SOUNDS vom Campus Rütli
Intro: RISE – Der Podcast zu Identität, Pluralismus und Extremismus
Moderation:
So klingt es auf dem Campus Rütli im Berliner Bezirk Neukölln, dem Gelände, auf dem sich unter anderem die Gemeinschaftsschule Rütli befindet.
Willkommen zur neuen Folge des RISE-Podcasts! Mein Name ist Julia Tieke, und ich wohne gleich um die Ecke des Campus Rütli. Der Campus versteht sich als offener Bildungsort – und am Nachmittag kommen Jugendliche zum Skateboardfahren, Eltern mit ihren Kindern, um Radfahren zu üben, andere spielen Tischtennis oder tauschen sich einfach aus. Es herrscht eine regelrechte Dorfplatz-Atmosphäre.
Im Haus A der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli war ich für diese Podcast-Folge zu einem Gespräch verabredet. Dabei war die Schülerin Melisa Başkara …
Melisa Başkara:
Man kann hier, glaub ich, so sein, wie man ist, und wird nicht irgendwie verstoßen, und kann auch wirklich viel mitnehmen im Leben.
Moderation:
… und der Schüler Fatih Yaşar.
Fatih Yaşar:
Na ja, also es ist sehr multikulti hier. Also, jeder ist hier immer willkommen und keiner hat etwas gegen jemanden, solange man respektvoll miteinander umgeht.
Moderation:
Melisa und Fatih haben inzwischen die Schule abgeschlossen.
Beim Gespräch dabei war auch Tobias Nolte, er unterrichtet seit 2013 an der Schule, seine Fächer sind Deutsch und Politik.
Der Leitgedanke des Campus Rütli lautet: „Kein Kind, kein Jugendlicher geht verloren.“ – aber was heißt das ganz praktisch, ganz konkret?
Tobias Nolte:
Ich verstehe darunter schon, dass wir hier in einem Bildungsumfeld sind, wo sich Leute darüber im Klaren sind, dass es eben wichtig ist, nicht nur Schüler*innen als eine Gruppe, als Klasse im Blick zu haben, sondern auch einzelne Schüler*innen, und sich auch bewusst zu sein, dass es halt nicht alle Schüler*innen gleich leicht haben, ihren Bildungsweg zurückzulegen, und man da genauer hingucken muss, auch individuelle Lösungen finden muss, und jeden Einzelnen im Blick haben muss. So – ist ein sehr hoher Anspruch, aber zumindest versuchen wir es.
Moderation:
In dem Gespräch mit Melisa, Fatih und Tobias geht es gleich um einen besonderen Kurs, „Glauben und Zweifeln“, ein Oberstufenkurs, jenseits aller Rahmenlehrpläne.
In unserem RISE-Podcast steht er für das Thema „Pluralismus“, und „Pluralismus“ ist eines von fünf übergeordneten Themen des RISE-Projekts. Georg Materna gehört zu dem Team, das RISE wissenschaftlich begleitet. Ich habe ihn gefragt, welchen Stellenwert Pluralismus für RISE hat und wie sich das konkret äußert.
Georg Materna:
Also, man könnte es so sagen, Gesellschaft war immer vielfältig, aber der Anspruch, dass die verschiedenen Teile von Gesellschaft als gleichwertig angesehen werden und auch jeweils eine Möglichkeit haben, an der Gesellschaft teilzuhaben und zu partizipieren, der ist relativ neu. Und der geht halt mit vielen Herausforderungen einher und vor allen Dingen auch mit konflikthaften Aushandlungsprozessen. Und in RISE versuchen wir die Aushandlungsprozesse, die Konflikte, die damit einhergehen, und die Fragen, die auftauchen, bei der Behandlung von Pluralismus als normativer Idee, also was das sozusagen heißt, wenn man eine pluralistische Gesellschaft hat hier in Deutschland, also diese Fragen zu behandeln und ein bisschen durchzuspielen und sozusagen Anregungen dazu zu bringen, was in dem Bereich wichtig ist und wie man mit den Aushandlungsprozessen, die da entstehen, umgehen kann.
Moderation:
Georg kennt das Gespräch zwischen Melisa, Fatih, Tobias und mir schon, das ihr hier gleich hören könnt – und ich wollte von ihm wissen, was aus Sicht von RISE interessant ist am „Glauben und Zweifeln“-Kurs.
Georg Materna:
Ich finde, der Kurs ist ein total positives Beispiel dafür, wie Schule Räume schaffen kann, in denen lebensweltlich relevante, aber auch gesellschaftspolitisch relevante Fragestellungen diskutiert werden können, von Schüler*innen, aber auch von Lehrkräften, und es sozusagen einen gemeinsamen Erkenntnis- und Bildungsprozess gibt. Und gleichzeitig behandelt der Kurs eine der zentralen Herausforderungen in pluralistischen Gesellschaften, indem er zeigt, wie Glaubensfragen und Fragen um Werte, um Einstellungen, um normative Lebensführung auch behandelt werden können. Also, sozusagen wie man sich auf dieses schwierige Parkett von oftmals auch konflikthaften Aushandlungsprozessen begeben kann. Ja, das fand ich sehr spannend.
Moderation:
Jetzt aber zurück an die Rütli-Gemeinschaftsschule, wo ich zunächst neugierig bei Tobias nachgefragt habe, wie der Kurs „Glauben und Zweifeln“ entstanden ist.
Also, woher kam die Idee und warum brauchte es so einen Kurs?
