Muslim*innen hatten bis ins 19. Jahrhundert ein relativ offenes Verhältnis zur Sexualität. Dann hat sich allerdings ein Wandel vollzogen, der bis heute spürbar ist. Ein Grund hierfür ist, dass durch den Kolonialismus eine prüde Sexualmoral in muslimisch geprägte Gesellschaften Einzug gehalten hat. Aber auch die Ideologisierung des Islam hat dazu beigetragen, wie Ali Ghandour in der Auseinandersetzung mit verschiedenen muslimischen und literarischen Quellen zeigen kann (vgl. Ghandour 2019). Vor dem 18. Jahrhundert haben muslimische Gelehrte sowohl den Koran kommentiert als auch ausführlich über Erotik geschrieben, wie zum Beispiel der Gelehrte Dschalal ad-Din as-Suyuti.

Wenn man sich heute Webseiten zum Thema Sexualität „im Islam“ anschaut, findet man zahlreiche Inhalte, in denen Sexualität mit vielen Verboten versehen wird und diese Verbote mit „dem Islam“ begründet werden. So wird zum Beispiel Masturbation häufig als sündhaft, schmutzig und verboten dargestellt. Dieses und andere Beispiele zeigen eine Sexualethik, die durch eine rigide Verbotsmoral und Tabuisierung gekennzeichnet ist und die Normen festlegt, bei deren Nichteinhaltung mit göttlichen Sanktionen bestraft wird. Sie hat ihre Wurzeln in einer repressiven Sexualmoral, die aus konservativen, kulturellen und religiösen Diskursen hervorgegangen ist. Eine differenzierte und theologische Auseinandersetzung mit der Thematik ist weder im Internet noch in der Familie noch in der Moschee selbstverständlich. Die Jugendlichen werden vielfach im Stich gelassen.

Wie lassen sich Einstellungen junger Muslim*innen in Deutschland zur Sexualität heute beschreiben?

Sexualität spielt gerade in der Jugendphase eine wichtige Rolle, denn die Geschlechtsreife entwickelt sich in dieser Phase und damit auch ein neues Lebensgefühl. Die körperlichen Veränderungen bringen Neugier und viele Fragen mit sich. Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung sind zentrale Werte der geschlechtlichen Identitätsbildung .

Abb. 2, Sexualität als zentraler Bestandteil der Identitätsbildung  Quelle

In manchen streng konservativen Familien wird Sexualität zum Teil tabuisiert, sie wird mit Scham und Respekt verbunden. Daher findet in solchen Familien kaum eine Sexualaufklärung statt. Jungfräulichkeit vor der Ehe gilt als ein unumstößliches Gebot, das insbesondere für junge Frauen gilt. Zum Teil wird ein enger Zusammenhang zwischen Jungfräulichkeit und Ehre hergestellt. Mit dem Konzept der Familienehre gehen geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen einher. In traditionellen Vorstellungen gilt die Jungfräulichkeit der Frau als Indikator für das Ansehen der Familie. Die Frau kann die Familienehre schützen, wenn sie sich korrekt kleidet, ihre Keuschheit wahrt, sich zurückhaltend verhält und erst aus der Wohnung der Eltern auszieht, wenn sie heiratet. In dieser Hinsicht liegt das sexuelle Verhalten von Mädchen nicht in ihrem eigenen Entscheidungsspielraum und wird kontrolliert (vgl. Müller 2006; Kondzialka 2005).

Bei einem Teil der muslimischen jungen Männer verhält es sich anders: Das Ideal der Jungfräulichkeit (die Virginitätsnorm) ist für sie zwar theoretisch auch verpflichtend, wird aber praktisch wesentlich seltener eingehalten. Das Sammeln sexueller Erfahrungen vor der Ehe wird geduldet, meist wird aber in der Familie nicht darüber gesprochen. Auch für diese jungen Männer ist das Gespräch mit den Eltern über Sexualität ein Tabu, weil es für sie eine Respektlosigkeit ausdrückt  (vgl. Schäfer/Schwarz 2007; Toprak 2005).

