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Niels Brüggen:
„Irgendwie steckt häufig so ein Verständnis da drin: Da gibt’s eine Problemgruppe und die Prävention kümmert sich um diese Problemgruppe. Die fixt das sozusagen.“

Sabine Achour:
„Politische Bildung (…) hat gar nicht diese geschlossene Zielsetzung, danach den lupenreinen Demokraten aus dem Workshop entgehen zu lassen.“

Götz Nordbruch:
„Die Wirkung von Aufklärung in der Prävention geht gegen null.“

Intro: RISE – Der Podcast zu Identität, Pluralismus und Extremismus

MOD:
Herzlich willkommen zur ersten Folge des Podcasts von RISE. Mein Name ist Julia Tieke, ich bin Kulturwissenschaftlerin und Radiojournalistin und freue mich, euch zu unserem Podcast zu Identität, Pluralismus und Extremismus zu begrüßen.

In dieser Folge haben wir einiges vor, denn wir beschäftigen uns damit, welche Vorstellungen von „Prävention“ es eigentlich gibt. Wie versteht das Projekt RISE Extremismusprävention und insbesondere Islamismusprävention? Welche Rolle kommt darin der Medienpädagogik zu, und wie fällt der kritische Blick auf den Präventionsbegriff aus?

„There is no glory in prevention“, sagte der Virologe Christian Drosten zu Beginn der Corona-Pandemie. Wenn Prävention also wirkt, und damit das, was verhindert werden soll, nicht eintritt, gibt das wenig Ruhm und Ehre für diejenigen, die es verhindert haben. Seit etwa einem Jahr lernen wir alle Präventionsmaßnahmen kennen, die eine noch gravierendere Ausbreitung des Coronavirus verhindern sollen. Aber ist es legitim, diese Ideen und Begriffe aus dem Gesundheitsbereich auf den Bereich der Extremismusprävention zu übertragen? Und wenn nur wenige extremistische Ereignisse sichtbar werden – deutet das dann auf erfolgreiche Präventionsprogramme hin?

In dieser Podcastfolge spreche ich mit drei Menschen, die sich mit Prävention beschäftigen, praktisch, aber auch theoretisch beziehungsweise kritisch, wie Sabine Achour, Professorin für Politische Bildung und Politikdidaktik an der Freien Universität Berlin:

Sabine Achour:
Was sicherlich auch gesellschaftlich so transportiert wird: Man hat natürlich sofort bestimmte Gruppen im Blick. Also: Wer soll da jetzt eigentlich dieser Prävention unterzogen werden? In der Regel ist man das erst einmal auf gar keinen Fall selbst. Das sind generell immer andere – da wird dann sozialpsychologisch schon klar, warum ich da auch eine sehr kritische Perspektive drauf habe, auf diesen Blick. Es geht eigentlich immer um konstruierte Gruppen, die vermeintlich nicht richtige Einstellung zu irgendwas haben oder – noch schlimmer – nicht das richtige Verhalten an den Tag legen.

MOD:
Wir werden von Sabine Achour noch mehr dazu hören, wie sie politische Bildung denkt und unterrichtet und inwiefern sie Präventionsarbeit als Teil von politischer Bildung sieht – oder eben auch nicht.
Zunächst aber geht es direkt um das Projekt RISE, das den Untertitel trägt: „jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus“. Wie sehen die jugendkulturellen Antworten aus? Wie werden bei RISE Medienpädagogik, Prävention und politische Bildung zusammen gedacht? Welche Chancen birgt das? Was sind die Herausforderungen? Und worin liegen die Risiken?

Insbesondere in Reaktion auf das Erstarken des sogenannten Islamischen Staats sind zahlreiche Programme und Projekte der Islamismusprävention entstanden. In Deutschland arbeiten staatliche ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteur*innen in dem Feld.

An RISE sind zwei Organisationen beteiligt, das „Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis“, JFF, sowie der Verein „ufuq.de“, der sich mit Pädagogik zwischen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus befasst. „ufuq“ bedeutet „Horizont“ auf Arabisch und Türkisch. Es geht darum, Perspektiven zu entwickeln, wie der Mitgründer und einer der Geschäftsführer des Vereins Götz Nordbruch sagt, und damit möglicherweise auch den Horizont zu erweitern.

Götz Nordbruch:
Also, wir wollten nicht mehr darüber diskutieren, ob der Islam zu Deutschland gehört oder Muslime dazugehören, sondern wir wollten das als Realität zum Ausgangspunkt unserer Arbeit machen und dann gucken: Was bedeutet das denn eigentlich für Perspektiven in der pädagogischen Arbeit?

Also, das Thema Prävention ist ja in aller Munde. Oder vielmehr das Thema Islamismus ist in aller Munde und das prägt natürlich auch die Wahrnehmung von uns als Verein. Wir werden zum Beispiel häufig als Feuerwehr wahrgenommen, als ein Verein, der in die Schulen geht, oder in die Jugendeinrichtungen, wenn es dort brennt, wenn es geknallt hat. Und das ist aber nicht das, was wir mit unserer Arbeit verbinden. Wir wollen nicht Feuerwehr sein, sondern wir wollen im Grunde mit ganz normalen Jugendgruppen arbeiten oder mit ganz normalen Lehrerinnen und Lehrern und die beraten und stärken, wie man mit gesellschaftlichen Konflikten z.B. im Zusammenhang mit Religion oder mit Migrationsbiografien umgehen kann.

MOD:
Wie das bei ufuq und im Projekt RISE geschieht, erzählt Götz später noch genauer.
Zunächst jedoch geht es zu Niels Brüggen nach München. Dort leitet er die Abteilung Forschung am JFF. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn zunächst gebeten, zu erläutern, was das JFF macht.

