieren sein; entscheidend ist dabei wie so oft der Kontext im Einzelfall.
Im Netz begegnet uns häufig das Narrativ der eingeschränkten Meinungsfreiheit und Zensur. Das Narrativ dominiert Debatten um den Islam in Deutschland, den Umgang mit Flucht und Einwanderung, aber auch Maßnahmen der Regierung während der Pandemie: Nichts könne man mehr sagen oder kritisieren. Was kann ich Leuten entgegnen, die behaupten, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland eingeschränkt sei?
Wenn sie ernsthaft eingeschränkt wäre, könnte sich keiner mehr darüber beschweren, ohne Gefahr zu laufen, bald weggesperrt zu werden. Belarus lässt grüßen. Aber hier ist das bisher nicht so. Meinungsfreiheit als Grundrecht ist zuerst einmal ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat – dieser stellt meiner Wahrnehmung nach aber nicht das Hauptproblem dar. Ein solches gibt es aber, exzellent beschrieben von Bernhard Schlink in der FAZ vom 01.08.2019: Der mediale Mainstream in den klassischen Medien bezüglich Gesellschaftspolitik ist ausgeprägter und verengter als früher, die Schere im Kopf ist wirksam. Was von den mächtigen Medien als nicht dazugehörig angesehen wird, fällt zu oft unter eine Art Zensur. Das zieht für den Betroffenen soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung nach sich, auch den Verlust von Aufstiegschancen. Das ist schlimm, allein rechtlich, aber nicht in den Griff zu bekommen. Hier gilt es, auf vielen Ebenen Überzeugungsarbeit zu leisten. Social Media können dazu einen guten Beitrag leisten und manchen eine Stimme verleihen, wenn sie maßvoll sind und Diskussionen versachlichen.
Um Hasskriminalität und anderen strafrechtlichen Inhalten in den sozialen Medien gesetzlich entgegenzuwirken, trat 2017 das Netzwerkdurchsetzungsgesetzt in Kraft. Das NetzDG fordert private Unternehmen wie Facebook & Co. dazu auf, „offensichtlich strafbare Inhalte“ von ihren Plattformen zu löschen. Plattformbetreiber werden somit zu Richtern, Geschworenen und Vollstreckern. Inwiefern sehen Sie es als problematisch an, dass Privatunternehmen diese Abwägungsprozesse vornehmen? Ist das nicht Aufgabe des Staates?
Sollten wir nicht erst einmal froh sein, wenn Privatunternehmen Verantwortung übernehmen für das, was auf ihren Plattformen passiert? Einige haben in ihren AGBs oder in einer „Netiquette“ festgelegt, was ihre User und Userinnen dürfen und was nicht. Und sie kontrollieren das mit viel Personal, was bei ihnen erhebliche Kosten verursacht. Aber auch dann ist der Staat nicht „außen vor“, zumal die „roten Linien“ des Staates manchmal weiter, aber manchmal auch enger sind als die eines Unternehmens – letztlich muss die staatliche Vorgabe gelten. Also keine Sorge: Der Staat ersetzt sich nicht selbst, sondern lässt sich durch die Privaten helfen, wofür er u.a. mit dem NetzDG Regelungen aufgestellt hat. Gleichwohl muss er durch Staatsanwaltschaften und Gerichte immer noch häufig tätig werden. Das ist zu einem großen und personalintensiven Feld geworden.
Wer trägt jenseits der Gesetzeslage Mitverantwortung für die Meinungs- und Debattenkultur im Netz? In welcher Verantwortung sehen Sie den Bildungssektor?
Wichtig ist der von Ihnen angesprochene Bildungssektor, auch wenn dessen Wirkungen erst mittel- bis langfristig spürbar werden. Denn durch Bildung werden grundlegende Weichenstellungen vorgenommen: Wie geht ein junger Mensch mit anderen Menschen um? Vor allem mit denen, die etwa aufgrund Migrationshintergrund oder Religion in manchen Themen anders denken und sich anders äußern? Je früher man lernt, den anderen trotz aller Unterschiede als Menschen zu respektieren und die eigene Ansicht nicht unerbittlich durchzusetzen, sondern auch andere Meinungen und Verhaltensweisen gelten zu lassen, desto besser ist das. Und gewonnen hat jede Pädagogik dann, wenn Jugendliche mit dem guten „Vorurteil“ herumlaufen, dass der andere etwas sagen könnte, das zu hören wirklich lohnt, das ihn bereichert.
veröffentlicht am 01.06.2021
Einzelnachweise
- Kaum eine andere Begrifflichkeit des Grundgesetzes sorgt für so viel Kritik wie der Begriff „Rasse“. So ist die Verwendung des Begriffs bezogen auf Menschen in vielerlei Hinsicht äußerst problematisch: einerseits, weil seit Langem wissenschaftlicher Konsens darüber besteht, dass es keine Rassen im biologischen Sinne gibt, andererseits, weil die Erfindung und Etablierung des Rassenkonzepts mit der Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Millionen von Menschen einherging. Der dem Rassenkonzept zugrunde liegende Prozess wird als Rassifizierung bezeichnet. Hierbei werden Menschen auf der Grundlage einer Reihe ausgewählter Merkmale wie Hautfarbe, Sprache oder Religion homogenisiert und hierarchisiert. Darüber hinaus ist der Rassenbegriff in Deutschland vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenideologie historisch extrem belastet. Trotz dieser Belastung taucht der Begriff immer noch in zahlreichen Gesetzestexten wie im Artikel 3 des Grundgesetzes auf. Im Sommer 2020 erhoben sich im Zuge der Rassismusdebatte in Deutschland viele Stimmen gegen die Verwendung des Begriffs im Grundgesetz. Im November 2020 beschloss die Bundesregierung die Streichung des Begriffs aus dem Grundgesetz, wobei eine Einigung über einen Ersatzbegriff noch aussteht. (Anm.d.Red.)