Der Islam ist kein Täter. Er ist weder friedlich noch kriegerisch. Er ist weder verfassungswidrig noch verfassungsgemäß. Das ergibt sich bereits aus dem Begriff selbst als Verbalsubstantiv zum arabischen Verb aslama, was Sich-Hingeben bedeutet. Sein Partizip aktiv (!) wird Muslim/a genannt und meint wörtlich: der sich Gott hingebende Mensch, und zwar entsprechend seines Islamverständnisses in individueller Verantwortung vor Gott und der Schöpfung. Mit anderen Worten: Der denkende und tätige Islam ist weltweit ca. zwei Milliarden, in Deutschland ca. fünf Millionen Muslim*innen. Er ist so facettenreich, wie die Verständnisprozesse aller muslimischen Interpretationsschulen, so bunt, wie die Menschen, die ihm angehören. Von diesen sind die allermeisten friedlich, andere kriegerisch, einige politisch, andere politikverdrossen, einige säkular, andere theokratisch, einige diktatorisch, andere demokratisch eingestellt.

Abb. 2, Muslime geben sich Gott hin und nicht dem Islam. Quelle

Fast alle Muslim*innen in Deutschland leben verfassungskonform, einige wenige verhalten sich verfassungswidrig. Bei bekannten Rechtsverstößen werden sie wie alle anderen Bürger*innen juristisch belangt. Einige haben sich in rechtsfähige Vereine organisiert, andere nicht. Sie sind fehlbare Menschen – eine Selbstverständlichkeit, die sich im „Islamdiskurs“ aufzulösen scheint. Wir debattieren zu viel über Religionen, und noch mehr über den Islam, ohne wirklich klüger zu werden.

Wir brauchen ein „Komplizierter-Machen“

Jeder fühlt sich animiert, überall mitzureden. Wir leben in einer Zeit der starken, aber unsoliden Meinungen. In seiner Dankesrede zum „Sachbuchpreis der wbg“ wies der Münsteraner Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer darauf hin, dass die Schwelle des Mitredens bei den Naturwissenschaften deutlich höher liegt als bei den Geisteswissenschaften. Um ihr Publikum zu erreichen, müssten naturwissenschaftliche Sachbuchautor*innen erklären, dass die Sachverhalte gar nicht so kompliziert seien, wie man annehme. Umgekehrt müssten Geisteswissenschaftler*innen ihrer Leserschaft in Zeiten starker Meinungen deutlich machen, dass die Dinge gar nicht so einfach seien, wie man glauben möchte.

Genau das ist das Kernproblem der „Islam-Debatte“. Ihr fehlt es an Tiefe. Wir werden überflutet mit einfältigen Publikationen über den Islam, die den Leser*innen nahelegen, dass die Dinge noch einfacher und gefährlicher sind, als man ohnehin schon befürchtet. Einige Autor*innen vermitteln sogar den Eindruck, in der gesamten muslimischen Geistesgeschichte gäbe es außer ihnen und dem Propheten niemanden, der den Islam richtig verstanden habe. Beliebte Begriffe wie Reform, Aufklärung oder Menschenrechte werden ausnahmslos im journalistischen Duktus bemüht. Wir brauchen ein „Komplizierter-Machen“, wie Bauer es nennt. Und dies fange bereits bei den Begriffen an, die man verwende. Viele Begriffe würden nicht nur Phänomene bezeichnen, sondern lieferten Interpretationen und Konnotationen gleich mit. Das gelte etwa für ideologisch geprägte Begriffe, die Sachverhalte suggerieren, die es gar nicht gibt.

 

Der „politische Islam“: „Ein Monster, das überall und nirgends ist“

Um das an einem Beispiel deutlich zu machen, lohnt sich ein Blick auf das wiederbelebte Begriffspaar „politischer Islam“. Zwangsläufig wird damit zunächst suggeriert‚„der Islam“ an sich sei handlungsfähig. Ferner wird der Eindruck erweckt, „der Islam“ sei als homogene Größe in monolithische Blöcke teilbar, in einen politischen und einen unpolitischen Teil. Der politische Teil gehöre durchweg bekämpft, zumal er ausschließlich menschenrechtsverachtend, demokratiefeindlich, militant und fundamentalistisch sei. Freilich, solche Erscheinungsformen gibt es. Das darf weder unterschätzt noch relativiert werden. Es gibt aber auch andere Erscheinungsformen. Vor allem gibt es Muslim*innen, die religiös motiviert freiheitlich-friedensstiftende Impulse setzen. Auch sie sind politisch und Teil des Islam. Weil sie der gewünschten Begriffskonnotation nicht entspricht, wird diese Erscheinungsform vom „politischen Islam“ aber ausgeklammert.

