Dominanzgesellschaft

Die Psychologin und Pädagogin Birgit Rommelspacher hat in den 1990er-Jahren den Begriff der Dominanzkultur entwickelt. Dominanzkultur bedeutet für Rommelspacher, dass „unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie Bilder, die wir von Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind.“ (Rommelspacher 1995, S. 22). Dominanz bedeutet, dass eine machtvolle Gruppe ihren Anspruch auf Unterscheidung von anderen und ihre Überlegenheit über andere durchsetzt: Ihr seid anders als wir und deshalb schlechter, also bekommen wir auch mehr Rechte als ihr. Mit Kultur ist hier nicht (nur) Film, Kunst, Musik oder Sprache gemeint, sondern alle gemeinsamen Vorstellungen und Normen einer Gesellschaft. Diese bestimmen, wie wir zusammenleben, unsere Wirtschaft und Politik, aber auch unser eigenes alltägliches Handeln. Unbewusst entstehen so während unseres Aufwachsens Annahmen darüber, wer wir angeblich sind und welcher Platz in der Gesellschaft uns daher vermeintlich zusteht.

Die Dominanzkultur zeigt sich in Bildungsräumen auf mehreren Ebenen: in der Ausstattung und Personalzusammensetzung, in den Routinen, Abläufen, Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern sowie in vielem mehr. Um allen Kindern gleiche Bildungsrechte und somit eine demokratische Lernumgebung zu garantieren, ist es wichtig, die institutionelle Kultur in der Einrichtung kontinuierlich auf Einseitigkeiten hin zu überprüfen: Kommen alle Kinder darin vor? Sind alle zugehörig? Sind alle beteiligt? Ist das Bildungsangebot für alle zugänglich? Oder ist es voller Voraussetzungen und lädt daher nur bestimmte Kinder, Jugendliche und Familien ein?

Studien zur Bildungsungleichheit belegen, dass auch Bildungsräume von Machtungleichheit nicht ausgenommen sind. Auch hier finden Marginalisierung, (De-)Privilegierung und Diskriminierung statt. Spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studie 2001 lässt sich beispielsweise der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsverläufen nicht mehr bestreiten. Die Dominanzkultur in unserer Gesellschaft zeigt sich in verschiedenen Bildungssettings und wird im ungleichen Zugang zu den Einrichtungen, in der Teilhabe am Bildungsangebot und schließlich in ungleich verteilten Bildungsabschlüssen sichtbar.

Dominanzgesellschaft beschreibt also eine gesellschaftliche Situation, in der bestimmte soziale Gruppen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Situierung im Gegensatz zu anderen Privilegien genießen und somit besseren Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen (Bildung, Arbeitsmarkt, medizinische Versorgung etc.) und Repräsentationen haben. Durch die so entstehende Ungleichheit wirkt die Dominanzgesellschaft wiederum verstärkend auf die ungleiche Etablierung von Normvorstellungen ein.

Dominanz geht mit Macht einher. Sie zeigt sich durch die unbewusste oder bewusste Unterdrückung von marginalisierten Sichtweisen und Anliegen. Das passiert nicht unbedingt absichtlich und mit bösen Hintergedanken einzelner, sondern durch gesellschaftliche Strukturen und Normen, die von allen gestützt und anerkannt werden, oft auch aus Unwissenheit oder mangelnder Reflexion. Denn Macht wird nicht immer von oben ausgeübt, z.B. von einer Autorität, sondern hat sich „eingeschrieben“ in das Handeln, Denken und die Gefühle der Menschen, in das, was sie tagtäglich als Norm(-alität) reproduzieren.

Mit dem Begriff der Dominanz wird versucht, etwas Subtiles und gerade deswegen so Wirkungsvolles zu fassen: die vorherrschenden und durchsetzungsstarken Normalitätsannahmen in Bezug auf eine von Rassismus[1] strukturierte Gesellschaft. Wie eine Einheitsdecke legt sich die Dominanz von Normen, die Vorstellung davon, wer dazu gehört und wer nicht, über die Vielschichtigkeit von Individuen und führt zu Unsichtbarkeiten von Lebensrealitäten – nicht weil sie nicht existieren, sondern weil sie von dominierenden Gruppen nicht wahrgenommen oder anerkannt werden. Diskriminierung entsteht dann in den meisten Fällen wegen dominanzkultureller Erwartungen und weißer[2] Flecke, also lückenhafter Wahrnehmung, und seltener, weil aktiv abgewertet wird – auch wenn es im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft. Es ist also diese Herausforderung, vor der eine Gesellschaft steht, in der Rassismus und Diskriminierungen zum Alltag gehören und von dominierenden Positionen meist nicht wahr- und ernst genommen werden. Insbesondere für weiße Fachkräfte geht es darum, die weißen Flecke wahrnehmen zu lernen, Ungleichheit zu benennen, Perspektiven zu erweitern und Macht abzugeben.