Tobias Nolte:
Die Idee ist vor – ich würde sagen vor 5 Jahren, 4 Jahren vielleicht entstanden. Und zwar war die Situation so, dass ich einen Deutsch-LK hatte, in dem wir das Thema „Aufklärung“ hatten, und wir dann auch über das Spannungsfeld ein bisschen zwischen Religion und Aufklärung geredet haben, und ich gemerkt habe, was für ein Riesenfeld das eigentlich ist und wie viel Zeit es eigentlich bräuchte. Und das ist natürlich nicht der Schwerpunkt in einem Deutsch-LK, dieses Thema ins Zentrum zu stellen. Dann bin ich darüber mit unserem Oberstufenkoordinator Giorgio Paschotta ins Gespräch gegangen. Und so ist ein bisschen die Idee entstanden, da Räume aufzumachen, um Fragen nach Glauben und nach Religion ein Forum zu geben und mit den Schüler*innen darüber ins Gespräch zu kommen. Und im Prozess dieses Nachdenkens haben wir dann gemerkt, dass es aber auch nicht nur um Religion geht, sondern dass noch sehr viele andere Aspekte die Lebenswelt von den Kids sehr prägen und aber relativ wenig Raum in der Schule dafür da ist, zumindest im fachlichen Bereich, und wir dem so ein bisschen etwas entgegensetzen wollten. Und so ist dann, über die Dauer von ungefähr einem Jahr, das wir da dran gesessen haben, das Curriculum entstanden.
Moderation:
Wie wurde dann kommuniziert? „Es gibt jetzt diesen Kurs.“ Wie habt ihr davon erfahren? Wie läuft das an der Schule dann ab?
Fatih Yaşar:
Also, am Ende der elften Klasse, also des Einführungsjahrs, muss man ja Kurse wählen, die man in der Abiturzeit machen möchte. Und da hab ich gesehen, dass da ein Zusatzkurs war. Der hieß „Glauben und Zweifeln“ – hatte ich noch nie in meinem Leben gehört. War auch sehr einzigartig, und da hab ich das erst einmal eigentlich nur gewählt, weil ich einen Extrakurs haben wollte, um mehr Punkte zu erreichen. Aber dann, als ich einmal drin war, war es schon sehr spannend und sehr schön.
Moderation:
Was hat dich da beim ersten Mal überzeugt?
Fatih Yaşar:
Ja, der Titel eigentlich, so, wenn man hört „Glauben und Zweifeln“, das ist kein Fach, so wie Biologie oder Chemie oder sonst irgendwas.
Moderation:
Und du hattest auch sofort Lust auf den Kurs?
Melisa Başkara:
Ehrlich gesagt, nein. Also, ich hab auch erst in der elften davon erfahren. Und dann hat Herr Nolte mal gesagt: „Ja, mach mal den Kurs“, als es so weit war, „mach mal den Kurs, vielleicht gefällt es dir.“
Und ich dachte mir: Okay, muss man da viel leisten, also Leistungen bringen? Nein. Okay, dann trag ich mich ein. Das war wirklich so bei mir. Dann hab ich, also bin ich da reingekommen und die Fragen, die Herr Nolte uns gestellt hat – also, ich war oft sprachlos. Ich habe versucht, meine Meinung zu sagen, aber da musste ich selber an meiner eigenen Meinung zweifeln. Und das hat mich so – das hat mich stutzig gemacht!
Tobias Nolte:
Also, wie ehrlich sie sind, ne?! Ich hatte mich gefreut – jetzt kommen sie und sagen: Bester Kurs, wollte ich immer machen …
Der eine sagt: Ja, ich brauchte noch einen Zusatzkurs. Die andere so: Ja, okay – so, muss sein.
Kannste ja auch rausschneiden, weil …
Moderation:
Ne, das ist ja auch toll, weil ich meine, das ist ja auch die Realität, also wenn man sich selbst erinnert, an die eigene Schulzeit.
Das war also die Motivation. Aber – wenn man so einen neuen Kurs aufsetzt, wie ist es gelungen, den Kurs umzusetzen? Was war der pädagogische Ansatz, die pädagogische Methode, mit der ihr das angelegt habt?
Tobias Nolte:
Also, wir haben ja so ein bisschen zweigleisig gearbeitet. Wir haben ja noch einen anderen Kurs in der Zeit entworfen. Der heißt „Projektkurs Naher Osten“, und das hab ich mit einem anderen Kollegen zusammen entwickelt. Und zeitgleich haben wir an dem Kurs „Glauben und Zweifeln“ gearbeitet. Und im Zuge dessen hat man schon gesehen, dass Schule einem die Räume aufmachen kann, anders zu unterrichten und neue Fächer zu kreieren, die, die an die Lebenswelten stärker gekoppelt sind und vielleicht auch fachlich noch mal einen anderen Schwerpunkt setzen. Genau, und dann war es – das hab ich ja gerade schon angedeutet, es war eigentlich erst mal viel Hirnschmalz von Giorgio Paschotta und mir, was da reingeflossen ist, und auch immer mal wieder umwerfen und noch mal die Halbjahre neu anordnen und vielleicht auch noch mal neue Schwerpunkte setzen und so. Aber, sozusagen die Leitidee war, tatsächlich zu gucken, was kriegen wir vor allem in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern so an Grundfragen immer wieder mit, und da spielt Religion eine große Rolle, spielen aber auch Medien eine große Rolle. Da spielt die Frage nach Identität eine total große Rolle, auch nach Genderfragen, Geschlechterrollen.
Das erlebe ich eigentlich als einen großen Vorteil dieses Kurses, dass wir eben nicht so sehr in diesen Abitur-Abhängigkeiten sind, wo man weiß: Okay, am Ende geht es um Abrechenbares fürs Abitur, sondern wir da einfach mehr Freiheiten haben, und gleichzeitig aber die Jugendlichen das auch ins Abitur einbringen können. Also, die Noten fließen in das Abitur ein, aber es ist eben nicht so, dass es eine zentrale Prüfung gibt, und das macht uns einfach Räume auf, was cool ist.
Moderation:
Die Bedeutung der Lebenswelt von den Schüler*innen hast du schon erwähnt. Alltägliche Fragen – habt ihr da Beispiele im Kopf, wie Fragen, die euch beschäftigen, wie die im Kurs ihren Platz bekommen haben?
Fatih Yaşar:
Ja, wir haben halt sehr viele Verschwörungstheorien besprochen im ersten Kurshalbjahr. Da hat man uns erst einmal gesagt: Ja, es gibt Chemtrails, dies und das, und dann hat man gesagt: Warum glaubt ihr das alles? Das stimmt doch gar nicht.
