Die Zahl der Menschen, die sich weltweit vor den Folgen von Kriegen, Klimawandel und Diskriminierungen auf der Flucht befinden, steigt kontinuierlich. Die Staaten Europas sorgen gemeinsam dafür, dass flüchtende Menschen aus dem globalen Süden nicht nach Europa gelangen und nehmen Ertrinkende im Mittelmeer nicht nur in Kauf, sondern sie verhindern auch die Rettung dieser ertrinkenden Menschen durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs). In Deutschland werden Menschen von Rechtsextremen ermordet und der Staat hält bei der Aufklärung der Morde immer wieder Informationen zurück. Es gibt Übergriffe auf Geflüchtete, auf Einrichtungen, die sich solidarisch mit Geflüchteten erklären und auf Menschen, die nicht der Dominanzgesellschaft angehören. Eine offen rassistische und nationalistische Partei zieht in die Parlamente der gesamten Republik ein und hetzt gegen diejenigen, die nicht der von ihr propagierten Norm entsprechen. Migrant*innen werden öffentlich von politischen Entscheidungsträger*innen und Medien zum großen gesellschaftlichen Problem und zur Gefahr für das Land und den Kontinent dargestellt.
Junge Menschen bestreiken den Schulunterricht, gehen wöchentlich zu Tausenden auf die Straße und fordern eine politische und wirtschaftliche Kehrtwende, um den Klimawandel zu stoppen. Ein junger Youtuber erklärt in 55 Minuten globale Zusammenhänge und entlarvt Politiker*innen der sogenannten großen Volksparteien hinsichtlich ihrer sachlichen Defizite und ihrer Verantwortung für aktuelle Krisen weltweit. Eine vermeintliche Folge sind hohe Stimmenverluste für diese Parteien bei der anschließenden Europawahl, bei der die Grünen zu den großen Gewinner*innen werden.
Während ein Teil der Gesellschaft einer rechten und nationalistischen Ideologie zu folgen scheint, fordert ein anderer Teil der Gesellschaft ein globales, ökologisches und ökonomisches Umdenken. In diesem Spannungsfeld kann und muss politische Bildung handeln. Dieses Handeln darf sich aber nicht – wie teils gefordert – auf die Radikalisierungsprävention beschränken. Das Problem liegt nicht nur am Einzug einer rechtsextremen Partei in die deutschen Parlamente, sondern vor allem daran, dass Rassismus und weitere gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert oder zumindest toleriert werden.
Zusammenhänge aufzeigen, Strukturen kritisch hinterfragen
Eine solidarische und kritische politische Bildung, die darauf abzielt, junge Menschen zu reflektierten, eigenständig handelnden
Menschen zu empowern, muss mit ihren Inhalten und Formaten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen fundierte Meinungen und Positionen entwickeln können. Dafür braucht es Wissen und Sensibilität über und für historische und aktuelle gesellschaftliche und politische Prozesse und Entscheidungen. Es braucht historische und aktuelle Kenntnisse über lokale und globale Strukturen und Machtverhältnisse und es braucht die unterschiedlichen Perspektiven und Positionen der an den Prozessen Beteiligten, damit nicht nur auf Narrativen der eigenen Perspektiven Positionen entwickelt werden.
Globales Lernen in der politischen Bildung
Unser Leben wird immer globaler: der Kaffee kommt aus Nicaragua, der Fußball stammt aus Pakistan und die Jeans hat Tausende von Kilometern zurückgelegt, um endlich so preiswert wie möglich über unsere Ladentheke zu gehen. Globalisierung betrifft junge und alte Menschen auf der ganzen Welt. Neben dem Genuss einer neuen Vielfalt, hängen aber auch Phänomene wie Armut, weltweite soziale Ungerechtigkeit, Flucht und/oder Klimawandel mit ihr zusammen.