Abb. 2, Privilegien für weiße Menschen begünstigen ihren Bildungserfolg Quelle

Dabei ist klar, dass es nicht mehr so einfach ist, „die Mächtigen“ klar von „den Unterdrückten“ zu unterscheiden. Denn die meisten Menschen sind gleichzeitig Teil von Dominanz ausübenden und in der Dominanzkultur ausgegrenzten und benachteiligten Gruppen. Verschiedene Diversitätsdimensionen wirken und greifen ineinander. So kann ich von Rassismus betroffen sein und gleichzeitig bspw. aufgrund meiner heterosexuellen Orientierung oder sozialen Klasse bestimmte Privilegien genießen. Aufgrund historisch gewachsener Vorstellungen über Identitätsaspekte tragen wir jeweils ein dynamisches Geflecht von machtvollen und entmächtigenden Aspekten mit uns. Wir stehen nie nur auf der einen Seite der Macht. Es ist ein Verteilungsprozess, dessen eine Seite der Überlegenheit immer auch die andere der Unterlegenheit bedingt.

Wie lässt sich die Wirkung von Dominanz nun für pädagogische Settings konkreter beschreiben? Hierzu lohnt sich ein Blick auf das, was pädagogische Arbeit von anderen Arbeiten so sehr unterscheidet: den Stellenwert, dem sie der Persönlichkeitsentwicklung und menschlichen Beziehungen zueinander beimisst, bei einem gleichzeitig vorhandenen Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern.

Lernen in machtvollen Bildungsräumen

Kinder und Jugendliche lernen dann gut, wenn sie sich wohl- und zugehörig fühlen. Dies wiederum hängt von mehreren Faktoren ab, wobei der pädagogischen Beziehungsgestaltung eine wesentliche Rolle zukommt. Beziehungen entstehen in der Bezugnahme von Individuen aufeinander. Doch weder die Individuen noch die Beziehungen existieren unabhängig vom Rest der sie umgebenden Gesellschaft und von der Bedeutung, die bestimmten Identitätsaspekten beigemessen wird. Die Kinder sind aufgewachsen in der und geprägt durch die gesellschaftliche Atmosphäre, die sie umgibt. Insbesondere Kinder sind dabei auf der Suche nach ihrem Platz in unserer Welt. Sie kommen mit unzähligen Fragen, aber ohne Antworten auf diese Welt. In Interaktionen mit den ersten Bezugspersonen, den Kitafachkräften, den Lehrkräften und ihren Freund*innen, erhalten sie Botschaften zu folgenden Fragen: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Wie viel bin ich wert? Was steht mir zu? Werde ich gesehen und anerkannt? Diese Fragen hören nicht auf. Sie begleiten uns von der Kindheit über die Jugend bis in das Erwachsenenalter.

