Politische Bildung kann in der rassismus- und antisemitismuskritischen Thematisierung von Flucht und Migration einen Beitrag gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit leisten. Das Anne Frank Zentrum richtet sich mit Flucht im Lebenslauf an Jugendliche in Deutschland – und damit an eine diverse Zielgruppe mit und ohne eigene oder familiäre Flucht- und Migrationserfahrungen. Das biografische Lernmaterial erzählt die Lebensgeschichten von drei geflüchteten Menschen aus Geschichte und Gegenwart: Anne Frank aus Deutschland, Hava aus dem Kosovo und Marah aus Syrien. Der biografische Ansatz eröffnet Einblicke in die Lebenssituationen von Geflüchteten, zeigt die konkreten Auswirkungen von (strukturellem) Rassismus und Antisemitismus auf und fördert einen empathischen Zugang zur Geschichte der Porträtierten.
Lernen in diversen Gruppen
Anders als von manchen eingangs zitierten Multiplikator*innen eingeschätzt, haben besonders Jugendliche ohne eigene oder familiäre Migrationserfahrung einen hohen Lernbedarf zu den Themen Flucht und Migration. Wenn die hauptsächlichen Informationsquellen die Medien sind, in denen Migration immer wieder thematisiert und meist ausschließlich problematisiert wird, entstehen oft einseitige Bilder. Das Lernmaterial zeigt hier die Komplexität von Migration und Ankommen auf und eröffnet Reflexionsräume zur Lebensrealität geflüchteter Menschen.
Rassismus und Antisemitismus werden sowohl als Fluchtgründe wie auch als Probleme in den Aufnahmegesellschaften thematisiert, für die Jugendliche sensibilisiert werden. Die Einordnung von Flucht und Migration in einen historischen Zusammenhang zeigt, dass es sich nicht ausschließlich um aktuelle Phänomene handelt. Flucht und Migration prägen das Gewordensein moderner Gesellschaften. Von diesen Kontextualisierungen profitieren auch Jugendliche mit familiären und eigenen Migrationsbiografien. Zusätzlich ist es für sie oftmals eine wichtige und empowernde Erfahrung, die familiären oder eigenen Lebensumstände innerhalb der Bildungskontexte repräsentiert zu sehen. Die eigenen Erfahrungen können zu den präsentierten Biografien in einen Bezug gesetzt und in einem größeren historischen Kontext verortet werden.
Historische Verortung
Wenn Anne Franks Geschichte, der Jugendliche in der Regel ein sicheres Exil und damit die Chance zu überleben gewünscht hätten, mit den aktuellen Migrationsbiografien von Hava und Marah in einen Zusammenhang gestellt wird, werden die Lebensrealitäten von geflüchteten Menschen heute empathisch besprechbar. Ebenso wird deutlich, dass Flucht nicht erst seit 2015 in größerem Ausmaß existiert, wie es manchmal in den Medien dargestellt wird, sondern eine Geschichte hat. Natürlich ist diese mit den Fluchtversuchen von antisemitisch Verfolgten während des Nationalsozialismus nicht umfassend dargestellt, das kann auch nicht der Anspruch eines biografischen Materials sein.
Dass für Anne Franks Familie Deutschland ein unsicherer Ort war, den sie verlasse musste, regt zu einem Perspektivwechsel an: In zeitgenössischen Diskursen kommt Deutschland in der Regel als – großzügiges oder schützenswertes – Aufnahmeland daher. Wer sich zu Deutschland zugehörig fühlt, kommt in diesem Diskurs eher selten auf die Idee, sich selbst in die Lage zu versetzen, darauf angewiesen zu sein, in einem anderen Land Sicherheit zu finden. Bei dieser Verknüpfung soll es nicht darum gehen, die Kontexte gleichzusetzen. Der deutsche Antisemitismus trieb Anne Franks Familie zunächst dazu, Deutschland zu verlassen, und zwang sie später, nach Mitteln und Wegen zu suchen, aus den Niederlanden zu fliehen – erfolglos. Dies ist nicht gleichzusetzen mit den Zwängen und Wünschen, die Havas Familie dazu veranlassten, den Kosovo zu verlassen, oder Marah aus Syrien nach Deutschland trieben. Deshalb geht das Lernmaterial nicht nur auf die Gemeinsamkeiten der drei Biografien ein, sondern stellt auch deren Unterschiede heraus. Auch die Unterschiede in den Lebensgeschichten von Hava und Marah werden dabei thematisiert, sodass diese nicht als Repräsentantinnen für Geflüchtete heute erscheinen, sondern ihre jeweils persönlichen Lebenswege und -umstände aufgezeigt werden.