Muslimische Jugendliche befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tabuisierung und Liberalisierung von Sexualität

Gleichwohl gibt es muslimische Jugendliche, die die Tabuisierung des Diskurses kritisieren, auch wenn sie die kulturellen und traditionellen Vorstellungen über Sexualität nicht infrage stellen: Sie verneinen Sexualität vor der Eheschließung auf der Grundlage ihres Verständnisses des Islam, äußern sich aber kritisch zu der Einstellung, dass Männern zugebilligt wird, sexuelle Erfahrungen vor der Ehe zu sammeln, jedoch von Mädchen und Frauen erwartet wird, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Sie verurteilen die starren Geschlechterrollen und eine Sexualmoral, die nur weibliche Muslim*innen bei Überschreitung bestraft. Auch lehnen sie ab, dass die Ehre des Mannes über das Verhalten der Frau und die dadurch resultierende soziale Kontrolle der weiblichen Sexualität definiert wird. Insofern ist bei diesen muslimischen Jugendlichen ein Wandel erkennbar: Sie wollen offen über Sexualität sprechen und erheben einen Anspruch auf eine Partnerschaft, die auf Gleichheit und eine erfüllte Sexualität in der Ehe gerichtet ist (vgl. Toprak 2014; Ziebertz/Coester/Betz 2010).

Neben den beiden beschriebenen Gruppen gibt auch muslimische Jugendliche, die ihre Sexualität als private Angelegenheit ansehen. Sexualität ist für sie ein selbstverständlicher Teil der persönlichen Identität. Aufklärung findet innerhalb der Familie relativ früh in einer offenen Art statt. Ehre wird von den Eltern nicht am Sexualleben (z. B. der Tochter) festgemacht. Treue und Zusammenhalt stehen in einer Partnerschaft im Mittelpunkt. So gibt auch Beispiele für junge Musliminnen, die sich nicht an die Virginitätsnorm halten und sexuelle Erfahrungen außerhalb der Ehe sammeln (vgl. Toprak 2014; Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2006).

Welche Spannungsverhältnisse werden sichtbar?

Muslimische Jugendliche befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tabuisierung und Liberalisierung von Sexualität. Durch die Sozialisation und ihre Erfahrungen in Deutschland können die Jugendlichen eine Diskrepanz zwischen dem offenen und liberalen Umgang mit der Sexualität in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, den lebensweltlichen Gewohnheiten der Kultur der Herkunftsländer ihrer Familien und/oder dem traditionellen Wertesystem ihres muslimischen Milieus erleben. Meist werden besonders die konservativen Wertesysteme auf den Islam zurückgeführt, ohne zwischen nicht religiösen und kulturellen Normen und Werten zu unterscheiden.

Abb. 3, Viele junge Muslim*innen werden mit ihren Fragen zur Sexualität allein gelassen Quelle

Eine weitere Diskrepanz kann einerseits zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und andererseits den Erwartungen des kulturellen und religiösen Umfeldes  wahrgenommen werden. Der eigenverantwortliche liberale Umgang mit der Sexualität kann hier auf eine durch Verbotsethik geprägte Sexualmoral prallen. Das führt zur individuellen Auseinandersetzung zwischen abweichenden Wertvorstellungen, was wiederum zu facettenreichen Lebensentwürfen mit unterschiedlich ausgeprägter Sexualmoral bei muslimischen Jugendlichen führt. Problematisch wird es, wenn die Wertesysteme oder die Sexualmoral der eigenen Familie oder Community dazu führen, dass Tradition, Kultur und Religion nicht mehr unterschieden werden, überholte Vorstellungen als überzeitlich gültig angesehen werden und somit auf „den“ Islam zurückgeführt und nicht hinterfragt werden.

Wie kann religionspädagogisch auf diese Spannungsverhältnisse reagiert werden?

In diesem Spannungsfeld spielt Wissen eine entscheidende Rolle, sowohl was die biologische als auch die theologische Seite der Sexualität betrifft. Das Wissen über biologische Sachverhalte, Körperlichkeit, sexuelle Vielfalt usw. ist Teil des Biologieunterrichts. In der Religionspädagogik ist dieses Thema jedoch keineswegs irrelevant, denn das Wissen über Sexualität und Sexualaufklärung ist ein wesentlicher Bestandteil von Selbstbestimmung und Mündigkeit.