Niels Brüggen:
Wir als JFF, wir sind eine medienpädagogische Fachinstitutionen, heißen eigentlich „JFF –Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis“, und damit haben wir schon eins von drei zentralen Merkmalen benannt, die uns ausmachen, also dass wir unter einem Dach Forschung und medienpädagogische Praxis haben, und da sehr gut eben Hand in Hand arbeiten.
Das ist auch beim Projekt RISE eben der Fall, dass wir da von beiden Abteilungen mitwirken. Noch etwas, was das JFF ausmacht, ist, dass wir die älteste medienpädagogische Einrichtung in Deutschland sind. Das ist per se noch nicht irgendwie toll, aber ich glaube, das ist schon eine Qualität, weil wir eben, wie ich es gerade gesagt habe, Medien jetzt nicht nur mit Blick auf Online-Medien betrachten, sondern eine ganz lange Tradition haben, die auch in unserer Arbeit eine Rolle spielt.

Dass wir uns also mit Film auskennen, dass wir uns mit Hörformaten auch auskennen, alle diese verschiedenen Formate mit Jugendlichen auch praktisch umsetzen können und uns auch wissenschaftlich damit auseinandergesetzt haben. Und das Letzte ist vielleicht noch, dass wir eine bestimmte Haltung haben, also eine pädagogische Haltung, die sich aber auch in der wissenschaftlichen Arbeit niederschlägt. Und das ist so was, würde ich jetzt mal als Subjektorientierung ausmachen, und wir sehen Menschen eben als Gestalter*innen unserer Gesellschaft und damit implizit, dass sie sie eben auch verändern können, zum Positiven natürlich idealerweise.

MOD:
Nochmal zum Einstieg für uns hier und vielleicht auch für den gesamten Podcast: Welche populistischen Aussagen fallen dir spontan ein zu Islamismusprävention?

Niels Brüggen:
Na ja, irgendwie steckt häufig so ein Verständnis da drin: Da gibt’s eine Problemgruppe und die Prävention kümmert sich um diese Problemgruppe. Und dann macht – die fixt das sozusagen. Die fixt alles, was an Problemen mit ihnen besteht, und sichert damit die Gesellschaft ab. Und das ist so ein Sicherheitsdenken, das da drinsteckt. Und ich glaube, das ist was, was wir eben anders sehen oder anders in dem Projekt verfolgen, eher so, dass wir als Universalprävention da herangehen und es dann so verstehen, dass wir mit allen Beteiligten des gesellschaftlichen Zusammenlebens daran arbeiten, dass sie einerseits ein Verständnis für die Vorteile und Grundideen einer freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie sie hier herrscht und herrschen soll, haben und entwickeln, und damit dann andererseits eben gestärkt werden, gegen extremistische Positionen, die diese Grundordnung verletzen, sich zu positionieren bzw. diese eben auch abzulehnen und zu erkennen überhaupt auch.

MOD:
Genau. Wie ist denn das Projekt, du hast es gerade schon erwähnt, „RISE – Jugendkulturelle Antworten auf islamistischen Extremismus“ im vollen Titel, wie ist das Ganze überhaupt entstanden und wann?
Ja, ich denke, da sind so zwei Punkte relevant. Einerseits, dass wir mit den Partnern, mit denen wir es umsetzen, also mit dem Medienzentrum PARABOL in Nürnberg und ufuq in Berlin, schon in Projekten davor zusammengearbeitet haben, und eben die Notwendigkeit sehen, Medienpädagogik und politische Bildung zusammen zu denken und auch zusammen umzusetzen. Und dafür gibt’s viele Gründe. Also, einerseits die Bedeutung von Medien für die Sozialisation heute, dass eben die Orientierung für ganz viele lebensweltliche Fragen, dass da Medien eine große Rolle spielen, bei Jugendlichen, dann aber auch, dass Medien-Gestalten eine Methode ist, um sich mit einem Gegenstand oder mit der gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen. Und das macht Spaß. Und dann sind Medien eben auch eine Möglichkeit, die Perspektive von jungen Menschen in den Diskurs einzubringen.

MOD:
Im Projektnamen steht der islamistische Extremismus. Wenn man auf die Website geht, findet man aber relativ wenig ausdrücklich zum Islamismus. Woran liegt das?

Niels Brüggen:
Ja, ich denke, das hängt eben mit dem Verständnis von Universalprävention, das uns leitet, zusammen. Also, dass wir eben nicht eine Form von Prävention hier realisieren, wo wir direkt extremistische Personen anvisieren und mit denen arbeiten. Da braucht es, glaube ich, andere Ansätze. Und da gibt’s auch andere Akteure, die das machen, sondern wir wollen ja tatsächlich die Voraussetzungen schaffen, dass junge Menschen gestärkt sind, gar nicht erst sich zu radikalisieren, in dem Sinne. Und insofern ist es eben nicht so, dass das ein Projekt ist, das explizit Gegenrede zu extremistischen Positionen formuliert, sondern dass eher wir uns um die Bereiche kümmern, wo eben in extremistischen Ansprachen versucht wird, niederschwellig an lebensweltliche Fragen von jungen Menschen anzudocken, und da dann eben extremistische beziehungsweise ihre Lesarten und Ideologien an diese jungen Menschen heranzutragen. Und da wollen wir eben diese Fragen aufgreifen. Aber einen Diskursraum eröffnen, in dem sich die jungen Menschen eben damit auseinandersetzen können, auf eine Art und Weise, die nicht von diesen Positionen geprägt ist, sondern wo eine reflektierte und reflexive Auseinandersetzung angeregt wird. Deswegen taucht der Extremismus nicht direkt auf, aber das sind die Themen, die auch von extremistischen Akteuren adressiert werden.

MOD:
Das heißt also eben, bei RISE kommen ganz verschiedene Perspektiven zum Tragen. Es ist interdisziplinär, wie auch euer Institut. Es gibt die Forschung, es gibt die Medienpädagogik. Welche Schwierigkeiten bringt das denn dann mit sich, konkret, oder Herausforderungen, wenn ihr mit so einem Projekt in die Schulen geht, oder auch im außerschulischen Bildungsbereich?

