Entstanden ist kritisches Weißsein in der lebensweltlichen und akademischen Auseinandersetzung von Schwarzen Personen bzw. People of Color mit rassistischen Zuschreibungen und Strukturen (Piesche 2017a). Zentral war dabei einerseits ein historischer Zugang, der sich mit den Folgen von Sklaverei und Kolonialismus beschäftigte, und anderseits ein wissenschaftssoziologischer, der kritisch betrachtete, wie die von der weißen Mehrheitsgesellschaft betriebene Wissenschaft Ergebnisse produziert und darstellt. Beide Zugänge sind ziemlich abstrakt. In diesem Text sollen sie deswegen anhand von Beispielen in drei Schritten einführend dargestellt werden:  Anfänglich geht es darum, was es heißt, weiß zu sein. Anschließend geht es um einen kritischen Blick auf weiße Geschichtsschreibung. Im Schlussteil wird kritisches Weißsein als eine andere Form identitätspolitischen Engagements für Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft vorgeschlagen.

  • Was ist die Mehrheitsgesellschaft? einklappen

    Mehrheitsgesellschaft bezeichnet in Deutschland Menschen und Gruppierungen, die als weiß bezeichnet werden können (siehe unten und „Schwarz und weiß?“).

  • Schwarz und weiß? einklappen

    Schwarz und weiß sind Adjektive, die Farben bezeichnen. Historisch hatten sie als Beschreibungen von Menschen jedoch auch eine starke politische Bedeutung, die bis heute wirksam ist. Weiße Menschen waren im Kontext von Kolonialismus und Sklaverei in einer machtvollen Position, Weißsein wurde mit kultureller Überlegenheit sowie verschiedenen Privilegien verbunden und damit deutlich von der Position Schwarzer Menschen unterschieden. Weiß (kursiv) und Schwarz (groß geschrieben) markieren deswegen in rassismuskritischen Texten, dass die Begriffe gesellschaftspolitische Positionierungen bezeichnen.

Ich bin weiß, äh, was?

Kritisches Weißsein ist akademischer Diskurs, Aufruf zu gesellschaftspolitischem Engagement und Anlass zu Selbstreflexion in einem. Zielgruppe sind vor allem Menschen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, das heißt Weiße. Voraussetzung kritischen Weißseins ist, dass weiße Menschen ihr Weißsein sichtbar und damit für sich selbst erfahrbar machen. Dieser Ansatz bedeutet konsequenterweise, dass auch der Autor dieses Textes sich nicht hinter einer neutralen Beobachterperspektive verstecken kann: Vielmehr muss ich als weiße Person hier mit meinem Erfahrungshorizont in Erscheinung treten. Kritisches Weißsein heißt, sich selbst als Weißer bewusst neu zu positionieren und damit die Strukturen seiner Umwelt im Kleinen zu verändern. Lebensweltliche Ausgangspunkte dafür gibt es viele. Sie sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Für meine Ausgangspunkte dieses Prozesses gebe ich im Folgenden zwei Beispiele wieder:

Zwei persönliche Beispiele

Während meiner Zeit an der Bayreuther Internationalen Graduiertenschule für Afrikastudien (BIGSAS) saß ich nach einem mehrmonatigen Auslandaufenthalt in einem Seminar mit internationalen und ausschließlich Schwarzen Kolleg*innen. Am Anfang des Seminars stellten wir uns der Reihe nach vor, ich kannte viele Teilnehmende noch nicht, Arbeitssprache war Englisch. Ich war fast der Letzte, der an die Reihe kam. In meiner Vorstellung flocht ich den Satz, dass ich in der Runde ja der einzige Deutsche sei. Eine Schwarze Kollegin widersprach umgehend. Sie sei auch Deutsche, ihre Eltern kämen aus dem Sudan. Bedauern und Hilflosigkeit meinerseits, das Seminar lief weiter.

Abb. 2, Symbolfoto für einen akademischen Workshop Christina Morillo, pexels

Das zweite Beispiel: Während Forschungsarbeiten im Senegal war bei meiner Schwarzen Gastfamilie vorübergehend der in Kanada studierende Sohn anwesend. Eines Nachmittags kam es im Hof des Hauses zu einer längeren Diskussion. Er machte mir gegenüber klar, dass ich als Weißer ein Profiteur des Kolonialismus und eines bis heute ungerechten Systems sei. Ich verwies auf die kurze Kolonialgeschichte Deutschlands, was inkorrekt war und was er zu Recht nicht gelten ließ. Er zählte mehrere kontroverse Beispiele dafür auf, wie die Leistungen Schwarzer Menschen bis in die Gegenwart falsch repräsentiert werden. Er brachte das Beispiel von Cheikh Anta Diop, einem bekannten senegalesischen Historiker, der rassistische Zuschreibung der etablierten Geschichtsschreibung radikal hinterfragte. Diop versuchte unter anderem nachzuweisen, dass die Erbauer*innen der ägyptischen Pyramiden schwarzer Hautfarbe gewesen seien und ihre Sklav*innen weiß. Über Ägypten kam mein Gesprächspartner auf Rassismus bei Johann G. Herder und Georg W. F. Hegel und viele andere Beispiele sowie letztlich sogar auf Jesus Christus, von dem er sagte, dass dieser – anders als er gemeinhin dargestellt werde – Schwarz gewesen sein müsse.