Da hat man uns so veräppelt, ganz am Anfang, aber danach? (lacht) Also, jetzt nicht Herr Nolte, es gab auch einen anderen Lehrer, bei dem ich war. Was wollte ich sagen?
Moderation:
Wie das mit Fragen aus deinem Alltag zu tun hat oder deiner Welt?
Fatih Yaşar:
Wir haben ja auch – wir sind ja alle sehr aktiv in den Medien, und man weiß ja nicht mehr, wo man in den Medien alles reinschauen soll. Und das haben wir auch alles z.B. besprochen, sichere Quellen, wo man alles liest, was man sich alles rausholt. Und das war so eine sehr große Hilfe für uns, das mal in so einem Kurs zu besprechen.
Melisa Başkara:
Ja, und Normen und Werte, das war auch ein Thema. Und da haben wir also – jedes Thema war so, dass wir innerhalb der Klasse wirklich alle zusammen diskutiert haben. Meistens hatte dann jeder seine eigene Meinung und Herr Nolte kam dann dazwischen und hat gesagt: Aber was ist, wenn das und das so ist? Oder was hat das für einen Sinn? Warum denkt ihr, dass z.B. eure Religion die richtige ist? Oder warum denkt ihr, dass ihr so sein müsst, wie ihr seid? Und warum macht ihr das, was eure Eltern euch beibringen? Das ist jetzt nur ein Beispiel. Und diese Fragen, die erleben wir alltäglich alle. Und das sind so Sachen, die man dann im Nachhinein vielleicht nach dem Kurs hinterfragt und sich denkt: Okay, hat er vielleicht recht? Oder, also gehe ich wirklich der Gesellschaft nach oder bin ich so eigenständig, wie ich das mein ganzes Leben gedacht habe? Das sind so wichtige Sachen, die wir vorher nicht gehört haben.
Moderation:
Wie kann ich mir das vorstellen? Wie schafft man die Bedingungen, dass eben offen und kontrovers diskutiert wird, und dann aber auch das Gespräch einen Weg geht, der zu keinem festen Ziel führt, aber das eben moderiert wird?
Tobias Nolte:
Ich glaube, da gibt’s jetzt nicht so die, die eine Antwort drauf. Sondern es ist halt immer situationsabhängig. Ich glaube, man braucht einen guten Redeanlass. Also, irgendwas muss bei den Schüler*innen irgendeine Form des Nachdenkens oder der Irritation auslösen. Und dann erlebe ich das eigentlich bei uns an der Schule so – auch vielleicht ein bisschen im Gegensatz zu meiner eigenen Schulzeit, dass wir total viele Schüler*innen haben, die total Lust haben zu diskutieren. Also, es ist jetzt nicht so, dass man es ihnen so aus der Nase ziehen müsste.
Sondern ich finde, wenn man so den richtigen Anlass gibt, dann sind das manchmal tatsächlich Selbstläufer. Ich habe es auch bei uns in der Gruppe auf jeden Fall so erlebt, dass es viele kontroverse Positionen gab. Also, es war jetzt nicht so, dass ich eine Gruppe vor mir hatte, die eine homogene Einheitsmeinung hatte, sondern einfach unterschiedliche Perspektiven schon im Raum waren. Und dann ging es eigentlich nur so ein bisschen daran, das in eine Form von Ordnung zu bringen.
Aber sich Sorgen um Kontroversität zu machen, war auf jeden Fall nicht mein Problem, würde ich sagen …
Melisa Başkara:
Also, wie ich das im Kurs mitbekommen habe: Jeder hatte eine andere Meinung, das steht fest. Aber der Kern war, glaube ich, dass Herr Nolte nie irgendjemandem das Gefühl gegeben hat, mit seiner Meinung falsch zu liegen und trotzdem zu lernen, seine Meinung zu hinterfragen und zu überdenken. Und das war schon in der ersten Stunde so. Unser erstes Semester ging über Religionen, und da haben wir über die verschiedensten Religionen gesprochen und jeder hat natürlich eine eigene Religion oder keine und eine eigene Meinung. [00:18:16.320]
Z.B. ein muslimischer Mitschüler von mir hat dann seine Meinung dazu geäußert und dann hat Herr Nolte gesagt: „Bist du dir eigentlich sicher in dem, was du sagst?“ Dann hat er gesagt: „Weiß ich jetzt nicht wirklich“. Und das war dann der Punkt, wo er darüber nachgedacht hat: Ist es eigentlich richtig, wie ich glaube? Oder muss ich mich noch mehr informieren darüber, was ich glaube? Und das hat er dann in den nächsten Stunden gemacht. Und dann kam er immer mehr mit Beweisen und Antworten, sodass das dann alles Sinn gemacht hat.
Moderation:
Du hattest jetzt das Thema Religion erwähnt. Im ersten Halbjahr war aber auch noch stärker Medien, Medienkompetenz Thema. Vielleicht könnten wir noch mal ein bisschen durch die Halbjahre gehen – wie ist der Kurs aufgebaut? Was passiert im ersten Halbjahr?
Tobias Nolte:
Genau. Ich glaube Religion – es macht auch schon Sinn, dass du das gerade angesprochen hast, weil es wahrscheinlich das kontroverseste Thema ist, das steckt ja auch ein bisschen im Titel schon drin: „Glauben und Zweifeln“. Und deswegen haben wir uns aber auch bewusst dafür entschieden zu sagen: Das Thema braucht erst mal eine bestimmte Art der Beziehung. Und das ist – also, es ist ein sehr, sehr identitätsstiftendes Thema, und es geht ganz stark an Emotionen ran und wir wollen diesem Thema natürlich auch mit dem nötigen Respekt begegnen. Deshalb haben wir uns bewusst dafür entschieden zu sagen: Das gucken wir uns erst im zweiten Halbjahr an und machen im ersten Halbjahr erst mal einen anderen Schwerpunkt und fragen uns, woher wir eigentlich Sachen wissen können. Also, ein bisschen angelehnt war das tatsächlich an diese vier großen kantischen Fragen. Das haben wir so ein bisschen als Ausgangsidee genommen, und uns dann eigentlich sukzessive im ersten Semester angeguckt, von so ganz abstrusen Annahmen über Wirklichkeit wie Verschwörungstheorien, womit wir eingestiegen sind – was Fatih gerade schon angesprochen hatte, dann über Medien und die Art, wie Medien berichten, uns anzugucken, und dass natürlich auch bei Medien irgendwie Sachen falsch laufen und Falschinformationen vermittelt werden. Aber eben auch nicht nur. [00:20:36.770] Dass es eben auch nicht „die“ Medien gibt, die irgendwie einheitlich gesteuert sind, sondern dass es da auch eine breite Palette gibt, dann so hin zur Wissenschaft und zu der Frage, wie Wissenschaft eigentlich arbeitet, wie an Universitäten geforscht wird, was ja auch letztendlich das Ziel von Oberstufe ist, dass Schüler*innen den Weg an der Universität machen, und aber auch sich klarzumachen, dass auch da letztendlich immer wieder Fehler gemacht werden und man sich nicht sicher sein kann, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis am Ende sich auch bewahrheitet.