Neben der Beziehungsgestaltung kommt der Lernumgebung hier eine wichtige Rolle zu. Aus Büchern, Medien und durch Spielzeug erhalten junge Menschen Antworten auf diese Fragen. Die Ergebnisse einer Studie (Bostanci et al. 2022) zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas zeigen, dass BPoC-Kindern in manchen Kitas weniger (positive) Identifikationsfiguren durch Bildungsmaterialien angeboten werden als weißen Kindern. Wenn Bildungsmaterialien nur Teile unserer Gesellschaft abbilden, in der Regel weiße, heterosexuelle und nicht behinderte Menschen, werden vielfältige Identitäten und Lebensformen weder thematisiert noch anerkannt. Kinder erlernen so ein dominantes Weltbild, das rassistisch geprägt ist. Die Nicht-Repräsentation von Vielfalt trägt dazu bei, dass Zugehörigkeitskonstruktionen und Normalitätsvorstellungen von „Wir und die anderen“ aufrechterhalten werden (Wagner 2013). Finden sich Kinder jedoch mit ihren Identitätsaspekten in den Bildungsmaterialien respektvoll dargestellt wieder, fühlen sie sich anerkannt und dazugehörig. Wenn sie nicht dargestellt werden, bietet sich für sie die Schlussfolgerung an, dass ihre Identität keine Rolle spielt, nicht normal und dadurch unterlegen ist. Daher kommt Büchern und (Spiel-)Materialien eine enorme Bedeutung zu, wenn es um Zugang zu Bildung und Teilhabe geht. Sie begleiten Kinder und Jugendliche dabei, die Welt zu entdecken, und prägen ihre Erfahrungs- und Lernprozesse (Eggers 2008; Nel 2017, S. 16f.).

Die Dominanz bestimmter Normalitätskonstruktionen [...] entscheide[t] darüber, ob Kinder ein überlegenes, unterlegenes oder ein ein gleichwertiges Selbst- und Fremdbild entwickeln, sich zugehörig fühlen und ob sie sich als selbstwirksam und wertvoll erleben können oder nicht.

Die Dominanz bestimmter Normalitätskonstruktionen spielt für die Verortung von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle. Diese entscheiden darüber, ob Kinder ein überhöhtes, ein unterlegenes oder ein gleichwertiges Selbst- und Fremdbild entwickeln, sich zugehörig fühlen und ob sie sich als selbstwirksam und wertvoll erleben können oder nicht. Der Pädagoge Shakil Choudhury (2017) zeigt z. B. anhand von Studien und Erfahrungsberichten zur Nutzung von Puppen in Kitas, wie über Spielmaterialien weiße, ableistische Schönheitsideale an Kinder herangetragen werden. Selbst bei Vorhandensein vielfältiger Puppen wurden diejenigen Puppen im Spiel bevorzugt, die den weißen Schönheitsidealen entsprachen. Diese Studie verdeutlicht eindrucksvoll die Wirkungsweisen von Normalitätskonstruktionen und Schönheitsidealen auf alle Kinder. An Kinder, die nicht weiß und abled sind, wird auf diese Weise eine defizitäre Sicht auf sich selbst herangetragen. Sie können das vorherrschende Ideal per se nicht erfüllen. Unter Umständen verinnerlichen sie Selbstbilder der Unterlegenheit und Nichtzugehörigkeit. Gleichzeitig verinnerlichen Angehörige der vorherrschenden Norm den Glauben darüber, mit Aussehen, Normen, Werten und Kulturen überlegen zu sein.

Zusammengehörigkeit versus Trennung

Wie wirkt sich Dominanz nun auf Beziehungen aus? Um uns die Auswirkung der oben beschriebenen Dominanz und der daraus resultierenden Ungleichheit auf unsere Beziehungen vor Augen zu führen, sollen hier zunächst Aspekte gelingender Beziehung benannt werden. Dazu gehören die angemessene Verantwortungsübernahme für mich selbst und andere, Respekt, Vertrauen, Miteinander, Wertschätzung und Dialog (Saalfrank 2020). Beziehung bedeutet, sich gegenseitig zu begegnen und im vertrauensvollen Miteinander die individuelle Persönlichkeit zu entfalten. Beziehung bedeutet Verbindung.

Die trennende Wirkung von Rassifizierungsprozessen und weißer Dominanz hingegen erschwert Beziehungen und Bezugnahme. Indem durch Rassifizierungen eine wertende Trennung vorgenommen wird, die erhöht und erniedrigt, werden dem rassifizierten Subjekt Handlungsspielräume genommen, ein vollständig anerkanntes und dazugehöriges Subjekt zu sein. Stattdessen wird es durch die Brille von Vorurteilen und Unwissenheit verzerrt wahrgenommen und des werden ihm Fähigkeiten und Eigenarten völlig unabhängig von seinem Selbst zugeschrieben. Es ist dieses (un-)bewusste und unbenannte Bewertungsschema, das die Dominanz aufmacht. Das dominante Verhalten kann sich auch zum Beispiel darin zeigen, dass dem rassifizierten Gegenüber nicht zugehört wird, Bevormundung stattfindet, das Gegenüber zum Schweigen gebracht, an dessen Stelle geredet oder gehandelt wird, obwohl die Person durchaus selbst dazu in der Lage ist oder sich in diese Lage versetzen kann. Diese Verhaltensweisen bringen das Gegenüber in eine minderwertige, machtlose Position. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, Vorstellungen der Unterlegenheit und Minderwertigkeit zu verinnerlichen. Allerdings sind rassifizierte Subjekte keine von Dominanzverhältnissen festgelegten Subjekte. Sie haben Handlungsmacht und können sich über verschiedene Strategien von den Verhältnissen abwenden (siehe beispielhaft Bostanci et al. 2022/Bergold-Caldwell 2020).