Beide Beispiele wühlten mich nachhaltig auf. Mit meiner missglückten Vorstellung im Seminar bestätigte ich unbewusst eine Grenze, nach der Deutsche*r nur sein könne, wer auch weiß sei. Hätte ich gesagt, dass ich der einzige Weiße in der Runde war, wäre es korrekt gewesen. Aber ich markierte mich nicht als weiß, sondern nutzte als Selbstbeschreibung meine deutsche Staatszugehörigkeit, die ich an mein Weißsein band und gedankenlos einer Schwarzen Kollegin absprach. Meine Aussage war unbedacht dahingesagt und gleichzeitig rassistisch. Sie macht deutlich, wie wichtig es sein kann, seine eigene weiße Positionierung wahrzunehmen und anzuerkennen. Denn nur so wird es möglich, kritisch zu hinterfragen, womit sie (un-)bewusst verbunden wird und welche Auswirkungen sie auf die Positionierungen anderer Menschen hat.

Neuer Blick auf weiße Geschichtsschreibung

Die Diskussion im Hof meiner Gastfamilie im Senegal sprengt thematisch den Rahmen dieses Textes. Auch geht es hier nicht um eine kritische Einschätzung der Arbeiten von Cheikh Anta Diop oder der anderen Aussagen. Wichtig an der Diskussion war, dass sie (mir) unmissverständlich klar machte, dass die eigene gesellschaftliche Positionierung als Weiße*r auf historischen Strukturen und Machtgefällen basiert, deren anhaltende Wirksamkeit für Weiße gemeinhin weniger erfahrbar ist als für Schwarze Menschen und People of Color. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte und ihrer fortdauernden Aktualität gehört zu den Herausforderungen, die elementar zum kritischen Weißsein gehören. Dabei kann es helfen, sich deutsche Kolonialgeschichte auch in Zahlen zu vergegenwärtigen. Die ehemaligen kolonialen Territorien liegen heute in elf verschiedenen Ländern: Togo, Kamerun, Namibia, Tansania, Ruanda, Burundi, China, Samoa, Marshallinseln, Papua-Neuguinea, Mikronesien (Palau, Marianneninseln, Karolinen). Die Fläche dieser Kolonien war mit ca. 3,6 Millionen Quadratkilometern mehr als zehnmal größer als die der Bundesrepublik.[1] Zählt man die Einwohner*innen dieser Gebiete zusammen, dann betrifft die deutsche Kolonialgeschichte heute über 100 Millionen Menschen – direkt und außerhalb Deutschlands.[2]

Sich bewusst zu machen, dass diese Geschichte zum Weißsein in Deutschland gehört, ist jedoch nicht weit verbreitet. Das deutsche und europäische Selbstbild bestimmen römisches Recht, Christentum und die Aufklärung. Die Schattenseiten der damit verbundenen Errungenschaften geraten dabei schnell aus dem Blick: Sklaverei, Rassetheorien, Kolonialismus und Shoa (vgl. Arndt 2017, S. 24). Ein Ziel der Arbeiten zu kritischem Weißsein ist, genau diese Schattenseiten sichtbar zu machen. Kritisches Weißsein erweitert die europäische Geschichtsschreibung zum einen um schmerzhafte Momente[3], indem es aufzeigt, wie die Entmenschlichung der Sklaverei mit Rassetheorien begründet wurde, wie letztere später in Teilen zur Rechtfertigung des Kolonialismus dienten und wie dies wiederum einen Pfad eröffnete, der später die Shoa ermöglichte (Broeck 2019).

Abb. 3, Ein rassismuskritischer Blick auf den bildungsbürgerlichen Kanon Alex Block, Unsplash

Zum anderen rückt der Ansatz des kritischen Weißseins die europäische Geistesgeschichte in ein neues Licht. Der Rassismus von Autoren wie Immanuel Kant und Georg W. F. Hegel wird kritisch diskutiert (Farr 2017; Piesche 2017b). Zentrale historische Bezugspunkte des weißen bürgerlichen Selbstverständnisses, wie Antike und Aufklärung, werden bezüglich rassistischer Strukturen hinterfragt (Broeck 2019; Paul 2019). Für weiße Bildungsbürger*innen ist das teilweise verstörend, in den meisten Fällen aber genau deswegen auch sehr gewinnbringend. Denn es hilft zu verstehen, warum Begriffe wie Chancengleichheit, Freiheit, Menschenrechte, menschliche Entwicklung oder auch Bildung aus der Perspektive von Nicht-Weißen anders gelesen und wesentlich kritischer betrachtet werden können.

