Meinungsbildung, Einstellungen und Werte

Eine Meinung bezeichnet „die Bewertung eines Objekts durch eine Person, die diese auf der Basis ihres Wissens über das Objekt und vergleichbare Objekte trifft“ (Schweiger 2017, S. 113). Da sich der Begriff Meinungen – wenn er so allgemein gefasst wird – auf sehr verschiedene Objekte bezieht, kann es im Fachdiskurs hilfreich sein, Objektbewertungen nicht nur als Meinungen zu beschreiben, sondern von Einstellungen und Werten zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen Meinungen, Einstellungen und Werten bezieht sich einerseits auf unterschiedlich abstrakte Bewertungsobjekte und anderseits auf die Wandelbarkeit der ihnen zugrunde liegenden Bewertungen.

Meinungen werden gemeinhin zu konkreten Objekten wie Personen, Handlungen oder politischen Forderungen geäußert. In ihrer Bewertung können sich Meinungen in Abhängigkeit von der Informationslage und der subjektiven Perspektive relativ schnell ändern. Einstellungen sind im Vergleich dazu konstanter und beziehen sich auf die Bewertung abstrakter Objekte wie zum Beispiel der freien Marktwirtschaft oder des Umgangs mit Migration. Hier beziehen sich die Bewertungen nicht auf einzelne Informationen zu Personen oder Handlungen, sondern es werden größere Zusammenhänge und Gruppen betrachtet. Werte beziehen sich als dritter Begriff auf sehr abstrakte Klassen von Objekten. Sie bezeichnen „abstrakte Vorstellungen des Wünschenswerten“ (Beckers 2018, S. 507 nach Jekta 2020), zum Beispiel in Bezug auf Gerechtigkeit, Freiheit oder Liebe. Sie beziehen Einstellungen und Meinungen mit ein, gehen aber über diese hinaus, indem sie konstant bleiben können, während sich gleichzeitig Meinungen und Einstellungen ändern (vgl. Schweiger 2017, S. 114).

Die Unterscheidung zwischen Meinungen, Einstellungen und Werten ist wichtig, um besser zu fassen, was bei einem Thema wie „Soziale Medien und die politische Meinungsbildung Jugendlicher“ verhandelt wird. Denn betrachtet man die sozial- oder populärwissenschaftlichen Zeitdiagnosen zum Thema, geht es vielen Autor*innen um mehr als Meinungen (z.B. Ebner 2019; Pariser 2012; Pörksen 2018; Schweiger 2017). Stattdessen wird in Anbetracht der strukturellen Veränderungen der Medienlandschaft durch die Digitalisierung mit Begriffen wie Aufmerksamkeitsökonomie oder politische Polarisierung oftmals auf der Ebene von Einstellungen, manchmal auch von Werten argumentiert. Ginge es nur um Meinungen, wäre die gesellschaftliche Relevanz des Themas höchstwahrscheinlich geringer.

Mit Blick auf die Aufmerksamkeit, die das Thema im öffentlichen Diskurs genießt, ist jedoch überraschend, dass ein umfassender Ansatz zur Untersuchung von Meinungsbildung fehlt. So können Griese et al. (2020, Kap. 3) zeigen, dass in unterschiedlichen Disziplinen zwar jeweils hilfreiche Ansätze zur Untersuchung von Meinungsbildung vorhanden sind, die Integration der verschiedenen Ansätze und die empirische Untersuchung des Prozesses der politischen Meinungsbildung in und mit sozialen Medien bisher aber kaum stattgefunden haben. Das hängt mit der Komplexität der Aufgabe zusammen, die Annahmen und Modelle verschiedener Wissenschaftsdisziplinen integrieren müsste. Ein weiterer Grund ist aber auch die Dynamik der gegenwärtigen Entwicklungen, wie sie am Beispiel des Wandels von Öffentlichkeit durch soziale Medien deutlich gemacht werden kann.

Soziale Medien und der Wandel von Öffentlichkeit

Es ist nach meiner Einschätzung gut möglich, dass der durch soziale (und digitale) Medien hervorgebrachte Wandel rückblickend ähnlich epochal ausfallen wird wie die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Erfindung des Buchdrucks, des Radios oder des Fernsehens. Die Nutzung sozialer Medien verändert die Art unserer Kommunikation, sie ermöglicht neue Vergemeinschaftungsformen und hat großen Einfluss auf öffentliche Diskurse – kurz: Soziale Medien verändern Gesellschaft.

Im Fachdiskurs unterschieden werden vier Formen sozialer Medien, die alle gemeinsam haben, dass ihre Nutzer*innen die Inhalte anderer konsumieren, gleichzeitig aber auch problemlos eigene Inhalte produzieren und für andere Nutzer*innen öffentlich bereitstellen können:

(a) Netzwerkplattformen zielen darauf, Verbindungen zwischen ihren Nutzer*innen zu ermöglichen und eigenen Content zu teilen. Zu ihnen gehören unter den Jugendlichen stark genutzten Formate wie YouTube oder TikTok, aber auch soziale Netzwerke wie Facebook oder Berufsplattformen wie XING. (b) Personal Publishing hat einen stärkeren Fokus darauf, nutzergenerierte Inhalte zu publizieren. Hierzu gehören persönliche Weblogs, aber auch Podcast- und Videocastformate. Ebenso zählen Microblogs wie Twitter oder Instagram dazu. (c) Instant Messaging-Dienste ermöglichen die synchrone Kommunikation zwischen ihren Nutzer*innen. Sie sind mit Anwendungen wie WhatsApp oder Snapchat bei Jugendlichen sehr beliebt. (d) Wikis machen es ihren Nutzer*innen möglich, gemeinsam Inhalte zu gestalten. Das bekannteste Beispiel ist Wikipedia (Knop 2017, S. 376).