Agency
Das Material handelt von der Schließung von Fluchtwegen, von Hürden, die Menschen in den Weg gelegt werden, die ein Land verlassen müssen oder wollen, von Schwierigkeiten des Zurücklassens und von staatlichen Migrationspolitiken, welche es erschweren oder sogar verhindern, sicher und dauerhaft eine Perspektive am neuen Ort zu entwickeln. Gleichzeitig liegt der Schwerpunkt auf der agency der Akteur*innen: Wie haben sie oder ihre Umfelder entschieden und gehandelt, trotz der Begrenzung der Handlungsspielräume? Die Biografien zeigen nicht nur die individuellen Entscheidungen und die Handlungsmacht der drei Porträtierten auf, sondern verweisen auch auf deren Grenzen und Zwänge von außen. Sie bieten einen Zugang zu den ganz persönlichen einzigartigen Lebensgeschichten und zeigen diese im Kontext größerer politischer Prozesse.
Rassismus und Antisemitismus durch Empathie entgegenwirken?
Ein besonders wichtiger Aspekt des biografischen Lernens ist der empathische Zugang zu den Lebensgeschichten konkreter Personen. Entmenschlichenden Medienberichten über geflüchtete Menschen wird auf diese Weise etwas entgegengesetzt. Dort ist die Wortwahl oft dem Bereich der Naturkatastrophen entlehnt, rassistische Stereotype werden aufgerufen und die auf der Flucht Ertrunkenen erscheinen als abstrakte Zahlen – so, als wären sie Menschen ohne Geschichten und Erfahrungen, ohne Freund*innen und Familien, die ihren Tod betrauern.
Eine ähnliche Beobachtung wurde mehrfach bezüglich Berichten und der Bildung zur Shoah gemacht. Abstrakte Zahlen verhelfen zu keinem Verständnis und entmenschlichen die Ermordeten abermals. Ein biografisches Lernmaterial funktioniert dabei jedoch selbstverständlich anders als eine tatsächliche Begegnung. Erstens bleibt das Erzählte immer gleich, obwohl sich Hava und Marah vielleicht in anderen Situationen oder in der Zukunft anders beschreiben würden als im Material. Zweitens sind die Lebensgeschichten zum Material geworden, Aspekte daraus wurden ausgewählt und pädagogisch aufbereitet. Obwohl dies in Absprache mit den beiden noch lebenden Porträtierten geschah, ist der Blick (und möglicherweise auch die blinden Flecken) der Materialentwickler*innen darin ebenso enthalten. Drittens – und das ist vielleicht der wichtigste Unterschied – verläuft die Begegnung nur in eine Richtung. Die Lernenden erfahren etwas aus dem Leben von Marah, Anne und Hava, ohne dass dies umgekehrt der Fall ist. Das bietet allerdings auch einen großen Vorteil. Rassismus und Antisemitismus, besonders die bei den Lernenden auftretenden antisemitischen und rassistischen Bilder, können geäußert und konfrontiert werden, ohne dass die Porträtierten sie sich anhören müssen. Nicht sie müssen – wie Betroffene so oft – erklären und fortbilden. Trotzdem fließen ihre Perspektiven in diese Auseinandersetzung ein.
