JINGLE RISE SCHULKLINGEL

Moderation:
Das war die Schulklingel des Lessing-Gymnasiums im Berliner Stadtteil Wedding. Dort war ich für diese fünfte Folge des RISE-Podcasts zu Besuch und habe mit zwei Schüler*innen und einer Lehrerin gesprochen.

 

Betül:   
Ja, hi, ich bin Betül, Schulsprecherin und Teil des SV-Teams am Lessing-Gymnasium in Berlin, und ich bin Mitbegründerin des Your Local Empowerment Clubs und würde einmal abgeben an Phoenix.

 

Phoenix:
Ja, hallo, ich bin Phoenix, ich bin auch im SV-Team und auch Teil des Your Local Empowerment Clubs.

 

Şengül:
Ja, ich bin Şengül. Ich bin Lehrerin am Lessing-Gymnasium und ich begleite den Your Local Empowerment Club als Lehrkraft.

 

Moderation:
Mein Name ist Julia Tieke, und diesmal ist unser Schwerpunktthema Rassismus und Empowerment. Den „Your Local Empowerment Club“ – oder kurz Y-LEC – diesen Club haben Betül, Phoenix und Şengül Anfang 2021 gegründet, um rassistischen Erfahrungen etwas entgegenzusetzen. Und daher habe ich sie für diesen Podcast getroffen.

Was wissen wir eigentlich über rassistische Erfahrungen an Schulen? Was heißt es, sich an Schulen – und darüber hinaus – pädagogisch mit diskriminierenden Strukturen auseinanderzusetzen? Wie kann Selbstermächtigung geschehen? Welche antirassistischen Initiativen und Strategien gibt es in der jugendkulturellen Arbeit?

Von diesen Fragen handelt der Podcast, und davon handelt auch das Gespräch mit Betül, Phoenix und Şengül. Außerdem habe ich mit Maral Jekta gesprochen. Sie ist Mitarbeiterin von ufuq e.V. Das ist ein Verein, der an der Schnittstelle von politischer Bildung und Universalprävention arbeitet, und zwar zu den Themen Islam, antimuslimischer Rassismus und Islamismus. Maral begleitet das RISE-Projekt wissenschaftlich. Und bevor wir mehr über den „Your Local Empowerment Club“ erfahren, erläutert sie, weshalb Rassismus eines der fünf Schwerpunktthemen von RISE ist, weshalb es für Jugendliche so wichtig ist.

 

Maral:
Für Jugendliche ist es insofern relevant, als dass sie eigentlich immer in ihrem Alltag mit rassistischen Vorfällen konfrontiert werden. Das kann schon bei Kleinigkeiten anfangen, wenn man zum Beispiel dieses typische Beispiel hat von jemand greift einem ungefragt in die Haare. Oder bei der Wohnungssuche, wo viele Jugendliche beispielsweise davor zurückschrecken, ihren echten Namen zu nennen, weil sie dann befürchten, dass sie eine Wohnung nicht bekommen. Es fängt auch bei Kleinigkeiten wie der Wochenendplanung an, wo sie erst mal überlegen müssen, in welche Gegend sie fahren können, ohne sich davor schlau zu machen.

Das heißt, es ist so wie ein schlechter Soundtrack, der immer läuft und immer irgendwie im Hintergrund mit dabei ist. Das mag für andere nicht sichtbar sein, aber das prägt halt jugendliches Leben, genauso wie das Leben ihrer Eltern, ihrer Großeltern. Und das sind diese Erfahrungen, die zeigen, dass das Thema für das Projekt wichtig ist.

Aber um noch mal auf die gesellschaftliche Ebene zurückzugehen: Das zeigen auch die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass rassistische Einstellungen bis in die Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Das heißt, sie sind sowohl gesamtgesellschaftlich relevant als auch für Jugendliche, für die ja das Projekt gestaltet wurde. Und vielleicht noch wichtig zu sagen, dass gerade diese Rassismuserfahrungen von Jugendlichen dazu beitragen, dass sie immer wieder daran erinnert werden, nicht Teil der Gesellschaft zu sein, und gerade für Jugendliche, die in dieser Phase nach Gruppenzugehörigkeit suchen und nach Anerkennung und Orientierung, ist es ein Problem.

Islamistische Gruppierungen greifen besonders dieses Thema von Rassismus auf, und gerade diese legitime Kritik, um selbst ein Angebot zu geben. Und dieses Angebot ist durchaus attraktiv. Die sagen: Egal woher du kommst, egal welche Hautfarbe du hast, egal welcher sozialen Schicht du zugehörst, bei uns wirst du als einer unter Gleichen anerkannt. Solange du dich unseren Ideen und der Ideologie unterwirfst. Das führt dazu, dass sie genau diese Bedürfnisse aufgreifen, die Jugendliche haben. Insofern ist das Thema für das Projekt sehr relevant.