Niels Brüggen:
Die erste Herausforderung ist tatsächlich auch im Team schon, also interdisziplinär miteinander zu diskutieren. Und wir brauchen immer wieder Zeit, um Dinge zu diskutieren. Und das ist – das ist gut erst mal! Aber das ist natürlich etwas, was jetzt, wenn wir in die Bildungsarbeit blicken, was immer ein Problem ist. Also, da müssen Formate irgendwie kurz und schnell und zackig sein. Und das ist eben das, was dann sozusagen die große Herausforderung ist, gute Impulse setzen zu können, die junge Menschen interessieren, und wo sie dann Lust haben, davon ausgehend, sich mit diesen Fragen eben auch so auseinanderzusetzen, dass sie mal offen diskutieren, miteinander, also „mal offen“ klingt jetzt so, als wäre das irgendwie total selten. Aber wir haben schon den Eindruck, dass es in bestimmten Themenbereichen eben hilfreich ist, einen guten Impuls zu setzen, um mal vielleicht anders auch über ein Thema zu diskutieren. Und das ist eine große Herausforderung, denke ich.

MOD:
Mit der Medienpädagogik hängt natürlich sehr eng zusammen die Medienkompetenz. Das ist das, was erreicht werden will, dass Menschen kompetent sind, mit Medien umzugehen. Wie hängt das dann konkret mit der Prävention zusammen?

Niels Brüggen:
Ja, da muss ich ein kleines bisschen ausholen, nämlich zu unserem Verständnis von Medienkompetenz: Wir verstehen Medienkompetenz als ein Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit. Und da geht es dann eben tatsächlich nicht nur darum, auch, aber nicht nur darum, mit Medien umgehen zu können, im engeren Sinne die also bedienen zu können, sondern da geht es auch darum, zu reflektieren, was in Medien passiert, was dort präsentiert wird, was sie aber auch für eine Bedeutung für das individuelle Leben, aber auch für unseren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt oder unsere Lebensführung, unsere Abstimmungsprozesse et cetera haben, und auf Grundlage eines solchen Wissens dann auch, über Medienstrukturen und deren Reflexion, ist die Idee, dass Medienkompetenz bedeutet, dass man sich diesem Verhältnis gegenüber positionieren kann, also Einstellungen dazu entwickeln, die dann in Handeln sich überführen. Das kann eben so ein Handeln sein, dass man tatsächlich bestimmte Geräte bedienen kann und das auch tut. Oder eben darüber hinaus Medien auch als Artikulationsmöglichkeit nutzt, sich in den Diskurs mit einzubringen etc. Und da wird dann deutlich, wie eng Prävention und Medienkompetenz zusammenhängt, wenn man so ein Verständnis von Medienkompetenz anlegt.

Übergangsmusik

MOD:
Zu Beginn haben wir bereits Götz Nordbruch von ufuq.de gehört. Götz ist Islam- und Sozialwissenschaftler, 2007 hat er ufuq mit gegründet, und mit ihm habe ich mich getroffen, um über den Präventionsansatz des Vereins und somit auch des RISE-Projekts zu sprechen. Eingestiegen sind wir mit der Frage danach, was seine Vorstellungen von Präventionsarbeit mit Jugendlichen sind:

Götz Nordbruch:
Für mich ist die Arbeit mit Jugendlichen, also Präventionsarbeit mit Jugendlichen lässt sich ganz gut beschreiben mit den Begriffen Resilienz und Empowerment. Also Resilienz beschreibt: Wir wollen Jugendliche stärken im Sinne von sie weniger anfällig machen für die Angebote von islamistischen Akteuren beispielsweise. Also diese Wir-ihr-Narrative, Wahrheitsansprüche, so. Das wäre Resilienz im Sinne von „Wir stärken die Widerstandsfähigkeit von Jugendlichen gegen diese Angebote“. Und der Aspekt des Empowerments ist mir dabei dann wichtig als zweiter Aspekt. Da geht es eben nicht darum, sozusagen Jugendliche in die Lage zu versetzen, extremistischen Angeboten aus dem Weg zu gehen, sondern es geht auch darum, sie zu empowern, d.h. zu stärken in ihrem Selbstverständnis als aktive Teile der Gesellschaft. So.
Und das ist etwas, was in der Präventionsarbeit, glaube ich, oft zu kurz kommt, wenn man Prävention nur in dem Sinne versteht, dass man Jugendliche vor etwas schützen muss, sondern man muss sie auch aktivieren. Man muss Handlungskompetenzen zeigen. Und da sind wir wieder bei dem Thema politische Bildung. Das ist, politische Bildung ist nicht nur zu wissen, wie der Gesetzgebungsprozess funktioniert, sondern politische Bildung ist auch zu wissen: Ich kann mich bei Fridays for Future engagieren und mich für meine Rechte und meine Interessen einsetzen, so. Und das so zusammenzudenken. Das wäre für mich wichtig in der Präventionsarbeit.

MOD:
Und wie geht der Verein da vor? In dieser Arbeit?

Götz Nordbruch:
Also in den Projekten mit Jugendlichen geht es uns darum, letztlich Räume zu schaffen für Gespräche über die Themen, die Jugendliche beschäftigen, für die sie aber sonst beispielsweise im Unterricht keinen Raum haben. Also beispielsweise einen Austausch über Erfahrungen, biografische Erfahrungen, familiäre Erfahrungen, die ja ganz unterschiedlich sind, in der normalen Schulklasse in Duisburg oder Berlin. Also man hat, wenn man die Schulbücher anguckt, hat man immer so den Eindruck, das sind so die klassischen weißen deutschen Mittelschichtsfamilien. Aber das ist natürlich nicht die Realität. Und wenn man so ein Thema nimmt wie die Deutsche Einheit/Fall der Mauer, dann wird ganz deutlich, dass jemand, der in den 1980er-Jahren geboren wurde, in eine Familie mit türkischem Familienhintergrund – die haben das natürlich ganz anders erlebt als jemand, der wie ich aus Delmenhorst kommt, mit einer herkunftsdeutschen Familiengeschichte. So. Und das sichtbar zu machen, das ist ein Ziel von unseren Angeboten mit Jugendlichen, und das bezieht sich natürlich auch auf Religion, weil auch Religion wird ja ganz unterschiedlich gelebt von Menschen allgemein, aber eben auch von Jugendlichen. Und das sichtbar zu machen und dafür einen Raum zu schaffen, damit sich Jugendliche mit diesen letztlich sehr vielfältigen Formen von Religion, Religiosität, Identität auseinandersetzen können.