Da Dominanz auf Vorstellungen von Ungleichwertigkeit basiert, ergeben sich, wie bereits erwähnt, Trennungsaspekte. Sie werden sichtbar durch die Meidung des anderen, durch Ignoranz, Abwertungen, Ablehnung, Abschiebungen in isolierte Zusammenhänge, durch Schuldzuweisungen oder auch durch harte Beziehungsabbrüche. Dominanz bedeutet also Ungleichwertigkeit für die Beziehungen, in die wir uns pädagogisch begeben.

Solange die Machtverteilung und Dominanz in einem pädagogischen Setting nicht mitbedacht wird und unerkannt bleibt, bleibt sie bestehen. Dominanz führt uns weg von der Gleich- in die Ungleichwertigkeit, aus dem Dialog in den Monolog und aus dem Miteinander in die Trennung.

Warum ist das problematisch?

Der Mensch ist ein Beziehungswesen und in hohem Maße abhängig vom Handeln der ihn umgebenden Menschen. In der Erfüllung seiner menschlichen Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Sicherheit, Verbindung, Zugehörigkeit und Autonomie ist er auf sie angewiesen. Gelingender Beziehungsarbeit kommt deswegen auch in der pädagogischen Praxis eine so große Bedeutung zu.

Wir können davon ausgehen, dass wir uns als Menschen in unseren Bedürfnissen nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. Neben körperlichen Grundbedürfnissen wie dem Bedürfnis nach Nahrung und Wärme bringt der Mensch ebenso wichtige emotionale Grundbedürfnisse mit sich, deren Nichterfüllung sich auf unser Wohlbefinden auswirkt. So brauchen wir alle Sicherheit, Autonomie, Wertschätzung und Zusammengehörigkeit, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Wir wollen uns mitteilen können und wir wollen verstanden werden. Wir wollen als die einzigartigen Menschen gesehen werden, die wir sind. Noch stärker ausgedrückt: In welchem Grad diese zentralen Bedürfnisse in unseren Beziehungen erfüllt werden können, entscheidet über die Qualität unseres Lebens.

Die Wirkung von Dominanz auf die Erfüllung unserer Bedürfnisse ist daher nicht zu unterschätzen. Als Folge von trennenden Erfahrungen wirkt sie sich insbesondere auf das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Wertschätzung aus. Da die Bedürfnisse ineinandergreifen, wirkt sich der Mangel an Zugehörigkeit und Wertschätzung wiederum auf das Bedürfnis nach Sicherheit aus. Kinder und Jugendliche, deren zentrales Bedürfnis nach Verbindung, Zugehörigkeit und Wertschätzung durch ausschließende Interaktionen, einseitige Materialien und Fehlinformationen über ihre Identitätsaspekte gestört ist, spüren aus gutem Grund Angst, Wut, Trauer und Scham, die sich von Rückzug bis Aggression facettenreich ausdrücken können. Die Situation kann sich verstärken, wenn die Ursache für diese Gefühle missverstanden wird oder ungesehen bleibt, z. B. weil bisher keine Reflexion der unterschiedlichen Verteilung von Macht stattgefunden hat.