Identitätspolitik, aber anders

Kritisch mit seinem Weißsein umzugehen, ist eine herausfordernde, aber gleichzeitig lohnende Aufgabe. Für die weiße Mehrheitsbevölkerung könnte sie eine Form von Identitätspolitik sein, bei der es darum geht, die eigene Position innerhalb der Gesellschaft und damit auch zu gesellschaftlichen Minderheiten bzw. marginalisierten Gruppen zu reflektieren. Das betrifft nicht nur die persönliche Lebenswelt, sondern in vielen sozialen und kulturellen Professionen auch die fachliche Expertise. Als Fachkraft kann es helfen, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, wie: „Aus welcher Position spreche ich? Wie hängt diese mit der meines Gegenübers zusammen? An wen richte [ich mich in meiner Arbeit]? Wie ist meine Arbeit politisch und historisch verortet?“ (Schramm 2017, S. 470). Wer sich auf diesen Prozess einlässt, kann Geschichte nicht verändern, aber dazu beitragen, dass sich ihre Schattenseiten nicht auch über zukünftige Generation legen.

veröffentlicht am 29.10.2020

Mehr dazu:

  • Podcast "Kritisches Weißsein" von der Kanackischen Welle einklappen

    Die Journalisten Malcolm Ohanwe und Marcel Aburakia besprechen in ihrem Podcast mit verschiedenen Gästen, was es heißt, weiß zu sein und wie sich weiße Menschen mit ihrem Weißsein auseinandersetzen können. Eine sehr gute Ergänzung zu diesem kurzem Text und den Beitrag von Lisa Bendiek „Versuche, Rassismus zu verlernen“.

    https://kanackischewelle.podigee.io/29-29-kritischesweisssein

  • Podcast des Weißabgleichs zu „Kinder of Color: Wie wächst man in einer weißen Gesellschaft auf?“ einklappen

    Im Podcast Weißabgleich sprechen Schwarze Journalistinnen der tageszeitung (taz) darüber, wie es für sie war, als Heranwachsende mit Rassismus und Diskriminierung konfrontiert gewesen zu sein. Ein sehr hilfreicher Beitrag, um sich – retrospektiv – der Lebenswelt Schwarzer junger Menschen anzunähern.

    https://taz.de/Podcast-Weissabgleich/!5737693/

  • Video mit Jane Eliot „Even Maps are Racist!” einklappen

    Jane Eliot zeigt anhand einer handelsüblichen Weltkarte, wie die Größenverhältnisse der Länder zugunsten von Staaten in der nördlichen Hemisphäre verzerrt werden.

    https://www.youtube.com/watch?v=w8ERm1irDzI&feature=emb_logo

  • Interview mit Robin DiAngelo über weiße Zerbrechlichkeit einklappen

    Robin DiAngelo prägte den Begriff der weißen Zerbrechlichkeit (white fragility), mit dem sie beschreibt, warum es weißen Menschen teilweise sehr schwer fällt, sich auf die Auseinandersetzung mit Rassismus, den sie verinnerlicht haben und unbewusst reproduzieren, einzulassen.

    https://www.zeit.de/campus/2018-08/rassismus-dekonstruktion-weisssein-privileg-robin-diangelo?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Literaturverzeichnis

Arndt, Susan (2017). Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands. In: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: UNRAST Verlag, S. 24–28.

Broeck, Sabine (2019). Aufklärung. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: UNRAST Verlag, S. 232–241.

El-Mafaalani, Aladin (2019). Alle an einem Tisch. Identitätspolitik und die paradoxen Verhältnisse zwischen Teilhabe und Diskriminierung. In: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte, 69 (9–11), S. 41–45.

Farr, Arnold (2017). Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins. In: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: UNRAST Verlag, S. 40–55.

Müller, Jan-Werner (2019). „Das wahre Volk“ gegen alle anderen. Rechtspopulismus als Identitätspolitik. In: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte, 69 (9–11).

Paul, Jobst (2019). Antike. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: UNRAST Verlag, S. 217–228.

Piesche, Peggy (2017a). Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die kritische Weißseinsforschung? In: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: UNRAST Verlag, S. 14–17.

Piesche, Peggy (2017b). Der „Fortschritt“ der Aufklärung – Kants „Race“ und die Zentrierung des weißen Subjekts. In: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: UNRAST Verlag, S. 30–39.

Schramm, Katharina (2017). Weißsein als Forschungsgegenstand. Methodenreflexion und „neue Felder“ in der Ethnologie. In: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: UNRAST Verlag, S. 460–475.

Strauß, Simon (2019). Bürgerliche Bekenntniskultur statt Identitätspolitik – Essay. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/apuz/286501/buergerliche-bekenntniskultur-statt-identitaetspolitik?p=all [Zugriff: 03.06.2019]

Einzelnachweise

  1. Auf Grundlage der Angaben des Deutschen Historischen Museums. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/aussenpolitik/statistische-angaben-zu-den-deutschen-kolonien.html [Zugriff: 13.10.2020] Zurückspringen
  2. Schätzung vom Autor auf Grundlage der heutigen Bevölkerungszahlen. Zurückspringen
  3. Momente, die für Weiße lange nicht schmerzhaft waren, aufseiten der Schwarzen und PoC jedoch mit Tragödien und Vernichtung einhergingen. Zurückspringen