Und das war so ein bisschen die Grundidee, im ersten Halbjahr zu zeigen, wie schwer es eigentlich ist, zu gesichertem Wissen zu kommen, und dass so eine Grundskepsis ganz gesund ist, wenn man mit Positionen konfrontiert ist, wo Menschen einem sagen: „Ich habe es auf jeden Fall verstanden und ich weiß genau Bescheid“.
Moderation:
Ja, was hat sich für euch durch den „Glauben und Zweifeln“-Kurs geändert? Wenn ihr im Internet surft oder, ich weiß nicht, ob ihr Radio hört, die Zeitung lest, Fernsehen guckt. Hat sich das verändert?
Fatih Yaşar:
Ja, auf jeden Fall. Also, ich kann ein Beispiel vom Haushalt geben, dass wenn meine Mama mir mal etwas zeigt, sagt: „Ja, hast du das gesehen?“ Ich sage so: „Aha. Und woher hast du das denn?“ Davor habe ich das gar nicht genau so nachgefragt. Und jetzt sagt sie mir z.B.: Von Instagram, irgendein nicht so bedeutendes Bild. Dann sage ich mir: So ein Bild kann jeder machen. Du muss dir das richtig anschauen, wer so was macht und ob das wirklich stimmt, halt – hat schon viel geholfen.
Melisa Başkara:
Ja, da stimme ich zu. Das mach ich zu Hause auch. Meine Schwester ist auch so eine Verschwörungstheoretikerin. Sie glaubt alles und jedem. Und ich bin dann immer diejenige – nach dem Kurs „Glauben und Zweifeln“ –, die sagt: „Pass mal auf, wo du das liest, oder? Pass mal auf, wer das geschrieben hat und ob das überhaupt der Wahrheit entspricht.“ Und dann diskutieren wir immer die ganze Zeit zu Hause. Also, hat uns schon geholfen.
Moderation:
Das zweite Halbjahr heißt: „Was kann ich glauben?“ Wie ist das angelegt?
Tobias Nolte:
Genau, das ist das „Religionshalbjahr“ letztendlich, wo wir uns mit Fragen der Religion auseinandersetzen. Wichtig ist, glaube ich, als Satz – ein Schüler hat das, der auch in dem Kurs war, in einem Artikel in der Süddeutschen gesagt: Am Anfang hatte ihm das tatsächlich Sorgen gemacht, in diesem Kurs zu sein, weil er selber sehr religiös ist und Religion eine große Rolle für ihn spielt. Und dass er tatsächlich so ein bisschen die Sorge hatte, dass der Kurs eigentlich heimlich das Ziel verfolgt, Schüler*innen von ihrer Religion abzubringen. Aber dass er dann nach und nach gemerkt hat, dass das eben nicht das Ziel ist, sondern dass es darum geht, sich mit Religion auseinanderzusetzen und auch offen zu sein, sich darüber tatsächlich Gedanken zu machen und nicht einfach alles nur hinzunehmen, sondern immer Fragen zu stellen.
Und das war das schönste Kompliment, was man so machen konnte. Weil ich auch ein bisschen die Sorge verstehe, dass da jetzt auf einmal von Zweifeln geredet wird, und gerade auch, wenn man sich anguckt, wie negativ Islam oder Muslimisch-Sein häufig betrachtet oder diskutiert wird, als ob das sozusagen die schulische Kur sein könnte. Und das ist es eben überhaupt nicht, sondern es geht tatsächlich darum, auch erst einmal zu fragen: Wozu ist Religion eigentlich alles gut?
Also, ich bin selber in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen und ich kenne durchaus auch die positiven Facetten, die Religion hat, Halt zu geben, Hoffnung zu geben, Menschen zusammenzubringen. Da ist einfach sehr, sehr viel, wo es überhaupt keinen Sinn macht, sich dem irgendwie kritisch gegenüberzustellen. Und gleichzeitig habe ich es aber auch in meiner eigenen Geschichte so erlebt, dass für mich es gerade als junger Mensch, in diesem Prozess des Erwachsenwerdens, auch ein wichtiger Schritt war, auch meine eigenen Fragen zu stellen. Und auch Antworten darauf von Erwachsenen hören zu wollen und nicht alles nur hinzunehmen und zu sagen: „Es wird schon richtig sein und ich bin irgendwie auch nicht befugt, da jetzt Fragen zu stellen“, sondern so ein bisschen sich selber den Mut rauszunehmen, auch Dinge zu hinterfragen, und sich selber auch als irgendwie denkendes Wesen wahrzunehmen.
Und da habe ich immer das Gefühl, davon kann man Religion auch nicht ausnehmen, wenn es so einen großen Stellenwert im eigenen Leben hat. Und das versuchen wir in dem Halbjahr zu machen, und uns durchaus auch mit Kritik an Religion, also auch nicht speziell nur am Islam, sondern eigentlich an allen oder an monotheistischen Religionen zu beschäftigen, und uns anzugucken, welches Gottesbild steckt eigentlich dahinter? Ist das eigentlich ein positives Gottesbild, was sich teilweise auch in z.B. biblischen Geschichten ausdrückt? Oder wird da auch ein wenig barmherziger Gott gezeigt? Und ist nicht eigentlich der Gott, an den wir glauben wollen, ist das nicht ein sehr den Menschen zugewandter und barmherziger Gott, den wir eigentlich doch auch suchen müssten, so, das ist ein bisschen die Idee des zweiten Halbjahres.