Mit sozialen Medien können Menschen in vorher nie da gewesener Leichtigkeit eigene mediale Inhalte produzieren und veröffentlichen. Damit verändern sie den bis zum Ende der 2000er-Jahre vor allem von den Massenmedien bestimmten öffentlichen Diskurs. Das wird sehr deutlich, wenn man das „klassische“ Ebenen-Modell von Öffentlichkeit betrachtet. Unterschieden werden im klassischen Modell drei Ebenen von Öffentlichkeit: die Begegnungsebene, die Versammlungsebene und die Ebene der massenmedialen Öffentlichkeit (Gerhards/Neidhardt 1990). Öffentlichkeit konnte auf allen drei Ebenen hergestellt werden, allerdings war die Reichweite von Begegnungen und Versammlungen stark eingeschränkt. Das lag zum einen daran, dass Begegnungs- und Versammlungsöffentlichkeiten kaum öffentlich sichtbare mediale Inhalte produzierten, und zum anderen an der Auswahllogik von Inhalten durch Journalist*innen, die in Massenmedien arbeiteten. In die Massenmedien und damit in die breite Öffentlichkeit kam meist nur, was Journalist*innen selbst beschrieben, fotografierten oder filmten.

Abb. 2, Über soziale Medien können auch individuelle Begegnungen für eine breite Öffentlichkeit sichtbar werden. Quelle

Letzteres ändert sich seit einiger Zeit durch soziale Medien fundamental. Zum Beispiel werden über die Microblogs vieler Nutzer*innen individuelle Begegnungen und kleinere Versammlungen – je nach Account-Einstellungen – für eine ausgewählte oder breite Öffentlichkeit sichtbar. Damit entstehen persönliche oder intimisierte Öffentlichkeiten, die als Räume beschrieben werden können, in denen ihre Nutzer*innen verschiedene Identitäten ausprobieren und Kontakte mit Peers pflegen (vgl. Schmidt 2009, Kap. 5; Wagner 2019). Gleichzeitig können die einzelnen Inhalte dieser Microblogs über Messengerdienste und Videoplattformen weiterverbreitet werden. Die Accounts und Inhalte einzelner Personen erreichen auf diese Art viele Millionen von Menschen – in Ausnahmefällen sogar, ohne dass diese Personen vorher prominent gewesen sind. Das gilt besonders für mediale Inhalte von Ereignissen wie Naturkatastrophen, Skandale, Krisen oder Gewaltausbrüchen, die viele Menschen betreffen bzw. interessieren. Hier schöpfen massenmediale Akteur*innen gelegentlich Inhalte ab, die in sozialen Medien veröffentlicht wurden, und verschaffen ihnen damit zusätzlich Reichweite.

Dieses dynamische Zusammenspiel von Inhalten aus sozialen Medien und ihrer massenmedialen Verwertung wird teilweise von populistischen und extremistischen Akteur*innen instrumentalisiert, indem sie Skandale, Gesetzesbrüche und Abscheuliches bewusst inszenieren und über soziale Medien verbreiten (vgl. Dittrich et al. 2020; Singer/Brooking 2018). Journalist*innen fiel es in der Vergangenheit nicht immer leicht, den richtigen Umgang mit diesen oftmals quotenträchtigen Inhalten zu finden. Sie aufzugreifen bedeutete oftmals, ihre Reichweite zu befördern, sie nicht zu thematisieren, widersprach allerdings ebenfalls dem öffentlichen Interesse. Diese Entwicklungen führen insgesamt zu der Herausforderung, dass der öffentliche Diskurs dynamischer und unbestimmbarer wird. Er wird nicht mehr vor allem von Journalist*innen gestaltet, sondern bezieht unterschiedlichste Akteur*innen und Medien mit ein. In der Journalismusforschung wird deswegen gegenwärtig von performativer Öffentlichkeit gesprochen, womit die Wandelbarkeit und Akteur*innenvielfalt gegenwärtiger öffentlicher Diskurse betont wird (Lünenborg et al. 2020).

Herausforderungen für die Meinungsbildung

Für jugendliche Mediennutzer*innen und pädagogische Fachkräfte führen diese Entwicklungen zu unterschiedlichen Herausforderungen, von denen ich hier drei beschreiben möchte.

