Doch gleichzeitig liegt gerade in der Unterteilung zwischen Migrant*innen und Ostdeutschen als Grundprämisse der Studie die Krux und ein weit verbreitetes Vorurteil: Spricht man über Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs, spricht man automatisch von ausschließlich weißen Menschen. Selbst wenn es um Themen wie Rechtsextremismus und rassistische Gewalt in Ostdeutschland geht, kommen nur selten jene zu Wort, die „im Osten“ von Rassismus direkt betroffen sind. Spricht man auf der anderen Seite in Deutschland von Migrant*innnen, redet man fast ausschließlich von der Migrationsgeschichte der alten BRD und der westdeutschen Bundesländer. Es scheint fast so, als gäbe es keine Migrationsgeschichten in der DDR und damit auch keine nicht-weißen Ostdeutschen. Eine Minderheit in der Minderheit könnte man Ostdeutsche of Color bzw. Ostdeutsche mit Migrationsgeschichte also nennen. Sie sind doppelt marginalisiert und damit doppelt unsichtbar im öffentlichen Diskurs: unsichtbar als Migrant*innen, unsichtbar als Ostdeutsche und in der Intersektion aus beiden offiziell quasi nicht existent.

Abb. 2: Ostdeutsche of Color sind im öffentlichen Diskurs doppelt unsichtbar Quelle

Ostdeutsche Migrationsgeschichte(n)

Und doch gibt es sie, Ostdeutsche of Color bzw. mit  Migrationshintergrund . Denn auch die DDR hatte eine komplexe und kontinuierliche Migrationsgeschichte. Mit dem Wiederaufbau des Landes kamen nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem sogenannte Vertragsarbeiter*innen in die DDR. Sie machten etwa die Hälfte der Migrant*innen aus und kamen über bilaterale Verträge und meist temporär in die DDR. In den 1960er-Jahren wurden die meisten Vertragsarbeiter*innen aus Polen und Ungarn angeworben. In den 1970er-Jahren kamen Vertragsarbeiter*innen vorwiegend aus Kuba und Algerien und in den 1980er-Jahren aus Mosambik, Angola und Vietnam. Aber auch aus China, der Mongolei, Äthiopien und der Tschechoslowakei, dem Jemen und vielen anderen Staaten warb die DDR Arbeitskräfte an. Die zweitgrößte Gruppe der Migrant*innen waren internationale Studierende sowohl aus sozialistisch geprägten Ländern, den sogenannten Bruderländern, als auch nicht-sozialistischen Staaten. Die dritte große Gruppe an Migrant*innen machten sogenannte politische Emigrant*innen aus, politische Geflüchtete, die einen relativ hohen Status in der DDR besaßen. Vor allem aus dem unter Pinochet regierten Chile und dem durch Apartheid geprägten Südafrika fanden Menschen in der DDR Zuflucht. Aber auch Künstler*innen und Intellektuelle zog es in die DDR, wie zum Beispiel den Schwarzen New Yorker Musiker Paul Robeson, die Feministin und Pan-Afrikanistin Eslanda Robeson, den jüdischen Intellektuellen Franz Loeser und den in der DDR verehrten serbischen Schauspieler Goyko Mitić. Insgesamt machten Migrant*innen 1989, im letzten Jahr der DDR, etwa 1% der Bevölkerung aus, weitaus weniger als zur gleichen Zeit in der alten BRD, in der der Anteil bei etwa 8% lag.

Unmittelbar nach dem Mauerfall verkleinerte sich die Zahl enorm. Viele Migrant*innen, vor allem Vertragsarbeiter*innen, verloren ihren Bleibestatus und mussten die DDR bzw. die jung wiedervereinigte Bundesrepublik verlassen. Die Verbliebenen hatten potenziell noch schwerer als ihre weißen Mitbürger*innen mit der Massenarbeitslosigkeit, dem Statusverlust und der Perspektivlosigkeit der Wendejahre zu kämpfen. Zudem wurden sie zur direkten Zielscheibe der zunehmenden rechtsextremen Gewalt, die in vielen ostdeutschen Regionen in den 1990er- und 2000er-Jahren dominierte[1]. Viele Ostdeutsche of Color bzw. Ostdeutsche mit Migrationsgeschichte waren gezwungen, „den Osten“ oder gar gänzlich die Bundesrepublik zu verlassen. Andere fielen der teilweise sogar tödlichen rassistischen Gewalt zum Opfer, sodass der Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte im Osten noch geringer wurde. Diejenigen, die blieben, versuchten häufig, sich so unsichtbar wie möglich in der Mehrheitsgesellschaft zu bewegen, um ihr Leben zu bestreiten bzw. ihr Überleben zu sichern. Diese Nachwende-Entwicklungen haben scheinbar bis heute den Eindruck verstärkt, dass der Osten eine rein weiße Gesellschaft sei und keine Migrationsgeschichte besitze.