Moderation:
Und hast du dich dafür noch mal speziell mit dem Islam stärker befasst oder mit verschiedenen Religionen?
Tobias Nolte:
Ja und nein. Also, ich glaub, dass viel von dem, was ich in dieses Halbjahr einbringen kann, nicht speziell islamisch ist. Also, ich bin – das muss man dazu sagen – ich bin kein Islamwissenschaftler. Ich hab das jetzt nicht speziell studiert. Da gibt’s mit Sicherheit Leute, die dafür besser ausgebildet sind als ich, mit Jugendlichen über den Islam zu reden. Womit ich mich viel beschäftigt habe, in meinem Leben auch, sozusagen aus einer eigenen Identitätssuche heraus, ist tatsächlich Religionsphilosophie. Und das macht eben nicht so stark den Unterschied zwischen: Wie ist das eigentlich im Islam und wie ist das im Christentum?
Sondern da geht es eher um die Frage: Wenn wir uns Gott vorstellen, wie müsste der eigentlich sein, damit der den großen Schlagworten „allmächtig, allgütig, allwissend“ entspricht, die wir irgendwie annehmen. So, und das ist für mich so ein bisschen die Ausgangslage. Von daher – klar sprechen wir auch über den Islam, aber es ist nicht für mich, in der Konzeption dieses Halbjahres ist das nicht der Schwerpunkt, speziell sich den islamischen Gott anzugucken, sondern es geht eher davon aus zu sagen: Es gibt ganz, ganz viele Schnittmengen in den Narrativen der großen drei monotheistischen Religionen. Und wir gucken uns da eigentlich eher die Schnittmengen an und denken über Gott nach und denken jetzt nicht nur über Allah oder über Gott oder Jahwe nach, so.
Moderation:
Was war für euch besonders spannend in diesem Halbjahr?
Fatih Yaşar:
Also, ich hab mich auch vor dem Kurs sehr mit meiner Religion beschäftigt, halt was heißt zweifeln, also hinterfragt und noch mal nachgeforscht und so, das hab ich auch eigentlich auch vor dem Kurs gemacht. Es gibt vielleicht auch Leute, die es erst seit dem Kurs bemerkt haben und gemacht haben, aber bei mir kann ich sagen, dass ich es schon davor gemacht habe, aber dass es auch eine Hilfe war, auch mal anders zu denken. Das war so eine – wie wenn ich eine Arbeit leiste, dann noch mal eine bessere Arbeit dazu kommt.
Moderation:
Also, quasi noch mal das, was du eh schon gedacht hast, noch mal in anderer Form …
Fatih Yaşar:
genau.
Moderation:
Okay. Hast du noch besondere Erinnerungen oder etwas, was besonders herausfordernd war oder wichtig vielleicht?
Melisa Başkara:
Also, bei mir war es auch ähnlich wie bei Fatih. Ich hab nie nur dem geglaubt, was ich zu hören bekommen habe, sondern auch selber nachgeforscht. Aber so wie ich es im Kurs gemacht habe, habe ich es nicht getan.
Also, das war – manche Fragen, über andere Religionen z.B., ich wusste immer was, also vom Judentum oder vom Christentum oder von anderen Religionen. Aber für mich war das nie so, dass ich wirklich alles wissen muss, um darüber sprechen zu können. Und nach dem Kurs habe ich halt nur darüber gesprochen, wenn ich mir wirklich sicher war, dass das, was ich sage, auch wirklich stimmt. Und das hat mir Herr Nolte so beigebracht, weil er hat dann immer – also, wenn ich etwas gesagt habe, hat er dann mal gesagt: „Weißt du das? Wo hast du das gelesen?“ Oder: „Woher weißt du das?“ Und solche Sachen muss man ja auch beantworten, auch im echten Leben.
Und das hat mir dann geholfen. Also, in meiner Religion hatte ich schon Ahnung, aber in anderen Religionen vielleicht nicht so viel Ahnung, und damit hab ich mich dann mehr beschäftigt.
Moderation:
Ich finde, das klingt wirklich nach einem Kurs, den eigentlich jeder mal machen könnte – auch, wenn man schon älter ist – und eben auch mit Blick auf das dritte und vierte Halbjahr, wo es dann stärker noch mal um das eigene Leben geht. Kann man das so sagen? Die eigene Identität?
Tobias Nolte:
Genau. Das dritte Halbjahr haben wir dann so ein bisschen unter den Schwerpunkt „Individuum und Gruppe“ gestellt. Ich habe ja am Anfang gesagt, ich bin schon länger, jetzt mittlerweile im achten Jahr, glaub ich, an der Schule. Und das ist schon was, was ich immer wieder festgestellt habe – also, dass Neukölln irgendwie auch ein ganz schönes Dorf sein kann, und es manchmal gar nicht so easy ist, hier aufzuwachsen, weil man schon so das Gefühl hat, dass das, was man sagt und wie man sich verhält und auch die Art, wie man denkt, nicht nur von einem selber bestimmt wird, sondern dass da noch mehr Leute mit draufgucken und auch im Zweifelsfall sagen, dass das nicht richtig ist, wie man sich verhält, und dass da so – dass schon so eine Art soziale Kontrolle da ist und teilweise das auch die Freiheiten von Jugendlichen ganz schön einschränken kann. So dieses Gefühl zu haben: Vielleicht sehe ich das auch anders. Aber wenn ich das jetzt sage, dann kann ich auch auf den Deckel kriegen dafür. [00:34:50.890]
Und deswegen, finde ich, ist dieser Kurs auch in diesem Stadium des Erwachsenwerdens gut angesiedelt, weil das ja genau diesen Schritt ausmacht, zu sagen: Ich möchte jetzt aber selber denken und ich möchte nicht mehr das nur von meiner Umgebung bestimmen lassen, wer ich bin und wie ich sein will. Und deswegen haben wir am Anfang dieses Halbjahres uns so ein bisschen mit Sozialpsychologie beschäftigt, und uns angeguckt: Wie laufen eigentlich Gruppenprozesse ab? Inwieweit bestimmen Gruppen auch die Handlungsfreiheit von Individuen. Und haben uns das dann relativ praktisch angeguckt, an zwei Dokus, die wir uns angeschaut haben. Einmal eine Doku, die heißt „Kleine Germanen“ – da geht es um eine Art Nazi-Dorf, kann man sagen, wo Kinder praktisch in so einer NS-Ideologie aufgezogen werden, und die Protagonistin irgendwann merkt, dass das doch alles irgendwie komisch ist, und dann aber die Gruppe auf einmal sehr zugreift.