Und in der Arbeit mit Fachkräften, mit Pädagogen, Lehrerinnen geht es uns aber genauso darum, auf eine ähnliche Weise diese Vielfalt sichtbar zu machen, weil natürlich auch Lehrerinnen mit einem ganz bestimmten Blick auf bestimmte Äußerungen gucken, bestimmte Verhaltensweisen, Gruppen. Und da machen wir die Erfahrung, dass es oft so ein Augenöffner sein kann, wenn man ganz gezielt darauf hinweist oder wenn man Lehrerinnen dazu bringt, sich auf die Perspektive von Jugendlichen einzulassen und das mal mit deren Brille anzuschauen, was da gerade passiert ist, beispielsweise. Dann verändert das eben auch den Umgang mit Jugendlichen.

MOD:
Das heißt, die (Workshops und Materialien) gehen gar nicht so ganz speziell auf Islamismus direkt ein, sondern sind breiter, richtig?

Götz Nordbruch:
Das ist ein Zwiespalt. Also, für uns geht es, wenn man Islamismusprävention machen will, nur zu einem ganz kleinen Teil darum, über den Islamismus zu informieren. Also: Welche Akteure gibt es, wie viel, wie viele Anhängerinnen gibt es? Was ist das Besondere der Ideologie? Das ist nur ein ganz kleiner Teil. Für uns geht’s eher darum – wir nennen das immer das Thema hinter dem Thema. Also, wir versuchen die Themen aufzugreifen, über die Jugendliche letztlich zu islamistischen Organisationen kommen, also beispielsweise Islamisten. Islamistische Angebote in sozialen Medien reden nur zum Teil über Religion, reden viel über lebensweltliche Themen, über Geschlechterrollen, Familiengeschichten, Konflikte im Nahen Osten. Und das sind die Themen, die auch bei Jugendlichen relevant sind. Und zwar bei allen, nicht nur bei muslimischen Jugendlichen, sondern bei allen. Und über diese Themen, die sonst nirgends behandelt werden oder nur wenig behandelt werden, entsteht halt ein Interesse für die Angebote, die auch von Islamisten benutzt – gespielt werden. Und das heißt, für uns ist ein großer Teil – da geht’s um lebensweltliche Themen, die für Jugendliche relevant sind. Und darüber kommen wir dann eben zu der Frage: Wie hängt das mit dem Islamismus zusammen?

MOD:
Eine Anschlussfrage, die mir jetzt noch kommt. Gibt es unter den Jugendlichen, wenn man dann mit solchen Angeboten kommt, gibt es da manchmal das Gefühl: Ah, jetzt kommen die und wollen Prävention machen und uns hier – erziehen?

Götz Nordbruch:
Ja, also, wir haben in den ersten Jahren, da liefen unsere Projekte wirklich auch noch unter dem Label „Islamismusprävention“. Und dann gab es so Situationen, dass eine Lehrerin unsere Workshops angekündigt hat, in einer Schulklasse mit: „Wir machen Salafismus-Workshop“. Dann kann man natürlich gleich wieder nach Hause gehen, weil ganz klar ist: Dann sind wir verbrannt. Weil – dann ist das von oben herab. Das ist nicht das Thema, was die Jugendlichen von selbst gewählt haben, sondern das ist halt die Schulleitung oder die Klassenlehrerin. Und für uns ist es wirklich wichtig zu gucken, wie können wir in unseren Angeboten auch die Themen aufgreifen, die von den Jugendlichen selbst kommen, weil, nur so gibt es überhaupt ein Interesse an dem Thema, und – der Bezug zum Islamismus, den kann man dann im zweiten Schritt herstellen. Aber erst einmal geht es uns wirklich um die Frage: Welche Themen interessieren die Jugendlichen? Und dann ist es relativ leicht, mit all diesen Themen dann auch letztlich so einen Präventionsgedanken zu verbinden, weil jede Frage zu – zum Verhältnis von Jungen und Mädchen, auch wenn man das erst mal ganz allgemein diskutiert, hat das letztlich eine präventive Wirkung.

MOD:
Dieser Ansatz ist der, ich sag jetzt mal, typisch deutsch. Also, gibt es ganz andere Ansätze, wenn man zum Beispiel nach Frankreich guckt?

Götz Nordbruch:
Also, das ist schon auffallend. Wenn man sich beispielsweise in Frankreich Fortbildungen zum Thema Prävention anguckt, dann geht’s ganz viel um islamische Theologie. Es geht ganz viel um Geschichte islamistischer Bewegungen. Und es geht ganz viel um sowas wie den Laizismus, den rechtlichen Rahmen des Laizismus. Und das ist aus meiner Sicht sehr formal. Und ich glaube auch, dass das zu kurz gedacht ist, weil das letztlich – also es gibt – Herr Behlmann, der ist Entwicklungspsychologe in Jena. Der hat mal bei einer Veranstaltung gesagt: „Die Wirkung von Aufklärung in der Prävention geht gegen null“. Und ich glaube, das ist sehr zugespitzt. Aber da steckt ganz viel drin. Das heißt, wenn ich Rechtsextremismusprävention machen will, dann reicht es nicht, nur über die NPD oder die AfD zu sprechen, sondern ich muss gucken: Warum sind diese Ideologien und Bewegungen in der Gesellschaft überhaupt stark geworden? Warum gehen die Leute dorthin? Was? Was kriegen sie dort? Und diese Frage: Was kriegen die Leute dort? – Das ist etwas, was, ich glaube, in Frankreich beispielsweise ganz selten nur gefragt wird. Und das ist aber für viele Präventionsprojekte in Deutschland viel selbstverständlicher. Und das liegt, glaube ich, daran, dass es auf der einen Seite eine lange Geschichte und eine längere Geschichte der Rechtsextremismusprävention gibt, wo man viele Erfahrungen aufgreifen kann. Und weil es vor allem pädagogische Projekte sind, also, die nicht mit dem Sicherheitsblick auf das Problem gucken, sondern die tatsächlich versuchen, aus der Perspektive von Jugendlichen oder von Betroffenen letztlich zu verstehen, warum Jugendliche dort hingehen. Und das ist ein anderer Blick als in vielen anderen Ländern.