Das Lernen mit Lebensgeschichten bietet Momente von Identifikation, denn es ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie: Wie ist das bei mir und in meiner Familie? Insofern kann die so gestärkte Empathie gewissermaßen wirkungsvoll sein im Überdenken eigener Bilder und Stereotype. Die Möglichkeit, bereits erlernten antisemitischen und rassistischen Bildern durch Empathie entgegenzutreten, hat jedoch auch Grenzen. Ich selbst habe im Anne Frank Zentrum eine Gruppe Jugendlicher erlebt, die sehr interessiert an der Geschichte von Anne Frank und ehrlich geschockt und entrüstet über deren Verfolgung und Ermordung waren. Dieses Gefühl für das Unrecht, das Anne Frank angetan wurde, konnten die Jugendlichen jedoch zunächst nicht in die Gegenwart übertragen. Stattdessen äußerten sie sich rassistisch über Migrant*innen und Geflüchtete. Dabei reproduzierten sie teilweise auch rassistische Diskurse, wie sie beispielsweise von der AfD in der Öffentlichkeit geführt werden. Diese Grenzen liegen einerseits in der Irrationalität dieser Bilder begründet. Rassismus und Antisemitismus können auch dann noch bestehen, wenn deren Auswirkungen auf einzelne Betroffene bedauert wird. Diese werden dann oftmals als Ausnahmen mit einem ansonsten unangetasteten Weltbild vereint. Daher ist es ergänzend wichtig, ein Verständnis für die Funktionsweisen von Macht- und Herrschaftsstrukturen zu entwickeln.
Andererseits zeigt das Beispiel dieser Gruppe Jugendlicher auch, wie selten die Betroffenenperspektive in der Diskussion um aktuelle Flucht- und Migrationsbewegungen vorkommt. Während sich in der politisch-historischen Bildung zur Shoah zunehmend auf die (Verfolgungs-)Geschichten einzelner Personen bezogen wird, fehlt diese Perspektive im aktuellen Diskurs vielerorts. Dies ist auch als Historisierung zu verstehen: Für jüngere Teilnehmende bedeutet die Shoah oftmals bereits weit in der Vergangenheit liegende Geschichte. Ihre Großeltern sind in der Regel keine Beteiligten mehr gewesen, sondern bereits nach 1945 sozialisiert. Eine Empathie mit Verfolgten und Ermordeten der Shoah stellt daher viel weniger als noch vor einem Jahrzehnt das Selbstverständnis und die familiären Loyalitäten der Nachkommen der Täter*innen infrage. Aktuelle Debatten um Flucht- und Migrationsbewegungen haben demgegenüber große Auswirkungen auf das Selbstverständnis vieler Jugendlicher. Ihre Identität wird dadurch mitgeprägt, wie selbstverständlich sie und ihre Familien zur deutschen Gesellschaft gezählt werden. Wird ihre Zugehörigkeit infrage gestellt oder – auf der anderen Seite – wird sich ihrer durch den Ausschluss anderer aus dieser Zugehörigkeit vergewissert?
Die Perspektiven der im Lernmaterial porträtierten Personen regen oftmals auch Betroffene von Rassismus oder Antisemitismus in der Klasse oder Lerngruppe dazu an, von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen. Um diesen Erfahrungen einen Raum und Anerkennung zu geben, braucht es nicht zuletzt eine Sensibilisierung der Lehrenden. Sie sind in besonderem Maße dafür verantwortlich, einen möglichst sicheren Rahmen zu bieten. Respekt und eine klare Parteilichkeit und Positionierung gegen Antisemitismus und Rassismus bieten dafür die Grundlage. Da wir in einer Gesellschaft leben, in der wir alle – auch als Lehrende – Rassismus und Antisemitismus erlernt haben, müssen auch die eigenen Bilder und Gewissheiten hinterfragt werden.
Diversität als Normalfall
Statt davon auszugehen, dass Flucht und Migration erst durch die Anwesenheit kürzlich geflüchteter Menschen relevante Themen der Auseinandersetzung werden, muss eingesehen werden, dass verschiedene Bezüge dazu schon längst Normalität sind.
Neben eigenen Migrationserfahrungen sind es familiäre Erzählungen, Erlebnisse im Umfeld oder mediale Bilder, die das Denken von Jugendlichen zu diesen Themen prägen. Innerhalb nahezu jeder Lerngruppe wird es unterschiedliches Wissen und verschiedene Bilder geben. Es gilt, diese zur Sprache zu bringen und als Lehrende*r dabei eine eindeutige Position gegen Rassismus und Antisemitismus einzunehmen. Jugendlichen, die bereits erlernte antisemitische und rassistische Ansichten zum Ausdruck bringen, soll ein Raum eröffnet werden, in dem sie diese hinterfragen und revidieren können. Gleichzeitig kann dieser Lernraum nur dann von allen genutzt werden, wenn Betroffene einen Schutz vor diesen Auffassungen erfahren.
veröffentlicht am 24.08.2021
Wir danken politischenbilden.de für die Möglichkeit zur Wiederveröffentlichung.