Abb. 3, Der Mensch als ein Beziehungswesen Quelle

Beziehungen werden im Miteinander gestaltet. Dabei weisen Beziehungen zwischen jungen Menschen und Erwachsenen eine spezielle Konstellation auf. Kinder werden meist als „werdende Erwachsene“ und daher in Machtverhältnissen zu Erwachsenen untergeordnet positioniert. Dieses Machtverhältnis wird unter dem Schlagwort des Adultismus erfasst. Adultismus, abgeleitet vom englischen Wort adult (Erwachsene*r), beschreibt die vermeintliche Höherwertigkeit von Erwachsenen gegenüber Kindern. Es ist die Diskriminierungsform, die alle Menschen in ihrem Leben erfahren können. Adultismus kennzeichnet „eine gesellschaftliche Macht- und Diskriminierungsstruktur, die durch Traditionen, Gesetze und soziale Institutionen“ produziert wird (Ritz 2008, S. 2). Auch wenn es sich manchmal nicht danach anfühlt, sind es am Ende des Tages oft Erwachsene, die Sicherheit, Verbindung und Autonomie für Kinder herstellen, Partizipation gewähren oder verwehren, indem sie den Tag planen, die Einrichtung gestalten, Vorschläge unterbreiten, ihr Wissen einbringen und darüber entscheiden, ob eine Verletzung wirklich schlimm ist oder nicht. Handlungs- und Gestaltungsmacht, Verfügungs- und Definitionsmacht liegen oft auf ihrer Seite (Liebel 2010).

Es ist nicht selbstverständlich, den Einfluss gesellschaftlicher Machtverhältnisse und der Unterdrückung auch mit Blick auf pädagogische Settings wahrzunehmen. Um das Verhalten und die Konflikte von jungen Menschen verstehen zu können, ist ein Bewusstsein für die Wechselwirkungen von Adultismus und Rassismus im Kontext von Dominanzverhältnissen eine große Hilfe. Es eröffnet Interesse, Verständnis und Offenheit. Dies wiederum ist eine Voraussetzung dafür, überhaupt in eine vertrauensvolle Beziehungsarbeit zu kommen, eine Grundlage also, um sich dem Horizont demokratischer Wertevorstellungen gemeinsam zu nähern.

Die nun folgenden Impulse sollen Fachkräfte dabei unterstützen, pädagogische Situationen, Beziehungsdynamiken und Konflikte mit Blick auf die Verteilung von Macht und Dominanz in einer Gruppe besser zu verstehen. Dies soll auf eine Weise geschehen, die es uns erlaubt zu erkennen, inwieweit die Nutzung von Macht und die Verteilung von Zugängen dazu beitragen, dass sich Kinder und Jugendliche gelebten demokratischen Werten entsprechend gesehen, wertgeschätzt und zugehörig fühlen.

Ein Beispiel aus der Praxis

Khaled ist 10 Jahre alt, besucht die 5. Klasse einer Hamburger Grundschule und wohnt mit seiner Familie in einem schönen Haus in der Erlenstraße. Er hatte bisher überwiegend sehr gute Noten und in der Klassengemeinschaft einen guten Stand. Doch seit ein Teil seiner Familie im Juli 2021 aus Afghanistan nach Deutschland gekommen ist, um bei seiner Familie in Hamburg zu leben, nennen ihn seine Mitschüler*innen wiederholt einen „Terroristen“. Scheinbar neckend und spielerisch verbinden die anderen Kinder Khaled mit kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan und der Flucht eines Teiles seiner Familie. Für Khaled ist das eigenartig. Bei ihm führt das zu einem Gefühl von Wut und Traurigkeit. Und als ein Kind beim Handballspielen auch noch seinen Namen veralbert und blöde Reime erfindet, kocht es in ihm über. Er tritt dem Kind gegen das Schienbein, sodass es stürzt und sich verletzt. Die betreuende weiße Lehrkraft kommt dazu. „Treten, das machen wir hier nicht“, weist sie ihn zurecht. Die Lehrkraft bewertet Khaleds Verhalten, ohne den Kontext zu berücksichtigen. Khaled wird zur Verantwortung gezogen, während die anderen ungeschoren davonkommen. Er fühlt sich missverstanden, nicht gesehen, alleine und hilflos.