MOD:
Wie misst sich Prävention? Das lernen wir ja gerade alle mit Corona: „There is no glory in prevention“. Wir sehen den Erfolg nicht, sozusagen, wenn das nicht eintritt, was wir verhindern wollen. Wie sieht es in dem Gebiet aus?

Götz Nordbruch:
Also eine richtige Wirkungsmessung ist extrem schwierig. Also, man – wenn man das jetzt wissenschaftlich macht, dann bräuchte man Vergleichsgruppen, man bräuchte letztlich einen Laborrahmen, und das lässt sich natürlich in der Bildungsarbeit grundsätzlich nur schwer umsetzen. Das heißt, für uns geht es sehr viel darum, rauszukriegen, wie die Angebote, die wir machen, bei den Beteiligten wahrgenommen werden: Wie verändert sich die Stimmung oder die Atmosphäre in der Schulklasse? Haben die Schülerinnen den Eindruck, Themen angesprochen zu haben, für die sie vorher keine Gelegenheit hatten, darüber zu sprechen? Oder wenn es um die Lehrkräfte geht, die wir fortbilden, dann geht es darum: Fühlen sie sich selber gestärkt, wenn sie zwei Wochen später eine ähnliche Situation haben, mit der sie vorher noch Probleme hatten? Das ist eher so der Blick, den wir darauflegen. Und was für uns eben auch ein wichtiges Ziel ist: Wir wollen nicht nur unsere Projekte selbst irgendwo umsetzen, sondern wir wollen andere inspirieren und anregen, ähnliche Ansätze umzusetzen. Das heißt, für uns ist ein wichtiges Kriterium auch, ob wir eine Reichweite haben mit den Angeboten.
Also: Werden die Sachen bei uns bestellt, werden die Sachen runtergeladen von der Webseite? Weil das für uns ein Zeichen ist, dass das Thema relevant ist, dass das nicht nur uns interessiert, sondern auch andere. Und dass die Leute da tatsächlich einen praktischen Nutzen von haben. Und eine Messbarkeit wäre ja, wenn in ein paar Jahren Islamismusprävention gar nicht mehr nötig wäre. Sie war es schon mal. Also sie gibt’s ja auch noch gar nicht so lange, vielleicht.

MOD:
Ist das eine Aussicht für 2025, dass wir keine Islamismusprävention mehr brauchen?

Götz Nordbruch:
Also, ich glaube, das ist eine schwierige Frage, weil zum einen glaube ich, dass das, was wir, nicht nur wir, sondern die Präventionslandschaft insgesamt tut, ist letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist – in Deutschland gibt es sehr viel Geld in diesem Bereich, sehr viele Träger, sehr viele Engagierte. Aber wenn man das vergleicht mit dem, was im Bildungsbereich oder im Jugendbereich sonst passiert, ist das nur ein ganz, ganz kleiner Baustein. Das heißt, für uns wäre ein Ziel, dass beispielsweise Jugendarbeit und Bildungsarbeit allgemein gestärkt wird.Die 200 Millionen, die jetzt für den Bereich der Prävention vom Familienministerium in den nächsten Jahren geplant sind, das ist viel auf der einen Seite, ist aber sehr wenig, wenn man sich anguckt, was im Bildungsbereich und in der Jugendarbeit sonst fehlt. Das heißt, ich glaube, es wäre naiv anzunehmen, dass wir in fünf Jahren in einer konfliktfreien Gesellschaft leben, weil wir so gut gearbeitet haben. Also, das ist mit Sicherheit nicht realistisch. Was man aber sagen kann, ist, dass sich das verändert.
Also, wir merken das selber, dass wir beispielsweise 2007, als wir angefangen haben, da ging es um andere Phänomene letztlich. Es ging um die Muslimbruderschaft, es ging um die Hisbollah, um die Hamas. Auch um islamistische Organisationen, aber das waren andere Organisationen als die, mit denen wir es heute zu tun haben. Die dahinter liegenden Fragen, also Fragen von Identität, religiöser Vielfalt, wie gehe ich mit Religion um in meinem Alltag? Diese Fragen sind gleich geblieben. Und da würde ich sagen, das wird auch in fünf Jahren noch so sein, dass die Frage von: Wie werden Migrationsbiografien abgebildet in der Gesellschaft? Wie werden unterschiedliche Bedürfnisse, die eben auch durch Migration bedingt sind oder durch Migration geprägt werden, wie werden die im Schulalltag abgebildet? Das wird in fünf Jahren genauso sein. Aber ob das dann noch Islamismus heißt oder „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ oder wie auch immer, das sei dahingestellt.

Übergangsmusik

MOD:
So viel sei vorweggenommen: Am Ende unseres dritten Gesprächs beantwortet Sabine Achour die Frage nach der Zukunft der Islamismusprävention ganz anders. Sabine Achour ist, wie zu Anfang erwähnt, Professorin für politische Bildung und Politikdidaktik in Berlin. Vor ihrer wissenschaftlichen Karriere hat sie als Studienrätin für die Fächer Politik, Geschichte und Latein gearbeitet. Wie ihr Blick auf unser Thema ist, das erläutert sie gleich. Eingestiegen in das Gespräch bin ich mit der Frage danach, wie sich für sie politische Bildung und Prävention unterscheiden?

Sabine Achour
Ich denke, in erster Linie ist es die Perspektive. Das hört sich jetzt vielleicht so akademisch an. Aber die politische Bildung guckt eigentlich subjektorientiert und ist in ihren Zielen prinzipiell ergebnisoffen. Und Präventionsarbeit ist ganz stark systemorientiert. Also, man versucht Individuen zu haben, die nicht auffällig sind, also die sich so verhalten, dass sie auch nicht stören. Das heißt dann aber auch, dass die Zielperspektive natürlich total geschlossen ist. Also, man weiß ja, wo die Reise eigentlich dann hinzugehen hat.