Abb. 3: Auch in Ostdeutschland gibt und gab es eine kontinuierliche Migrationsgeschichte Quelle

Im Laufe der letzten 30 Jahre wuchs jedoch der Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte in den ostdeutschen Bundesländern stetig an, wenn auch zögerlicher als in den westdeutschen. Eine gesamtdeutsche Zäsur war der „Sommer der Migration“[2] 2015, seit dem verstärkt Menschen mit Fluchtgeschichte, zum Beispiel aus Syrien, Zuflucht in Ost- und Westdeutschland suchen. Aber auch darüber hinaus steigt die Zahl der Migrant*innen im global vernetzten Deutschland. So wurden im Jahr 2019 für Westdeutschland rund 29,1% und in Ostdeutschland rund 8,2% Migrant*innen gezählt.

Aber auch wenn Menschen mit  Migrationshintergrund heute nur knapp 10% der Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern ausmachen, sind sie keine passive Gruppe von Menschen ohne Geschichte. Sie sind Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart, wenn auch ein blinder Fleck der Geschichtsschreibung und kaum wahrnehmbar in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen. Ihre Unsichtbarkeit ist ein Effekt der eingangs beschriebenen doppelten Marginalisierung. So wird oft übersehen, dass sie ein ganz normaler Teil (auch) der (ost-)deutschen Kultur und Gesellschaft sind, selbst wenn sie im gesellschaftlichen Selbstbild so gut wie keine Rolle spielen. Ostdeutsche of Color haben durch ihre zumeist unterbezahlte Arbeit, in der sie ausgebeutet wurden, das Land maßgeblich mit aufgebaut. Ihre Expertise könnte in den regelmäßigen und wenig zielführenden öffentlichen Debatten um Rassismus im Osten und die hohen Wahlergebnisse rechter Parteien in Ostdeutschland erhellend sein – sie kommen jedoch bisher kaum zu Wort.

Rassismus-Pingpong und der „Braune Osten“

Stattdessen dominieren oftmals die gleichen Diskurse zu Rechtsextremismus in Ostdeutschland die mediale Öffentlichkeit. Darin kam ein Sprechen über Rassismus lange Zeit kaum vor und wird bis heute meist mit Rechtsextremismus gleichgesetzt. Letzterer wiederum wird häufig als reines Ostproblem markiert. Debatten um Rassismus hatten damit lange Zeit den Tenor: „Wir in Deutschland haben kein Problem mit Rassismus. Wir haben zwar Rassist*innen, aber die wohnen vor allem in Ostdeutschland.“ In diesem Mindset wird „der Osten“ als das Andere behandelt. Ostdeutschland ist zwar Deutschland, aber nicht das vermeintlich normale, selbstverständliche und damit richtige Deutschland. Lange fungierte „der Osten“ eher als Blackbox im öffentlichen Diskurs, als Projektionsfläche für unliebsame Eigenschaften, die man vom richtigen Deutschland, also Westdeutschland, wegschieben konnte. Das spiegelt sich in Bezug auf Themen wie Rassismus und Rechtsextremismus beispielsweise in Begriffen wie „Dunkeldeutschland“ und „der Braune Osten“ wider.

Da ostdeutsche Diskurse gleichzeitig lange Zeit kaum eine signifikante Rolle in der deutschen Öffentlichkeit spielten, konnte durch die Markierung von Rechtsextremismus als Ostproblem eben dieser lange kaum als gesellschaftliches Problem ernst genommen werden. Vielmehr war das Sprechen über Rassismus und Rechtsextremismus eher eine Diffamierung des Ostens als der Versuch, das Problem wirklich anzugehen.