Globales Lernen kann dazu verhelfen, sich ausgehend vom eigenen Leben mit globalen Zusammenhängen auseinanderzusetzen und das vernetzte Denken zu fördern. Die Komplexität der globalisierten Welt und die Herausforderungen, die sie mit sich bringt, kann Orientierungslosigkeit und Überforderung auslösen. Mit ausgewählten Methoden können notwendige Kenntnisse und Kompetenzen ausgebildet werden, um einzelne Themen zu entwirren und diese in globalen Zusammenhängen zu betrachten.
Das Leben im globalen Norden mit den alltäglichen Prozessen und zu treffenden Entscheidungen hat globale Auswirkungen, die für eine reflektierte Meinungs- und Positionsfindung von Bedeutung sein müssen. Welche Konsequenzen zum Beispiel das Konsumverhalten der Menschen im globalen Norden auf das Leben der Menschen im globalen Süden hat und welche Zusammenhänge zwischen den Privilegien der Menschen im globalen Norden und Fluchtursachen der Menschen des globalen Südens existieren, kann und muss Bestandteil politischer Bildung sein. Eine non-formale politische Bildung muss in kreativen und jugendspezifischen Formaten ökonomische und ökologische Prozesse und Zusammenhänge aufzeigen. Globale Machtstrukturen dürfen dabei ebenso wenig außer Acht gelassen werden wie aus diesen resultierende Abhängigkeiten. Dieses Wissen und die Auseinandersetzung mit den Folgen, die sich daraus für Menschen des globalen Südens ergeben, sind von größter Wichtigkeit, um sich über globalpolitische und nationale politische Entscheidungen eine fundierte Meinung zu bilden, die auf den Perspektiven unterschiedlich betroffener Menschen beruht.
Diskriminierungssensibel agieren
Diskriminierende Strukturen, Sprache und Handlungen müssen Themen einer politischen Bildung sein, die sich für Solidarität, Gerechtigkeit und Vielfalt einsetzt. Um nicht in die Falle der Zuschreibungen auf Basis äußerer Merkmale zu tappen und Menschen wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, ihrer sexuellen Identität oder anderen Merkmalen in eine von außen homogenisierte Gruppe zu stecken, muss politische Bildung sich kritisch mit derartigen Zuschreibungen auseinandersetzen. Politische Bildung muss die Funktionen solcher Zuschreibungen aufzeigen, sie muss kenntlich machen, wem diese Zuschreibungen nutzen und wer unter ihnen leidet. Sie muss diesbezüglich konsequent solidarisch mit denjenigen sein, die unter diesen Vorurteilen und Zuschreibungen leiden. Dafür wird sie sich immer wieder positionieren müssen, sie wird auf diskriminierende und ausgrenzende Sprache hinweisen, strukturelle Ungerechtigkeiten aufzeigen und gesellschaftliche Normen der Dominanzgesellschaft in Frage stellen. Der Vorwurf vermeintlicher Sprech- und Denkverbote sowie die Missachtung des Beutelsbacher Konsens sind gängige Vorwürfe Andersdenkender gegenüber einer solchen kritischen politischen Bildung. Es geht aber weder um eine Überwältigung der Teilnehmenden, noch um Verbote, es geht um eine politische Bildung auf Basis des Grundgesetzes und der Menschenrechte – und zwar für alle Menschen.