Und dann haben wir noch eine andere Doku angeguckt, „One of us“ heißt die, da geht es um so eine chassidische Gemeinde in New York, die sich ein bisschen zum Ziel gesetzt hat – na ja, eigentlich ist das eine Art Reaktion auf die NS-Zeit und den Holocaust, zu sagen, wir müssen zusammenhalten, wir müssen unsere Art des Lebens weiterführen und dürfen uns nicht von äußeren Einflüssen davon abbringen lassen, und stehen damit irgendwie auch in der Verpflichtung der Menschen, die gestorben sind.
Und wo man aber auch in der Doku merkt, welchen Druck das auf das Individuum erzeugt. Dann haben wir viel darüber gesprochen, ohne dass man jetzt sagen kann, dass diese Beispiele vergleichbar sind mit den Erfahrungen, die Jugendliche in Neukölln machen, ist es schon ein ganz guter Gesprächsanlass gewesen, sich das anzuschauen und dann zu gucken: Wo machen wir eigentlich auch ähnliche Erfahrungen, wo wir die Art, wie wir leben, und die Freiheiten, die wir uns auch wünschen, wo werden die eingeschränkt? Und inwieweit wollen wir vielleicht auch anders leben?
So, und dann haben wir uns im Zuge dessen auch noch mal mit Fragen nach Geschlechterrollen beschäftigt und danach, wie – welche Erwartungen gibt’s eigentlich an Jungs im Aufwachsen? Welche gibt’s an Mädchen? Und finden wir die eigentlich so geil? Oder wollen wir vielleicht das irgendwie anders machen? Und so heimlich war das, glaub ich, mein Lieblingshalbjahr, muss ich sagen. Also, das war auf jeden Fall sehr spannend, was da an Gesprächen entstanden ist.
Moderation:
War das auch euer Lieblingshalbjahr?
Fatih Yaşar:
Ja, auf jeden Fall. Das war sehr spannend. Also, wie gesagt, Neukölln könnte ein Dorf sein. Also, wenn jetzt hier junge Erwachsene rumlaufen, alle mit derselben Jacke, bin ich dann auch gezwungen, diese Jacke zu tragen oder nicht? Muss ich unbedingt ein Nike-T-Shirt tragen?
Nein. Also, ich laufe mit einem Anime-T-Shirt herum, was ich sehr selten sehe in Neukölln. Also, ja, das ist halt sehr wichtig, auch mal selbst zu sein, zu sagen: Ich bin ich und ich muss nicht so wie ihr alle sein.
Moderation:
Ich fand schon jetzt die Film-Beispiele – das sind ja schon sehr, sehr geschlossene Gruppen. Also – fandet ihr das vergleichbar oder konntet ihr das übertragen tatsächlich auch hier auf den Kiez hier in Neukölln und euer Leben?
Melisa Başkara:
Also, konnten wir schon – wir haben es dann meistens auf uns selbst übertragen und gesagt: Wie wäre es, wenn du jetzt selber anders wärst, also gegen den Strom fließen würdest? Wie wäre es, wenn ich z.B. meine Familie verlassen würde oder meine Religion?
Wie würde mein Umfeld darauf reagieren? Ich bin ja muslimisch aufgewachsen, meine Familie ist auch muslimisch, und wenn ich jetzt meine Religion ablegen würde, dann wäre das natürlich …
Also, die Reaktion meiner Familie wäre natürlich auch ähnlich, wie die in der Dokumentation. Und das, darüber mal nachzudenken, das hat – also war nicht einfach, würde ich sagen. Es hat uns schon mitgenommen.
Moderation:
Aber das mal durchzuspielen, war wahrscheinlich mal ganz gut …
Melisa Başkara:
Wie sich die Menschen fühlen, die in der Lage stecken. Also, wenn jetzt zum Beispiel jemand keiner Religion angehört oder – also, es gibt ja Menschen, die das machen, wonach sie Lust haben, und die werden meistens von der Gesellschaft verstoßen. Und wir haben gelernt – würde ich behaupten –, uns in die Lage dieses Menschen zu stecken. Und ich glaube, das öffnet viel mehr Wege, für Menschen oder für Schüler, die jetzt sehr straight denken und nur ihre eigene Meinung verteidigen und auch keine andere akzeptieren, homophob sind oder religionsfeindlich sind, also gegenüber anderen Religionen. Für die ist es ein Weg, um die eigene Position zu ändern.
Moderation:
Ist der Kurs denn für jeden geeignet? Waren da jetzt lauter Leute, die schon so offen waren, in den Kurs zu kommen? Oder waren da auch Leute, die sehr, sehr skeptisch waren, wo sich dann ganz viel oder nicht so viel geändert hat? Für wen ist dieser Kurs geeignet?
Fatih Yaşar:
Na ja, ich würde sagen mehr für die Leute, die sich selbst dafür interessieren. Also, wir hatten auch klar Schüler da, die einfach da rumsaßen und nichts gemacht haben, die es vielleicht langweilig fanden. Aber bei mir war es ganz im Gegenteil. Also, ich habe mich immer gefreut, wenn „Glauben und Zweifeln“ im Stundenplan war, nicht so, wie die anderen Fächer. Hat auf jeden Fall sehr Spaß gemacht. Wenn man sich selbst interessiert und so was auch machen will und erfahren will, dann – natürlich ist es für diese Personen bestens.