Rechtsextremismus und rassistische Gewalt sind gesamtdeutsche Probleme. Thematisiert wurden sie jedoch lange Zeit vor allem in Bezug auf Ostdeutsche und Ostdeutschland. Im Ergebnis wurde dadurch eine wichtige Debatte in den „Braunen Osten“ geschoben, dessen Bewohner*innen zum einen sich in großen Teilen falsch dargestellt fühlten und zum anderen die Debatte als reine Diffamierung zurück in den Westen geschoben haben. Anstatt das Thema gesamtgesellschaftlich zu führen und zu bearbeiten, entstand ein bundesdeutsches Rassismus-Pingpong, das die Rassismus-Debatte immer wieder woanders verortet und selten auf Personen trifft, die den Ball aufnehmen und bearbeiten. Diejenigen, die am Ende darunter leiden, sind die Opfer von Rassismus – überall in Deutschland. Zudem befinden sich Ostdeutsche of Color potenziell in einem permanenten Konflikt, als nicht-weiße Personen bzw. als Migrant*innen diskriminiert und gleichzeitig als Ostdeutsche abgewertet zu werden.

Genauso ungesehen wie sie selbst bleibt mehrheitlich ihre unermüdliche Arbeit gegen eben jene Diskurse. Auch wenn es antirassistisches und antifaschistisches Engagement als alltäglichen und notwendigen Teil der ostdeutschen Gesellschaft schon immer gab, bekommen zahlreiche Initiativen, Zusammenschlüsse und Projekte von Ossis of Color erst in den letzten Jahren eine größere Aufmerksamkeit. Zudem finden sich vor allem junge Menschen neu zusammen und engagieren sich [3]. Darin treten Ostdeutsche mit Migrationgeschichte und Ostdeutsche of Color selbstbewusst und ganz selbstverständlich als Ostdeutsche auf, tauschen Erfahrungen aus, vernetzen sich und leisten wesentliche gesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Osten und darüber hinaus. Interessanterweise stellen gerade sie damit das Bild des „Braunen Ostens“ infrage, obwohl gerade ihre Erfahrungen es so leicht bekräftigen könnten. Zudem macht ihre Arbeit ein grundsätzliches Versäumnis deutlich: Auch drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung verharrt das Sprechen über „den Osten“ in Klischees, Vorurteilen und unter Ausschluss wesentlicher Stimmen, obwohl eigentlich Vielstimmigkeit herrscht und gesamtgesellschaftliche Probleme verhandelt werden müssten.

veröffentlicht am 02.11.2021

Einzelnachweise

  1. Ins öffentliche Bewusstsein brachte das die Kampagne #baseballschlägerjahre auf Twitter. Nachdem der Journalist Christian Bangel 2019 unter dem Hashtag auf Twitter nach Erfahrungen aus den 1990er- und 2000er-Jahren in Ostdeutschland fragte, teilten in den ersten 48 Stunden über 500 Personen persönliche Erfahrungen aus dieser Zeit mit rechten Hegemonien und Gewalt. Heute lassen sich Tausende solcher Erzählungen unter dem Hashtag finden. Zurückspringen
  2. Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/Kron, Stefanie/Rodatz, Mathias/Schwertl, Maria/Sontowski, Simon (2016). Der lange Sommer der Migration. Krise, Rekonstitution und ungewisse Zukunft des europäischen Grenzregim. In: Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/Kron, Stefanie/Rodatz, Mathias/Schwertl, Maria/Sontowski, Simon (Hrsg.). Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III: Assoziation A, S. 6–24, Online verfügbar unter: https://www.researchgate.net/profile/Sabine-Hess/publication/317767999_Der_lange_Sommer_der_Migration_GRENZREGIME_III/links/594bba5da6fdcc3bb5ceefee/Der-lange-Sommer-der-Migration-GRENZREGIME-III.pdf [letzter Zugriff: 02.11.2021] Zurückspringen
  3. Beispiele dafür sind „DaMOst“, der Dachverband der Migrant*innenorganisationen Ostdeutschland, die Kollektive „Post-Ost“, „Postmigrantisches Radio“ und die Selbstorganisation „Geflüchteten Netzwerk Cottbus“. Zurückspringen