Und das ist, denke ich, vor dem Hintergrund für politische Bildung auch problematisch, weil sie ja eigentlich, wenn man am Subjekt anschließt, geht es auch um das Recht auf Teilhabe. Also, es geht wirklich auch um rechtliche Ansprüche. Das ist ein Menschenrecht. Es geht um Fragen von Inklusion, auch, und jetzt nicht nur von Menschen mit Handicaps, sondern tatsächlich: Wie – wie schaffen wir das, in der politischen Bildung Selbstwirksamkeit zu unterstützen, um mündige Individuen dann auch auszubilden? Und das ist letzten Endes ja die Zielsetzung von politischer Bildung in einer offenen Gesellschaft. Dass wir sagen, wir fördern Emanzipation, politische Mündigkeit, das eigene Gestalten, das selbst Gestalten von Gesellschaft. Und diese Perspektive hat Präventionsarbeit erst mal überhaupt gar nicht. Also, und letzten Endes: Gute politische Bildung zeichnet sich auch dadurch aus – Schule mag jetzt nochmal ein eigenes Feld sein –, aber dass Teilnehmende eigene Themen setzen, also auch die Arbeitsweise, wie sie arbeiten und was letzten Endes das Ergebnis ist.

Und wir hoffen denn, also, wir können da vielleicht noch von „Prävention durch die Hintertür“ sprechen. Aber in erster Linie – politische Bildung ist, also begrüßt erst mal völlig vorurteilsfrei alle Teilnehmenden und hat gar nicht diese geschlossene Zielsetzung, danach den lupenreinen Demokraten aus dem Workshop entgehen zu lassen.

MOD
Es gibt ein Plädoyer auch von dir, dass es nicht vermischt werden sollte, die Präventionsarbeit und politische Bildung. Wenn man trotzdem davon ausgeht: Es gibt extremistische Einstellungen und es gibt die Politikdidaktik. Wie wäre für dich aus politikdidaktischer Sicht der richtige Umgang mit extremistischen Einstellungen?

Sabine Achour:
Wenn es tatsächlich darum geht, dass wir von manifesten rechtsextremen, salafistischen, antisemitischen Einstellungen ausgehen, hat politische Bildung eigentlich kaum eine Chance, erfolgreich zu sein. Also, weil das auch gar nicht ihre Zielsetzung ist, sondern, wenn wir tatsächlich mit solchen Individuen oder Gruppen zu tun haben, dann sind wir in einem ganz anderen Arbeitsfeld, was gar nicht mehr pädagogische Arbeit ist, sondern das geht ganz schnell Richtung Exit-Programme, soziale Arbeit – also in diese Richtung, wo man, denke ich, auch eine ganz, ganz andere Expertise braucht, als die Vorstellung, dass wir wirklich jetzt mit Workshops oder auch Wochenreisen oder Wochenendreisen in Bildungsstätten tatsächlich die Chance hätten, daran wirklich was zu ändern. Das muss man sich, denke ich, immer nochmal ganz, ganz klarmachen. Also, das heißt letzten Endes, wenn politische Bildung hier was erreichen soll, dann müssen wir tatsächlich auch in die Strukturen gucken. Also, dass man Regelstrukturen aufbaut, wenn man wirklich aus der pädagogischen Perspektive darauf achtet, dass man sagt, Jugendliche, die Demokratieerfahrung frühzeitig gemacht haben, die politische Bildung oder auch Demokratiebildung erfahren haben, dass die aufgrund von Selbstwirksamkeitserfahrung weniger anfällig sind für Angebote, die erst einmal vermeintlich attraktiv sind.

Und was auch der Unterschied ist – also, soziale Probleme werden ganz stark individualisiert. Das ist denn der oder die Jugendliche, die auch vielleicht sich als muslimisch bezeichnet, die sich dann irgendwie falsch verhält, und wir schauen gar nicht mehr auf gesellschaftliche Barrieren, die wir möglicherweise haben. Und wir fragen auch nicht mehr warum: Also, was hat jetzt eine Jugendliche, einen Jugendlichen motiviert, sich bestimmten salafistischen islamistischen Gruppen anzuschließen? Also, was suchen die da? Und was ja auch total spannend ist – und deshalb finde ich auch diese Zielgruppenspezifik so problematisch – insbesondere im Kontext des IS. Dem haben sich ja viele Jugendliche angeschlossen, die überhaupt nicht aus muslimischen Kontexten gekommen sind. Also, dass man sehr viel weiter sozialwissenschaftlich fragen muss: Was steht da eigentlich dahinter?

MOD
Wird denn innerhalb der Politikdidaktik dann überhaupt mit dem Extremismusbegriff hantiert, oder?

Sabine Achour:
Ich kenne das ehrlich gesagt ganz selten. Das hört sich jetzt auch wieder so professoral akademisch an, ich würde aber mal sagen, dass die meisten politischen Bildner*innen, die aus dem Feld auch – oder die in den Sozialwissenschaften ihre Ausbildung haben – diesem Begriff gegenüber sehr kritisch sind. Dieser Extremismusbegriff kommt ganz stark aus der Sicherheitspolitik, der ist von Sicherheitsbehörden ins Leben gerufen worden, diese Hufeisentheorie – und wenn sie vertreten wird, sind das insbesondere konservative Politikwissenschaftler. Ich glaube, ich kann auch bei der männlichen Form diesmal bleiben. Und dass man einfach schon merkt: dass diese Vorstellung, die dahintersteht, dass wir in der Mitte so reine Demokraten haben. Und dann wird das so an den Rändern, da wird es erst ein bisschen schmuddelig und dann wird es ganz schlimm – und das funktioniert gar nicht. Zumindest seit wir die Mitte-Studien haben, Einstellungsstudien zu Ideologien der Ungleichwertigkeit, wo jetzt zum Beispiel gar nicht Islamismus-Salafismus tatsächlich abgefragt wird, aber zu allen anderen Einstellungsmustern wissen wir eben auch: Die sind überall verbreitet.

Und ich glaube, das ist eben auch eine ganz, ganz zentrale Erkenntnis für politische Bildung und auch für uns politische Bildner*innen, dass wir zum einen alle nicht frei sind von, na ja, vermeintlich extremistischen Mustern oder wie man das dann auch bezeichnen möchte. Also, dass das eigentlich eine permanente Arbeit auch an einem selbst ist, damit umzugehen. Und wir würden tatsächlich bestimmte Gefahren gar nicht wahrnehmen. Also, wenn wir immer mit diesen Rändern meinen arbeiten zu müssen, dann würden wir unsere Arbeit nicht gut machen. Und natürlich wären immer noch extremistische Einstellungen in welcher Konnotation – die wären gesellschaftlich natürlich noch da.