Die beschriebene Situation zeigt auf, wie wirkmächtig das Zusammenspiel von Rassismus und Adultismus ist und wie Rassifizierungsprozesse dazu genutzt werden, über den Platz von Schüler*innen in der Gruppe zu entscheiden. Khaled wird stereotypisierend und pauschalisierend mit Krieg und Verbrechen in Verbindung gebracht, obwohl seine Familie nichts mit Kriegsverbrechen zu tun hat. Sein Name und die Herkunft seiner Familie wird für rassistisch konnotierte Beleidigungen und Hänseleien seitens der Kinder genutzt. Adultismus wiederum zeigt sich dadurch, dass die pädagogische Fachkraft ohne nachzufragen und ohne das Wahrnehmen dieser Rassifizierungsprozesse ein bewertendes Urteil über die Situation fällt. Die Aussage der Lehrerin „Treten, das machen wir hier nicht“ aus einer weißen gesellschaftlichen Position heraus verweist Khaled auf einen Platz außerhalb des Wirs. Als pädagogische Fachkraft obliegt ihr die Macht und Verantwortung, darüber zu entscheiden, ob sie Khaleds Erfahrung Bedeutung beimisst oder abspricht. Die Funktion von Rassifizierung liegt in der Auf- und Abwertung, in der Über- und Unterordnung. Mit den Mitteln von Zusammenschluss und Ausschluss werden hier in einer durchsetzungsstarken Position weiße Normen durchgesetzt, die Khaleds Herkunft und seinen Namen zum Gegenbild bedienen. Zudem wird deutlich, wie die trennende Wirkung von Rassifizierung und Adultismus eine Einfühlung in Khaleds Position erschwert. Entsprechend wahrscheinlich ist es, dass die Bedürfnisse des Kindes nach Zughörigkeit, Verbindung, Sicherheit und Individualität ungesehen bleiben, was möglicherweise durch Handlungsoptionen wie Rebellion, Aggression oder aber auch Rückzug und Unterordnung zum Ausdruck käme. Indem die Situation als Beiläufigkeit zur Seite getan würde, würde sich die Ungleichheit verschärfen und sich die pädagogische Beziehung verschlechtern.

Weiß ich hingegen um die bestehenden Ungleichheiten, weiß ich über die Ursachen und Wirkungen von Rassismus, Sexismus, Ableismus, Heteronormativität, Adultismus und weiteren Ungleichheitsideologien und befrage mich selbst, meine Beziehungen und mein pädagogisches Setting auf Dominanzen und Unterdrückung, so stehen mir neue Möglichkeiten offen; Möglichkeiten, um ins Verständnis, in die Wahrnehmung und Einfühlung, in den Kontakt und möglicherweise sogar in eine vertrauensvolle Beziehung zu kommen. Es würde bedeuten, dass ich das oben geschilderte Geschehen als Möglichkeit begreife, rassistische Beleidigungen und Ausschlussprozesse zu erkennen und zu benennen, um die Wirkmächtigkeit der ungreifbaren Norm zu schmälern und reale Erfahrungen als solche zu fassen zu bekommen, zum Beispiel indem ich konkret sage, was ich wahrgenommen habe und wie mich das Gesehene berührt. Es würde bedeuten zu reflektieren, wie gesellschaftliche Verhältnisse und Ungleichheiten Bedürfnisse, Gefühle und schließlich Beziehungen beeinflussen. Dafür wäre es nötig, diesen scheinbar kleinen Vorfall wahr- und ernst zu nehmen. Das hieße, sich mir und den Beteiligten interessiert und verstehend zuzuwenden und in eine Beziehung zu kommen, die allen Beteiligten ihren Platz sicher erfahren lässt, zum Beispiel indem ich mit jenen Berührungspunkten sichtbar werde, die allein bei mir liegen. Und auch indem ich auf Belehrungen und Monologe, Abwertungen und Strafen verzichte und stattdessen Dialog, Respekt und Vertrauen wähle. Es hieße also nachzuvollziehen, wie ich meine Macht dazu einsetzen kann, Gleichwertigkeit herzustellen.

Auf dem Weg zur gleichwertigen Beziehung?

Es ist deutlich geworden, wie umfangreich und herausfordernd es ist, dominanzkulturelle Barrieren zu erkennen, die sich in Bildungsräumen auftun. Sie wahrzunehmen, erfordert Wissen darüber, welche Gruppen in unserer Gesellschaft von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sind, welche Auswirkungen dies auf die Identitätsentwicklung und Lernprozesse hat und wie dies das Miteinander der Kinder und Jugendlichen, die Zusammenarbeit im Team und den Austausch zwischen pädagogischen Fachkräften und Familien beeinflusst. Wie bereits erwähnt, liegt eine Schwierigkeit für Menschen in dominanten Positionen vor allem auch darin, die gesellschaftlich gewachsenen ungleichen Positionen wahrnehmen zu lernen und anzuerkennen, dass diese einen Unterschied in unseren Voraussetzungen, Zugängen und Erfahrungen machen.