Abb. 3, Sind Forderungen nach Gummibärchen ohne Schweinegelatine bereits politischer Islam? Quelle

Noch konfuser wird es, wenn auf der anderen Seite das „Politische“ am „politischen Islam“ daran zu erkennen sein soll, wenn Kinder fasten, Frauen Kopftücher tragen, der Verzehr von Schweinegelatine in Gummibärchen oder der Handschlag gegenüber Frauen vermieden wird etc. Dieses beliebige Einengen beziehungsweise Ausweiten des Politikbegriffs kann nur „ideologisch“ plausibilisiert werden. Dem Begriffspaar „politischer Islam“ fehlt schlicht jede Trennschärfe. „Es wird ein Monster kreiert, das überall und nirgends ist“, so die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer zum Leitantrag der CSU aus dem Jahre 2016 zur Bekämpfung des „politischen Islam“. Mit guten Gründen hielt sie ein solches Vorgehen für einen schweren politischen Fehler. Diese Einschätzung ist überzeugend geblieben. Unter dem Begriff lässt sich alles subsumieren, was einem an muslimischen Lebenswelten anstößig erscheint.

Dies führt uns zwangsläufig von politischen hin zu verfassungsrechtlichen Gefilden. Vor allem auf zwei Problemfelder sei hier hingewiesen:

  1. Kein umfassender Konfrontationsschutz
    Die negative Religionsfreiheit schützt zwar davor, in unzumutbarer Weise mit Religiosität konfrontiert zu werden. Es gibt jedoch kein Grundrecht auf einen umfassenden Konfrontationsschutz. Die Weigerung, Andersartigkeit wahrnehmen zu wollen, fällt nicht unter den grundrechtlichen Schutzbereich. Grundrechte sind zugleich Minderheitenrechte. Ihre Durchsetzbarkeit ist in einer Rechtsstaatsdemokratie nicht auf Mehrheitstoleranz angewiesen. Hier wird der Unterschied zwischen Demokratie und Rechtsstaat deutlich. Im Kollisionsfall müssen sich rechtsstaatliche Grundsätze auch gegen einen Mehrheitswillen durchsetzen lassen. Die Rechtsstaatsdemokratie mutet uns viele Lebensentwürfe zu, auch solche, die uns geschmacklos erscheinen.

  2. Keine Trennung zwischen Religion und Politik
    Das Begriffspaar „politischer Islam“ in seiner ausschließlich düsteren Konnotation könnte nicht nur zu Politikverdrossenheit und steter „Verdachtssorge“ unter Muslim*innen führen, sondern auch Missverständnisse über den säkularen Rechtsstaat begünstigen. Dieser sieht eine institutionelle Trennung zwischen Staat und Religion vor, aber keine Trennung zwischen Religion und Politik. Der demokratische Rechtsstaat ist angewiesen auf einen öffentlich-politischen Diskurs seiner Zivilgesellschaft, der naturgemäß auch Religionsgemeinschaften offensteht. Bei aller berechtigten Religionskritik darf das Potenzial von Religionsgemeinschaften zum Erhalt des freiheitlichen Rechtsstaats nicht unterschätzt oder gar als demokratiegefährdend gebrandmarkt werden. Hilfreich ist ein Blick auf den sogenannten „politischen Katholizismus“, dem unsere Sozialstaatsdemokratie viel verdankt und den es weltweit in den verschiedensten Ausprägungen gibt, von diktaturfördernd bis hin zu befreiungstheologisch linksgerichtet. Der Rechtsstaat jedenfalls ist wachsam und offen für religiöse Bezüge, so die höchstrichterliche Spruchpraxis. Sie können helfen, einen freiheitlichen Gemeinsinn zu stiften, auf den der Freiheitsstaat angewiesen ist, ohne ihn selbst erzwingen zu können. Der Staat kann eine bloß faktische Anerkennung der Verfassungsordnung durchsetzen. Die Liebe zur Vielfalt und Entfaltungsfreiheit kann er seinen Bürger*innen nicht abnötigen. Hier können Religionen sensibilisieren, ohne es zu müssen.