Melisa Başkara:
Ja, und es gab natürlich Schüler oder Schülerinnen, die auch sehr überzeugt von ihrer eigenen Position waren. Da haben die dann auch nichts – oft haben sie ihre eigene Meinung nicht geändert, aber das müssen sie ja auch gar nicht. Der Kurs ist ja nicht dazu da, um die eigene Meinung zu ändern, sondern um zu diskutieren und um die Meinungen anderer zu verstehen. Deshalb ist es für jeden geeignet, würde ich sagen.
Moderation:
Und wie müssen Lehrer sein, die das unterrichten wollen?
Melisa Başkara:
Sehr neutral, also wirklich, der Kurs braucht eine neutrale Lehrkraft, weil Herr Nolte war z.B. schon immer neutral. Also, es war unterschiedlich. Er ist ein emotionaler Mensch. Ich finde, man sieht seine Emotionen direkt. Also, das würde ich behaupten. Aber er war auch immer neutral. Also, wenn jetzt drei verschiedene Leute verschiedene Meinungen hatten, hat er sie alle akzeptiert, und er hat gesagt: Ja okay, aber dann überdenkt mal eure Meinung und beantwortet mir mal alle drei diese Frage.
Und das würde ein Lehrer, der eine starke eigene Position hat, nicht tun können. Also, dazu wär er, würde ich behaupten, nicht in der Lage, und das war Herr Nolte. Und deshalb muss die Lehrkraft neutral sein.
Fatih Yaşar:
Na ja, die muss halt selbst interessiert sein dafür. Weil, wenn wir jetzt einen anderen Lehrer hätten, der sich gar nicht dafür interessiert, was – was juckt ihn dann die ganze Diskussion, die wir führen? Oder kommt er überhaupt mit spannenden Themen, so wie Tobias das gemacht hat? Also, der muss schon selber mit da drin sein und das selber fühlen. Ansonsten macht es keinen Sinn. Und halt auch etwas neutral sein. Weil wenn man einen kleinen falschen Kommentar sagen könnte, dann könnte es vielleicht ganz schnell eskalieren. Aber – ist nicht passiert, zum Glück.
Melisa Başkara:
Mit neutral meine ich auch nur die Akzeptanz der verschiedenen Meinungen. Ich meine jetzt nicht, dass er keine Emotionen hat. Also, ich fand, dass er schon Emotionen gezeigt hat, aber – und das soll auch so sein, weil dann fühlen sich Menschen am meisten wohl, also dieses Gefühl hatte ich auch im Kurs: Jeder konnte das sagen, was er will, und es gab immer Diskussionen, also immer Meinungsverschiedenheiten. Damit ist er eigentlich sehr gut umgegangen. Und das bräuchte der Kurs auch. Also braucht der Kurs.
Moderation:
Wie lernt man das, mit so erhitzten Diskussionen und Emotionen im Kurs umzugehen?
Tobias Nolte:
Puh, schwierige Frage, ne? Ich glaube, ein bisschen was Fatih gesagt hat. Man muss halt a) Bock, glaub ich, auf die Themen haben. Und ich glaube, man muss Bock auf die Arbeit mit den Schüler*innen haben und bereit sein zuzuhören, bereit sein, auch zu verstehen, dass man selber auch nicht alles weiß. Ich glaube, das ist eine große Kompetenz, die manchmal im Lehrerberuf ein bisschen zu kurz kommt. Wir nennen das manchmal Nicht-Wissens-Kompetenz, zu akzeptieren, dass ich auch nicht alles weiß, und sich nicht einzubilden, dass ich jetzt den Islam-Handwerkskasten habe und jetzt mal Schüler*innen beibringe, wie ihre Religion funktioniert. Das ist überhaupt nicht mein Job. Sondern eben zuzuhören und – ich glaube, auch nicht gleich Schnappatmung zu bekommen, wenn Schüler*innen mal was sagen, was eben nicht meiner eigenen Haltung oder meiner eigenen Position entspricht, sondern darüber ins Gespräch zu gehen. So, und da auch kontroverse Positionen als Lernanlass zu verstehen und nicht als Anlass zu sanktionieren und zu sagen: „Das sagen wir hier aber nicht“ oder „Das möchte ich nicht hören“. Sondern erst mal ist jede Position willkommen, und wichtig ist eigentlich nur zu versuchen, die auch gut zu begründen, und das macht es dann halt spannend. Das macht, finde ich, auch den Kurs total spannend. Ich könnte ihn tatsächlich auch jedem empfehlen, der ein Grundinteresse an diesen Themen mitbringt und Bock hat, mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu arbeiten, die viele Fragen haben und sehr weit davon entfernt sind, desinteressiert auf die Welt und auf die Gesellschaft zu gucken.
Moderation:
Dann würde ich gerne noch kurz auf die Related Crew zu sprechen kommen. Die Grundidee habe ich mir hier notiert mit: „Related spricht für sich selbst, weil wir keine Lust mehr haben, dass andere über uns reden“. Könnt ihr kurz erzählen, was die Related Crew ist, was ihr da macht?
Fatih Yaşar:
Also related – wer wir sind und was wir machen –, das hat sich selber in der Zeit entwickelt. Weil ganz am Anfang hatten wir andere Gründe, um diese Gruppe zu starten, wie Lehrkräften zu zeigen, wie man Lehrer sein soll, also Studenten, die sollten wissen, wie man mit Schülern umgeht. Aber jetzt, mittlerweile wollen wir das auch, denke ich, allen zeigen, wer wir sind und wie wir sind, weil – jeder Schüler hat seine Schwierigkeiten, und das sieht ja nicht jeder. Und das wollen wir halt mit unseren Geschichten und auch mit anderen Geschichten der Welt zeigen oder Deutschland zeigen, dass wir Schwierigkeiten haben und nicht jeder gleich ist, so wie jeder denkt.