Das alles sind große Herausforderungen für jeden Menschen. Dabei befinden sich Fachkräfte, die in Bildungseinrichtungen arbeiten, mit den vielfältigen Anforderungen, die im Kita- oder Schulalltag an sie gerichtet sind, in einer besonders verantwortungsvollen Position und Rolle. Deshalb benötigen pädagogische Fachkräfte selbst Unterstützung. Sie brauchen Räume, in denen sie ihre Gedanken, Gefühle, Fragen aussprechen können, in denen sie eigene Diskriminierungserfahrungen thematisieren und Probleme zusammen mit anderen lösen können. Es braucht Lerngemeinschaften, in denen all diese Aspekte besprochen und reflektiert werden können, damit der Abbau von Dominanz ein wechselseitiger Bewusstseins- und Veränderungsprozess sein kann, indem wir das Ziel unserer Bemühungen vor Augen halten: die gleichwertige Persönlichkeitsentwicklung und Teilhabe von Menschen in einer vielfältigen Gesellschaft.

Die nachfolgenden Fragen zur Selbstreflexion können für diesen Weg unterstützend zur Hilfe genommen werden.

Fragen zur Selbstreflexion:

  • Welche gesellschaftliche Position habe ich selbst inne? Was bedeutet es für mein professionelles Handeln?
  • Welche Zugänge und Ausschlüsse erlebe ich im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft in Bezug auf Geld, Bildung, Wohnungsmarkt, Karriere, Bewegungsfreiheit, Sprache, Religion, Teilhabe und Repräsentation?
  • Wie beeinflussen diese Zugänge und Ausschlüsse meine Möglichkeit, die Lebensrealität der jungen Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, nachzuvollziehen?
  • Welche Macht habe ich, um zu handeln, zu gestalten, zu entscheiden? Wo kann ich Macht für andere zugänglich machen?
  • Mit welchen Vorstellungen von Normalität bin ich groß geworden?
  • Welche Ungleichheitsideologien habe ich verinnerlicht?
  • Wie wirken sich diese Vorstellungen von Normalität und Ungleichwertigkeit darauf aus, wie ich pädagogische Settings gestalte?
  • Stehen gegebenenfalls Vorannahmen und Unwissenheit zwischen mir und meinem Gegenüber?

Ungleichheit in der Gruppe erkennen:

  • Welche Erfahrungshintergründe und Perspektiven sind im Team vertreten oder nicht?
  • Welche jungen Menschen haben die Möglichkeit, Teil der Gruppe zu sein?
  • Welche Menschen haben Zugang zur Gruppe?
  • Welche Botschaften erfahren die Kinder aufgrund ihrer Identitätsmerkmale über sich und ihre Bezugspersonen?
    • Gesellschaftlich?
    • In der Interaktion mit pädagogischen Fachkräften?
    • In der Interaktion mit Kindern?
  • Wer findet sich mit Identifikationsmerkmalen in Arbeitsmaterialien facettenreich und respektvoll dargestellt wieder?
  • Bestehen mit Blick auf die Vertretung verschiedener Identitätsaspekte Ungleichgewichte und Dominanzen?
  • Wer teilt sich mit? Wem wird respektvolle Aufmerksamkeit zuteil? Wessen Anliegen fließen in Entscheidungen ein? Wer entscheidet?
  • Welche Macht haben die Kinder zu handeln, zu gestalten, zu entscheiden?

Orientierung in Konfliktsituationen:

  • Was weiß ich über die Situation und was glaube ich zu wissen?
  • Welche Informationen brauche ich, um die Situation vollumfänglich zu verstehen?
  • Inwieweit tragen Ausschluss und Ungleichwertigkeit in dieser Situation dazu bei, dass sich die Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Wertschätzung und Autonomie (nicht) erfüllen?
  • Wie würde ich mich in derselben Situation fühlen? Was spüre ich?
  • Welche Bedürfnisse stehen hinter den Gefühlen?
  • Trägt mein Tun und Sagen dazu bei, Sicherheit, Zugehörigkeit, Wertschätzung und Autonomie erfahren zu können?
  • Trägt mein Handeln zu einer konstruktiven, gleichwertigen Beziehung bei?

veröffentlicht am 15.03.2022

Literaturverzeichnis:

Bergold-Caldwell, Denise (2020). Schwarze Weiblich* keiten. transcript-Verlag.