Schöpfungs- und Lebensehrfürchtige Religionen sind „politisch“

Die islamische Rechtswissenschaft (als Rechtsideenlehre) hält vielfältige Einstellungsebenen zum hiesigen Rechtsstaat bereit. Je nach Lesart können sie sich erstrecken von der nur faktischen Anerkennung der Verfassungsordnung über eine religiös begründete Würdigung von Verfassungswerten bis hin zu einer vernunftbasierten Plausibilisierung eines freiheitlichen Gemeinsinns. Der islamrechtliche Bereich, der sich etwa mit den Zielen und Zwecken zwischenmenschlicher Normen beschäftigt, verknüpft spätestens seit dem 11. Jahrhundert fundamentale Rechte der Menschen mit ihren Grundbedürfnissen, die empirisch feststellbar, notwendig und universell sind.

Abb. 4, Die Gläubigen sollen die Schöpfung schützen Quelle

Die Normfindung ist insoweit konsensfähig und nicht zwingend (aber auch) religiös. Für muslimische Gelehrte wie al-Amidi (gest. 1233) ergeben sich diese Einsichten „völlig losgelöst von Offenbarungsquellen, wie sie durch die Propheten vermittelt wurden“. Die Hauptfunktionen der islamischen Jurisprudenz sind unstreitig: 1. das Stärken des individuellen Verantwortungsbewusstseins über die Rolle des Menschen als Sachwalter auf Erden, 2. der Einsatz für Gerechtigkeit (adl) und Frieden (salam) gemessen am Pluralitätsgrad der Gesellschaft und schließlich 3. der Schöpfung nützlich (maslaha) zu sein und Schaden (mafsada) von ihr abzuwenden. Diese Aspekte sind religionswesentlich und politisch. Eine Religion, die nicht zum „politischen Handeln“ für das Wohl der Gesellschaft und der Schöpfung anregt, ist tot.

Weniger Religionsdebatten, mehr Verfassungsrechtsbildung

Wir kommen nicht drum herum: Wer sich eine fundierte Meinung über Religionen oder Weltanschauungen machen will, der muss den Mut haben, Ambiguität erfahren und aushalten zu wollen, die weniger eindeutige Schlüsse zulässt. Und wer sich unbedingt eine glaubhafte Meinung darüber bilden will, was an Religionen und Weltanschauungen toleriert oder nicht toleriert werden sollte, der kann sich über alle wahrnehmbaren Lebenswelten gewissenhaft informieren. Dafür reicht aber eine Lebensspanne nicht aus. Deswegen neigen leider zu viele dazu, empfundene Andersartigkeiten pauschal – im besten Fall gemütlich, aber meinungsstark, im schlimmsten Fall gewalttätig – unterbinden zu wollen. Sie huldigen einem Mehrheitsabsolutismus und dulden nur, was sich innerhalb ihrer weltanschaulichen Schmerzgrenze bewegt – sich selbst als Mehrheit begreifend. Dies ist die konfliktreichste Alternative.

Schon immer führten lautstarke Unkenntnisse zu unnötigen Konflikten. Bereits al-Ghazali (gest. 1111) konstatierte: „Wenn schweigen würde, wer nicht weiß, gäbe es weniger Konflikte unter den Menschen.“ Einsichtige Bürger*innen machen deswegen von ihrer Freiheit Gebrauch, keine Meinung haben zu müssen. Sie erkundigen sich im besten Fall über unsere pluralistische Verfassungsordnung und die darin verarbeiteten historischen Unrechtserfahrungen und vertrauen darauf, was uns verfassungsrechtlich an Andersartigkeit zugemutet wird. Im Übrigen steht der Rechtsweg offen. Zu viel wird gestritten über die Tolerierbarkeit von Religionen. Und zu selten wird informiert über die Hintergründe und die Reichweite des Grundrechts der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, das als Menschenrecht nicht auf Toleranz angewiesen ist. Die Folge dieser Schieflage ist eine trostlose Verunsicherung. Sie ließe sich abmildern durch eine gesellschaftsübergreifende Verfassungsrechtsbildung, die in unserer pluralistischen Demokratie nicht zur Allgemeinbildung zählt – gegen jedwede Vernunft. Das zu ändern würde zwar nicht alle, aber viele Probleme lösen.

veröffentlicht am 18.08.2020