(1) Im öffentlichen Diskurs werden soziale Medien gegenwärtig schnell für gesellschaftliche Konflikte und Polarisierung verantwortlich gemacht. Häufig genutzt werden dafür Begriffe wie Filterblase oder Echokammer, denen die Argumentation zugrunde liegt, dass die Nutzer*innen sozialer Medien aufgrund algorithmischer Sortierungen nur noch auf Inhalte und Kontakte stoßen, die ihre Meinung bestätigen.

Abb. 3, Beeinflussen Filterblasen unsere Meinungsbildung? Quelle

Diese technikdeterministische Sicht – soziale Medien = Polarisierung – ist jedoch nicht durch empirische Ergebnisse bestätigt. Wenn sie in Teilen zutrifft, dann für die Anhänger*innen extremistischer Gruppierungen, die ihre Kontakte auch realweltlich eingeschränkt haben. Sie stimmt aber nicht für die breite Masse an Jugendlichen, die über soziale Medien mit sehr heterogenen Inhalten und Personen in Kontakt kommen (vgl. Bruns 2019). Pädagogische Fachkräfte sollten soziale Medien deswegen nicht pauschal kritisieren, sondern in Bezug auf die Funktionen betrachten, die ihre unterschiedlichen Formen und Anwendungen für die jeweiligen Jugendlichen einnehmen. Dadurch kommen subjektive Bedürfnisse, aber auch gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick, die unabhängig von einem Fokus auf Medien als problematisch bezeichnet werden können – sich aber gleichzeitig in der Mediennutzung widerspiegeln und von dieser teilweise auch Verstärkung erfahren (vgl. El-Mafaalani 2018, 2020).

(2) Eine große Herausforderung in sozialen Medien ist die Menge an vorhandenen Informationen, mit deren Hilfe Objekte bewertet werden und sich Jugendliche eine Meinung bilden. Sozialpsychologische Forschungen weisen darauf hin, dass Individuen dieser Fülle im Regelfall so begegnen, dass sie die Komplexität an Informationen entsprechend ihrer Neigungen und Vorannahmen reduzieren und nicht versuchen, Informationen sachlich gegeneinander abzuwägen. Auf diese Weise können sich Polarisierungstendenzen bei den entsprechenden Personen verstärken (Hannon 2020; Taber et al. 2009). Aus kommunikationswissenschaftlicher und medienpädagogischer Perspektive muss hier jedoch ergänzt werden, dass Informationen nicht nur subjektiv bewertet werden, sondern die Bewertung von Medieninhalten im sozialen Kontext der betreffenden Personen ausgehandelt wird (vgl. Griese et al. 2020, 13ff.). Pädagogische Fachkräfte können sich das zunutze machen, indem sie Geschehnisse des Zeitgeschehens, auf die Jugendliche in sozialen Medien stoßen, anhand der entsprechenden Inhalte aufgreifen und gemeinsam mit ihnen und ihren Peers diskutieren.

(3) Soziale Medien werden in pädagogischen Projekten teilweise als Mittel verstanden, mit denen Jugendliche stärker am politischen Diskurs partizipieren können. Die Idee entspringt dem Ideal einer deliberativen Demokratie, in der Entscheidungen von möglichst vielen Personen diskutiert und dadurch legitimiert werden sollen. Jugendliche zu dieser Art von Partizipation in sozialen Medien motivieren zu wollen, erweist sich jedoch als herausfordernd. Wie oben in Bezug auf den Begriff performative Öffentlichkeit dargestellt, sind öffentliche Diskurse in sozialen Medien oftmals sehr dynamisch und unbestimmbar. Das heißt, Jugendliche haben – selbst bei lebensweltlichen Themen wie Musik, Kinofilmen oder Computerspielen – erlebt, dass es in Auseinandersetzungen in Kommentarspalten zu Beleidigungen und Abwertungen durch andere Nutzer*innen kommen kann. Das zeigte eine qualitative Studie zum Medienhandeln Jugendlicher in sozialen Medien. Besonders wenn es um die Partizipation zu politischen Themen ging, waren die Jugendlichen sehr zurückhaltend, eigene Inhalte öffentlich zu posten. Gleichzeitig nutzten die gleichen Jugendlichen aber die semiprivaten Räume in sozialen Medien, zu denen sie den Zugang beschränken und in denen sie sich deswegen vor allem mit potenziell bekannten Peers austauschen konnten, um über die verschiedensten Themen zu diskutieren. Zwischen öffentlichen und geschützten Räumen in sozialen Medien navigierten die Jugendlichen sehr bewusst und passten ihr Medienhandeln den verschiedenen Räumen entsprechend an (Materna et al. 2021). Für (medien-)pädagogische Projekte, die sich Partizipation in sozialen Medien als Ziel setzen, ist diese Unterscheidung wichtig, um bewusst abwägen zu können, in welchem Ausmaß sich die Jugendlichen in öffentlichen oder geschützten digitalen Räumen einbringen sollen.

veröffentlicht am 29.06.2021

Der Text ist zuerst erschienen in der JuRe-Broschüre„Vernetzt? Verstrickt? Verloren?  – Meinungsbildung Jugendlicher und digitale Medien“ aus dem Projekt Jugend und Religion – Politische Jugendbildung an Berufsschulen, ein Projekt der Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Leben DGB/VHS e. V.

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