Choudhury, Shakil (2017). Deep Diversity. Die Grenze zwischen ›uns‹ und den ›Anderen‹ überwinden. Münster: Unrast Verlag.

Eggers, Maureen Maisha (2008). Pippi Langstrumpf – Emanzipation nur für weiße Kinder? Rassismus und an (weiße) Kinder adressierte Hierarchiebotschaften. https://blog.derbraunemob.info/wp-content/uploads/2008/10/pippi_langstrumpf-emanzipation_nur_fuer_weisse_kinder.pdf [Zugriff: 15.12.2021]

Hüther, Gerald (2004). Kinder brauchen Vertrauen. Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns. www.dijg.de/ehe-familie/forschung-kinder/vertrauen-entwicklung-hirn/ [Zugriff:  15.01.2022]

KMK (2018). Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Staerkung_Demokratieerziehung.pdf [Zugriff: 15.01.2022]

Liebel, Manfred (2010). Diskriminiert, weil sie Kinder sind: ein blinder Fleck im Umgang mit Menschenrechten. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 5 (2010), 3, pp. 307-319. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-354707

Material von KINDERWELTEN/ISTA in Anlehnung an: Shifting Paradigms. Using an anti-bias strategy to challenge oppression and assist transformation in the South African context, Early Learning Resource Unit. Lansdowne. South Africa. S. 21.

Nel, Philip (2017). Was the cat in the hat black? The hidden racism of children’s literature, and the need for diverse books. New York, NY: Oxford University Press.

Richter, Sandra (2019). Adultismus in der frühkindlichen Pädagogik. In: Vielfalt – Das Bildungsmagazin.

Ritz, ManuEla (2008). Adultismus – (un)bekanntes Phänomen: „Ist die Welt nur für Erwachsene gemacht?“ In: Wagner, Petra (Hrsg.), Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (S. 128–136). Freiburg in Breisgau: Herder Verlag.

Rommelspacher, Birgit (1995). Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda.

Saalfrank, Katharina (2020). Du bist ok, so wie du bist. Beziehung statt Erziehung – was Kinder wirklich stark macht. München: Gräfe und Unzer.

Wagner, Petra (Hrsg.) (2013). Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder.

 

Einzelnachweise

  1. Mit Rassismus wird in diesem Artikel ein gesellschaftliches Strukturprinzip verstanden, das Menschen bzw. soziale Gruppen durch rassistische Markierungen in ihre Position im sozialen Gefüge zuweist (Hall 1989; Essed 1991) und im Ergebnis systematisch in der Verteilung relevanter Ressourcen benachteiligt, zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Bildung und Justiz. Rassismus zeigt sich nicht nur in den bewussten Handlungen und Vorurteilen einzelner Personen (Allport 1954), sondern auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, darunter auch in pädagogischen Settings. Zurückspringen
  2. In diesem Artikel benutzen wir Begriffe wie weiß und Schwarz als politische Kategorien. Dabei stellen Schwarz und People of Color (kurz BPoC) Selbstbezeichnungen dar, wohingegen weiß antagonistisch zu diesen Begriffen als Bezeichnung verwendet wird, um eine privilegierte Position im Kontext von rassistischen Verhältnissen auszudrücken. Die beiden Begriffe haben einen unterschiedlichen historischen Ursprung. Schwarz und BPoC werden als politische Begriffe des Empowerments und der Selbstermächtigung rassifizierter sozialer Gruppen in westlichen Gesellschaften genutzt. Zur Verdeutlichung wird weiß klein und kursiv, Schwarz groß und nicht-kursiv geschrieben. Hervorzuheben ist, dass weiß und Schwarz keine phänotypischen Differenzierungsmerkmale sind, sondern soziale Kategorien zur Beschreibung der gesellschaftlichen Positionierung in einer durch Rassismus durchzogenen Gesellschaftsstruktur (Eggers u.a. 2008). Zurückspringen
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