Übergangsmusik

MOD:
Die Extremismusprävention unterscheidet zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Die primäre Prävention wird dabei auch als universelle Prävention bezeichnet. Sie richtet sich also an alle und zielt ganz allgemein darauf ab, Problemlagen zu verhindern. Die sekundäre Prävention hingegen richtet sich gezielt an Betroffene, das heißt, sie werden in Kategorien eingeteilt, um die Zielgruppe von Maßnahmen identifizieren zu können. Die tertiäre Prävention wiederum bezieht sich unmittelbar auf diejenigen, die bereits von einer Problemlage betroffen sind, und möchte sie erreichen, um sie zu resozialisieren.

Sabine Achour hat das in einem Text für den Bildungsblog der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit dem Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, Thomas Gill, näher beschrieben. Sie haben ihre Text bereits vor der Corona-Pandemie veröffentlicht und beschäftigen sich darin kritisch mit dem Präventionsbegriff, der eben zuallererst mit der Medizin in Verbindung steht. „Politische Einstellungen, Konzepte und Akteure sind keine Krankheiten oder Krankheitserreger“, heißt es da. Die Autor*innen führen daher den Begriff der „quartären Prävention“ ein, mit dem in der Medizin gemeint ist, dass überflüssige oder überdimensionierte Maßnahmen vermieden werden, und sie übertragen diese Vorstellung auf Extremismusprävention. Sabine Achour plädiert also dafür, den Präventionsgedanken aus dem Bereich der politischen Bildungsarbeit rauszuhalten, sondern sich vielmehr darauf zu fokussieren, politische Teilhabe zu fördern. Im Gespräch hat sie die Idee dahinter ausgeführt:

Sabine Achour:
Und da geht es gar nicht darum, bestimmte Problemstellungen nicht wahrnehmen zu wollen. Das wäre natürlich auch falsch. Also, wenn wir mitkriegen, dass wir gesellschaftliche Konflikte haben, die sich um den Islam drehen, um Rechtspopulismus drehen, um Judentum drehen, ist das natürlich wichtig, auch konstruktiv drauf zu gucken, was man machen kann. Ich würde mir aber tatsächlich wünschen, dass wir den Blick so ein bisschen ändern und da auch schauen, also zum einen auf die gesellschaftlichen Probleme, die dahinterstehen. Also, was muss sich da eigentlich ändern, dass nicht das Individuum dafür verantwortlich ist, dass wir jetzt irgendwie – dass die Demokratie funktioniert?
Das sind natürlich auch Fragen von Inklusion, von Teilhabe. Das sind genau diese Fragen: Wie können wir hier eigentlich Teilnehmende so stärken, dass sie sich selbst empowern können, dass sie Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können? Wo sind vielleicht auch genau die Teilhabe-Barrieren? Und da liegt Expertise ja insbesondere bei uns im Feld der politischen Bildung, Prozesse zu begleiten, auch Frustrationen aufzunehmen, Interessen wahrzunehmen. Also, wie kann hier z.B. auch eine aufsuchende politische Bildungsarbeit irgendwie stattfinden? Und was mir tatsächlich auch nochmal wichtig ist, dass – diese Verwendung der Begrifflichkeiten von „Islamismus“ oder „Salafismus“ – das ist ja recht populärwissenschaftlich.
Also, die sind eindeutig negativ. (…) Das ist mir natürlich klar, dass das auch eine sehr konservative Perspektive auf Religion und auf Islam ist. Trotzdem finde ich das wichtig, hier auch nochmal einen wissenschaftlich differenzierten Blick darauf zu werfen: Wo sind aber trotzdem eventuell Ansatzpunkte für Verknüpfung von, von mir aus auch eine konservativere Lesart des Islams, von Demokratie, Pluralismus, Offenheit – also, all diese Fragen, um da vielleicht auch noch was rausfinden zu können, was für die Bildungsarbeit wichtig ist, weil man wird nicht gegen Jugendliche, man wird nicht gegen Elternhäuser politische Bildung machen können. Das ist relativ klar. Und ich bin da auch relativ optimistisch, weil in dem Feld ja nach Jahrzehnten was passiert: Es gibt Lehrstühle für islamische Theologie, für muslimischen Religions- oder islamischen Religionsunterricht. Und ich glaube, alles, was in dem offenen Feld z.B. von Schule stattfindet, ist gut, weil es da zum Austausch kommen muss, weil z.B. auch Konflikte offen miteinander im Zimmer mit Lehrkräften besprochen werden müssen. Also, es findet nicht irgendwo in Hinterhöfen statt, sondern das muss gemeinsam eben ausgehandelt werden. Und das ist dann auch Demokratie.

MOD:
Das heißt, eigentlich verlagert sich das, oder es findet einfach alltäglich im Schulunterricht beispielsweise statt?

Sabine Achour:
Genau, und es verhärten sich auch weniger Perspektiven und Sichtweisen. Das ist ja auch eine Form von diesen Bubbles, ne?! Also, wenn ich mich immer in einem geschlossenen Raum befinde, und das wird gar nicht infrage gestellt und ich muss auch nicht argumentativ vertreten, warum ich jetzt bestimmte Dinge gut finde, für meine Art zu leben, und das bei anderen nicht gut finde oder etwas anderes erwarte – wenn ich gar nicht in diesen Austausch kommen muss.
Und ich finde, Schule ist eigentlich das Feld, oder auch Jugendbildung natürlich, im außerschulischen Bereich, wo wir genau diese Fragen miteinander aushandeln können. Das weiß man ja auch so, dass, wenn wir jetzt den Präventionsbegriff nochmal verwenden wollen, dass es besonders gut ist, oder dass man insbesondere dann keine abwertenden, menschenfeindlichen Einstellungen anderen Gruppen gegenüber ausbildet, oder weniger, wenn ich mich in einem von Diversität geprägten Umfeld, in einem pluralistischen Umfeld viel bewege und diese Erfahrung auch permanent mache, sowohl die des Konfliktes, dass alle das gar nicht so genauso sehen wie ich, aber eben auch diesen konflikthaften Aushandlungsprozess durchzuführen.