Zuhören, ernstnehmen, empowern
In einer Demokratie, in der Diversity und Inklusion Basisbestandteile der Gesellschaft sein sollen, müssen alle Menschen die Möglichkeit haben, diese aktiv mitzugestalten. Für diese Gestaltungsmöglichkeiten müssen die unterschiedlichen Perspektiven und Positionen wahr- und ernstgenommen werden. Politische Bildung muss Räume und Formate schaffen, in denen junge Menschen die Gelegenheit bekommen, Meinungen, Bilder, Fragen und Haltungen auszudrücken und mit anderen in Diskussionen darüber zu treten. Dafür braucht es oftmals neue, geschützte Räume und Strukturen, in denen insbesondere negativ von Diskriminierung betroffene junge Menschen die Möglichkeit haben, ihre Positionen und Perspektiven auf Augenhöhe einzubringen, ohne dass sie von anderen diskriminiert werden. Eine diese Prozesse unterstützende politische Bildung muss solche Strukturen und Formate mit entsprechenden fachlichen Ressourcen zur Verfügung stellen. Diskriminierungserfahrungen dürfen nicht relativiert oder bagatellisiert werden, sondern müssen Grundlage für Prozesse sein, die diskriminierende gesellschaftliche Strukturen entlarven und somit zur Basis einer demokratischen und fairen Gesellschaft werden. Wenn es gelingt, diskriminierungsfreie – oder zumindest diskriminierungsarme Räume zu schaffen, in denen negativ von Diskriminierung Betroffene Solidarität erfahren und in denen ihre Erfahrungen und Positionen ernstgenommen werden, kann wirkliche Demokratie und Partizipation beginnen. Solche Prozesse brauchen entsprechende Begleitung und Moderation durch vielfältige, der Heterogenität der Gesellschaft entsprechende politische Bildner*innen, die sich in diese Prozesse mit Neugier, Empathie und einer fundierten methodischen und inhaltlichen Expertise einbringen.
Schluss mit den vielen Gesellschaften
Die zahlreichen Begriffe, mit denen Sozialwissenschaftler*innen und Politiker*innen die aktuelle Gesellschaft zu beschreiben versuchen, mag für die Beschreibung und zur Analyse des Ist-Zustandes zwar
von Bedeutung sein, sie reproduziert damit aber auch zumeist die Konstruktion gesellschaftlicher Gruppen auf Basis äußerer Merkmale. Eine diverse und inklusive politische Bildung muss versuchen, diese Kategorisierungen zu verlernen. Wenn wir unsere Gesellschaft immer wieder mit neuen Adjektiven versehen – sei es, um die Vielfalt in ihr darzustellen oder ganz Sarrazin-like diejenigen in parallele Gesellschaften zu stecken, die nicht zur eigentlichen Gesellschaft gehören sollen – markieren wir immer wieder diejenigen als die anderen.
Alle Menschen, die hier leben, sind Teil dieser unserer Gesellschaft! Eine emanzipatorische politische Bildung muss solche Gruppen und die damit zumeist einhergehenden Zuschreibungen dekonstruieren und die Einteilung und Benennung von Identitäten in ihrer existierenden Form in Frage stellen. Es muss Aufgabe von politischer Bildung sein, junge Menschen zu empowern, selbst über die eigene Identität zu entscheiden jenseits vermeintlich gesellschaftlich gewünschter Kategorien und Fremdzuschreibungen.
Strukturelle Ungerechtigkeiten, Sexismen und Rassismen sind Bestandteile dieser gesellschaftlichen Normierungen, die oftmals durch politische Entscheidungen, Gesetze und gesellschaftliche Strukturen manifestiert – und als unantastbare Basis eines vermeintlich demokratischen Zusammenlebens dargestellt werden. Es ist Aufgabe politischer Bildung, sich im Sinne einer menschenrechtskonformen Bildung zu positionieren, wenn diese Mechanismen bestehende Ungerechtigkeiten und Machtstrukturen manifestieren, die klar auf Kosten derer gehen, die nicht der Dominanzgesellschaft angehören, globale Ungerechtigkeiten aufrechterhalten und/oder Fluchtursachen generieren.
veröffentlicht am 27.07.2021
Wir danken der Jugendbildungsstätte Kaubstraße und politischbilden.de für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Textes. Die Berliner Jugendbildungsstätte Kaubstraße bietet für junge Menschen Seminare zu verschiedenen Themen der politischen Bildung an. Angeboten werden unter anderem Kurse zu den Themen Diversity, Feindlichkeit gegen Sinti und Roma und Methoden zur Förderung sozialer Kompetenzen. Hier geht es zu weiteren Informationen zu der JBS!