Das auch den Lehrern zu erzählen: Ey, ich bin anders als Melisa, ich habe andere Schwierigkeiten zu Hause. Ich habe kein Tablet oder einen Laptop zu Hause, wo ich mir eine PowerPoint-Präsentation leisten kann, ich muss immer 500 km (lacht), zwei Kilometer zur Bibliothek fahren und dort irgendwas machen. Dass nicht jeder immer so – zusammen in eine Schublade gepackt wird, so, dass ist eigentlich unser Ziel.
Moderation:
Sind das alles Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte von der Rütli oder wer ist „wir“?
Melisa Başkara:
Nein, wir sind alle verschieden verteilt, würde ich sagen. Also, wir haben Lehrkräfte dabei, wir haben Sozialpädagogen dabei, wir haben Schüler*innen, jüngere und ältere, dabei. Wir haben auch …
Fatih Yaşar:
Studenten.
Melisa Başkara:
Studenten – ah, stimmt, Studenten haben wir auch dabei. Von jeder Altersgruppe haben wir welche dabei. Azubis natürlich nicht zu vergessen. Also, das Wichtigste ist einfach nur, das gleiche Ziel zu verfolgen und dieselben Interessen zu verfolgen.
Moderation:
Aber was verbindet die Leute dann, dass sie hier aus dem Bezirk sind? Oder dass sie jung sind und sagen: Wir wollen mit denen reden, die mit jungen Menschen arbeiten? Was ist das Verbindende?
Melisa Başkara:
Das Verbindende ist, glaube ich …
Fatih Yaşar:
… ist hauptsächlich, dass die meisten Schüler waren oder Schüler sind und halt Sachen erlebt haben in ihrer Schulzeit, die nicht noch mal vorkommen sollen. Egal bei sich selber oder bei anderen. Und ich glaube, das ist, was uns alle so verbindet, und deswegen sind wir auch so zusammenkommen. Sind nicht alle nur vom Rütli, auch von anderen Schulen.
Melisa Başkara:
Und dass wir der Meinung sind, nicht einfach nichts zu tun, sondern wirklich was zu tun, weil meistens wird nur darüber gesprochen, aber keiner unternimmt was, weil man diese Ängste hat oder Befürchtungen, dass es eh nichts bringt. Wir sind der Meinung, auch wenn es nichts bringen sollte, machen wir trotzdem was. Vielleicht kann sich der jetzige Zustand ja verändern.
Moderation:
Zum Schluss noch mal die Übertragung auf das große Ganze, die Gesellschaft, also, ihr habt jetzt – man merkt es ja auch – gelernt, Themen zu besprechen, die vielleicht kompliziert sind, und Auseinandersetzungen zu führen – was habt ihr für Tipps für uns alle? Wie schaffen es Menschen, dass man wirklich konstruktiv und produktiv miteinander ins Gespräch kommt, auch wenn man ganz verschiedener Meinung ist? Habt ihr Tipps?
Melisa Başkara:
Das Wichtigste ist eine offene Haltung, würde ich sagen.
Fatih Yaşar:
Nein, das ist eine sehr schwierige Frage. Ich weiß selbst nicht, was ich dazu sagen soll. Also, ich würde eher sagen, dass wenn man respektvoll miteinander umgeht und offen ist, dann wird das schon klappen, und sich gegenseitig zuhört und nicht direkt sich fetzt.
Moderation:
Und das wäre wahrscheinlich auch der Tipp, wenn andere Pädagogen, Pädagoginnen diesen Kurs – den könnten ja auch andere inspiriert sein umzusetzen. Gibt’s da noch speziell Tipps für die Lehrkräfte?
Fatih Yaşar:
Nun ja, deren Job soll nicht nur sein, einfach nur Lehrer zu sein, sondern auch Freund der Schüler. Die sollten auch mit den Schülern sprechen können und nicht einfach nur vor die Tafel gehen, Formeln aufschreiben und dann Tschüss! wieder nach Hause, sondern wirklich auch Freund mit den Schülern zu sein. Und ein „Glauben und Zweifeln“-Kurs – klappt nicht, wenn man nicht befreundet ist mit den Schülern.
Melisa Başkara:
Ja, und das Wichtigste, würde ich sagen, im Kurs, aber auch im Lehrersein ist, interessiert daran zu sein. Weil wenn man es nur macht, weil man länger Ferien hat oder mehr Geld verdient, dann bringt es dem Schüler nichts, aber auch nicht dem Lehrer. Weil dann haben beide keine Lust aufeinander und dann lernt man auch nichts voneinander. Deshalb muss man Lust auf den Kurs haben und auf die Schüler.
Moderation:
Und wahrscheinlich auch Lust, von denen zu lernen. Kannst du noch sagen, was du gelernt hast und damit rausnimmst?
Tobias Nolte:
Man hört das ja, ne? Man hört ja, wie cool die sind. Und das macht halt Bock. Und deswegen ist so ein bisschen – dieses Related-Ding haben wir gerade schon angesprochen. Es ist so ein bisschen zweigeteilt: Einerseits die Schüler*innen-Perspektiven und dann aber auch von uns als Pädagog*innen. Und da würde ich mir immer wünschen, dass sich so ein bisschen die Perspektive auf Schulen wie unsere ändert und nicht so diese diffuse Angst überwiegt, mit diesen ganzen Brennpunktschulen-Stigmatisierungen, sondern man irgendwie versteht, dass das einfach Bock macht, mit denen zu arbeiten und an den Themen zu arbeiten, die sie auch wirklich umtreiben und interessieren.
Und das kann ich nur empfehlen!
Moderation:
Ich kann nur empfehlen, bei Instagram der @related_crew zu folgen.
Und wer Näheres über den „Glauben und Zweifeln“-Kurs erfahren will, für den haben wir einige Links in den Infotext zu dieser Folge gesetzt. Man kommt von dort ebenfalls zu einer Dokumentation des „Projektkurses Naher Osten“, den Tobias nur ganz kurz erwähnt hat, der aber ein ebenso interessantes und wichtiges Projekt ist.
Das war die dritte Folge des RISE-Podcasts zu Identität, Pluralismus und Extremismus. Die nächste Folge widmet sich dem Thema Rassismus.
Ich verabschiede mich, bis zum nächsten Mal!