MOD:
Ja, wenn wir also nochmal bei Prävention sind, würde ich dir gerne trotzdem die Frage stellen: Denkst du, dass es im Jahr 2030 noch Islamismusprävention geben wird?

Sabine Achour:
Tatsächlich würde ich mir eher wünschen, dass wir von dieser Versicherheitlichung von politischer Bildung wegkommen. Das ist so der eine Punkt, dass man hier die Perspektive tatsächlich nochmal wendet und dass man auf Fragen von „Wie können wir Teilhabe möglich machen für Jugendliche, aber eben auch für Erwachsene?“, was z.B. jetzt ja im Kontext von Flucht und Migration und politischer Teilhabe und politischer Bildung auch eine ganz, ganz große Frage ist, und auf der anderen Seite tatsächlich nochmal auf diese Begrifflichkeiten zurückzukommen, den etwas differenzierten Blick auch auf Begriffe wie Islamismus oder Salafismus zu werfen. Also, sich nochmal bewusst zu werden, das ist nicht immer äquivalent zu Terrorismus. So. Und da vielleicht auch mit Jugendlichen dran zu arbeiten, weil natürlich auch in den Köpfen von Jugendlichen ganz schnell ganz naive Konzepte sind. Das ist ja ganz selten irgendwie wissenschaftlich fundiert, sondern wir kennen es ja auch. Wir erleben was auch immer: Weltanschauung, Religion, wie sie in Elternhäusern gelebt werden. Das ist dann halt so. Und wenige von uns sind ja da theologisch sicher. Genau. Insofern hoffe ich und glaube ich es nicht, dass wir 2030 noch eine Islamismusprävention brauchen.

Übergangsmusik

MOD:
Götz Nordbruch von ufuq.de kennt die Arbeit von Sabine Achour gut, wie auch ihre Kritik, und auch er will nicht, dass politische Bildung und der Präventionsgedanke ineinander fallen und als identisch betrachtet werden, und hat noch einmal erläutert, wie er beides im Verhältnis zueinander sieht:

Götz Nordbruch:
Ich finde diese Diskussion wichtig, weil es, glaube ich, tatsächlich ein unterschiedlicher Blick ist. Für uns ist aber das Argument, dass wir Methoden der politischen Bildung nutzen, um präventive Wirkung zu erreichen. Und das ist ja auch unbestritten, dass eine Frage von einer Unterrichtseinheit zur politischen Bildung immer auch eine präventive Wirkung hat. Für uns ist wichtig zu betonen, dass sich die Funktion von politischer Bildung eben nicht auf das Präventive beschränkt, sondern, auch wenn es keinen Rechtsextremismus gibt, ist politische Bildung notwendig, auch wenn es keine Homophobie gibt, ist politische Bildung notwendig.

MOD:
Zum Schluss habe ich Niels Brüggen dann noch gefragt, worin er die ganz spezielle Rolle der Medienpädagogik sieht, in dem Dreieck von universeller Prävention, politischer Bildung und Medienpädagogik.

Niels Brüggen:
Na ja, angesichts der Bedeutung von Medien heute kann ich mir sowohl medienpädagogische Arbeit ohne eine politische Haltung oder ohne sich auch mit politischen Themen auseinanderzusetzen, und damit eben politische Bildung zu betreiben, nicht vorstellen. Genauso wenig, wie ich mir vorstellen kann, dass man politische Bildung betreibt, ohne sich mit Medien auseinanderzusetzen. Insofern ist das mit dem Spezifischen gar nicht so trivial, so auseinanderzusetzen, weil es ganz eng miteinander verbunden ist. Ich glaube, dass das Spezifische, was eine Medienpädagogik beitragen kann, ist oder sein könnte, eben auf zwei Ebenen liegt, die ich gerade schon angedeutet hatte: Das eine ist tatsächlich, Medien als Werkzeuge zu verstehen. Also, das kann eine Methode sein. Ebenso, dass man bei der Gestaltung eines Films sich eben, wenn man sich überlegt, was will ich denn für einen Film zu Themen machen, die irgendwie mit islamistischem Extremismus zu tun haben oder dann auch die vielleicht auch mit Gesellschaftskritik zu tun haben. Oder die mit der Auseinandersetzung mit Werten und Geschlecht oder Gender. Dass man sich dann natürlich mit diesem Themenbereich auseinandersetzt, und das eine Methode ist, die für junge Menschen nach wie vor interessant ist, und die potenziell eben auch dazu führen kann, dass Beiträge entstehen, die eine Relevanz oder eine Bedeutung im – vielleicht nicht, kein Blockbuster werden, natürlich nicht, aber im sozialen Umfeld oder zumindest schon mal in der Gruppe auch für eine tief gehende Auseinandersetzung sorgen. Und insofern ist es auf so einer methodischen Ebene eine Besonderheit, die die Medienpädagogik einbringen kann.
Das andere habe ich vielleicht vorhin mit dem, oder habe ich zumindest versucht, mit dem Verständnis von Medienkompetenz zu skizzieren, dass wir eben in einer Gesellschaft leben, in der Medien oder medienvermittelte Kommunikation eine ganz zentrale Bedeutung einnehmen, wenn wir an alle Formen des Aushandelns von politischen Kompromissen oder Positionen denken. Und da können wir, glaube ich, eine ganze Menge beitragen im Sinne des Verständnisses, welche Bedeutung hier Medien für die Sozialisation und dann auch die politische Meinungsbildung haben.

MOD:
So weit die erste Folge unseres RISE-Podcasts zu Identität, Pluralismus und Extremismus mit dem Schwerpunkt „Prävention“. Wie all das, was ihr hier gehört habt, sich ganz konkret niederschlägt, könnt ihr auf der Internetseite des RISE-Projekts nachlesen und nachschauen. Dort gibt es Hintergrundinformationen, pädagogische Materialien und Videoproduktionen junger Menschen. Die Adresse lautet „rise-jugendkultur.de“ und mir bleibt, mich von euch zu verabschieden – bis zur nächsten Folge!