Im islamischen Religionsunterricht ist es notwendig, dass die Schüler*innen erkennen, dass Sexualität ein Teil des Menschseins ist. Deswegen ist es wichtig, die eigene Sexualität nicht zu unterdrücken, sondern sich über den eigenen Körper bewusst zu werden und sich ein Bild von den eigenen Genitalien und dem Körperinneren zu machen, d. h. seinen eigenen Körper zu erfahren. Weiterhin ist es ein wesentliches Lernziel, zwischen Tradition, Religion und Kultur zu unterscheiden, das heißt, sich kritisch mit verschiedenen klassischen und gegenwärtigen Positionen, Normen und Moralvorstellungen in Bezug auf Sexualität auseinanderzusetzen und sie in ihrem historischen und sozialen Kontext zu verstehen. Dann wird deutlich, dass nicht „der Islam“ eine bestimmte Sexualmoral vorschreibt, sondern dass diese aus theologischen und rechtlichen Positionen von Menschen hervorgegangen ist, mit ihrem jeweiligen Kontext und Wissensstand in Verbindung steht und keine überzeitliche Gültigkeit hat.

Darüber hinaus ist es essenziell, mit den Schüler*innen zeitgemäße theologische Positionen zu entwickeln und dabei aktuelle Forschungsergebnisse aus der Sexualwissenschaft in die Diskussion miteinzubeziehen (vgl. Sigusch 2013). So können für die Schüler*innen Räume geschaffen werden, in denen sie die eigene Sexualmoral und die eigenen Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfe hinterfragen, aushandeln und sogar neu entwerfen und sich gegen vorherrschende Mythen oder Vorstellungen, die bei ihnen Konflikte, Schuldgefühle und Glaubenskrisen auslösen können, in differenzierter Art und Weise religiös positionieren (vgl. Ulfat 2020).

Weitere Beiträge zum Thema Sexualität, Liebe und Islam:
Literaturverzeichnis

Boos-Nünning, Ursula/Karakaşoğlu, Yasemin (2006). Viele Welten leben: Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. 2. Aufl. Münster: Waxmann.

Ghandour, Ali (2019). Liebe, Sex und Allah: Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime. München: C. H. Beck.

Kondzialka, Heidi (2005). Emanzipation ist Ehrensache: Netzwerkbeziehungen, Sexualität und Partnerwahl junger Frauen türkischer Herkunft. Marburg: Tectum-Verl.

Müller, Annette (2006). Die sexuelle Sozialisation in der weiblichen Adoleszenz: Mädchen und junge Frauen deutscher und türkischer Herkunft im Vergleich. 1. Aufl. Münster: Waxmann.

Schäfer, Franziska/Schwarz, Melissa (2007). Zwischen Tabu und Liberalisierung – Zur Sexualität junger Muslime. In: Wensierski, Hans-Jürgen von/Lübcke, Claudia (Hrsg.), Junge Muslime in Deutschland: Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 251–281.

Sigusch, Volkmar (2013). Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Frankfurt: Campus Verlag.

Toprak, Ahmet (2005). Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer: Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Toprak, Ahmet (2014). Türkeistämmige Mädchen in Deutschland: Erziehung – Geschlechterrollen – Sexualität. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Ulfat, Fahimah (2020). Sexualität und Religion bei jungen Muslim*innen in Deutschland in islamisch-religionspädagogischer Perspektive. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 72, S. 79–95.

Ziebertz, Hans G./Coester, Helene/Betz, Andrea (2010). Normierung von Sexualität und Autonomie. Eine qualitative Studie unter christlichen und muslimischen Mädchen. In: Ziebertz, Hans G. (Hrsg.), Gender in Islam und Christentum: Theoretische und empirische Studie. 1. Aufl. Berlin: LIT, S. 207–247.

 

Veröffentlicht am 06.04.2021