 

Julia:
In der Folge geht es ja hauptsächlich um Engagement an Schulen und ich war eben am Lessing-Gymnasium. Was kannst du allgemein, vielleicht auch an ein paar Beispielen, über Rassismus an Schulen sagen? Wie äußert sich Rassismus an Schulen?

 

Maral:
Also, Beispiele im schulischen Kontext sind zu finden: konkrete Fragen, die Lehrer*innen stellen, ohne das böse zu beabsichtigen, was aber bei Jugendlichen so eine Entfremdungserfahrung hervorrufen kann. Das kann zum Beispiel die Frage danach sein: „Wie macht ihr das bei euch?“ – was so eine Differenzierung von „wir und sie“ nach sich zieht. Es kann sich darin ausdrücken, dass zum Beispiel Jugendlichen, die sich als muslimisch identifizieren und nach einem Gebetsraum fragen, das verweigert wird. Es kann sich in schnippischen Bemerkungen von Lehrer*innen sichtbar machen, wenn eine Jugendliche nach der Sommerpause mit einem Kopftuch zurückkommt – das sind so Alltagsbeispiele, die da sind. Strukturell macht es sich tatsächlich in den Lernmaterialien bemerkbar, das untersuchen auch andere Vereine. Da ist rassistisches Wissen nach wie vor enthalten. Es macht sich daran bemerkbar, dass in den Materialien wenig über die Erinnerungskulturen anderer, also der von Minderheiten repräsentiert wird. Es macht sich in Machtstrukturen bemerkbar, in den Schulen.

Und was wir auf jeden Fall wissen, von Studien, ist, dass es sich tatsächlich auf die Abschlüsse bemerkbar macht. Das heißt, es wurde gerade eine Studie vorgelegt, in der nachgewiesen wird, dass Jugendliche mit Migrationsbiografien bei selben Leistungen schlechtere Noten bekommen. Und ich glaube, das ist einer der relevantesten Punkte.

Gerade aktuell sehen wir beispielsweise im Kontext des Ukraine-Konflikts auch, dass einige Journalisten, sowohl in den amerikanischen Medien, aber auch zum Beispiel bei einer Sendung auf ZDF, eine Sprache wählen, in der sie eigentlich Empathie mit den ukrainischen Geflüchteten zum Ausdruck bringen, aber in dem gleichen Atemzug sagen, dass es sich bei diesen Geflüchteten um andere handelt als beispielsweise bei denen aus Irak, Syrien, Afghanistan, weil diese Geflüchteten weiß seien, christlich seien, weiße Haut und blaue Augen haben.

Und diese Differenzierung oder diese Äußerungen, die leider extrem rassistisch sind, die finden Jugendliche – die bemerken sie, und die wird auch, das sehen wir, von islamistischen Gruppen aufgegriffen. Und das wäre etwas, was Lehrer*innen beispielsweise aktuell auch machen könnten. Nicht nur den Konflikt, auch diese Berichterstattung zum Thema als Anlass zu nehmen, um über Rassismus zu sprechen in der Gesellschaft.

 

Moderation:
Maral hat hier einleitend einige Aspekte rund um Rassismus und Schule angesprochen. Das RISE-Projekt selbst arbeitet an der Schnittstelle von Medienpädagogik, politischer Bildung und universeller Prävention und versteht sich als ein pädagogisch empowerndes Projekt. Eins der Ziele von RISE ist es, Jugendliche darin zu stärken, kritisch, reflektiert und autonom ihre Perspektiven einzubringen, in Debatten, die für sie relevant sind, dazu gehört auch das Thema Rassismus.

Der Y-LEC, der „Your Local Empowerment Club“ am Berliner Lessing-Gymnasium ist, zielt hingegen auf politisches Empowerment ab. Der Club ist zwar an die Schule angebunden, findet aber außerhalb des Unterrichts statt. Zu seinen Veranstaltungen kommen Gäste, die zum Beispiel aus ihren Büchern vorlesen oder Slam Poetry aufführen und mit Schüler*innen ins Gespräch gehen. Initiiert hat den Club Betül, die gerade ihr Abitur macht.

 

Betül:
Antirassische Arbeit hat mich eigentlich immer schon beschäftigt, aber besonders – im Januar letzten Jahres ist die Projektidee entstanden. Eigentlich sollte das eine coronakonforme Online-Schulparty werden, eine Art Zoom Stream mit unterschiedlichen Zoomräumen, wo die Leute aus der Schule tanzen können und so Zeug. Aber es hat sich dann doch in eine andere Richtung entwickelt, auch dank der Hilfe von EOTO – Each one, teach one e.V. Die haben uns da finanziell ganz doll unterstützt.

Und genau, dann ging es eben in die Richtung, dass wir das nicht zu einer interaktiven Sache machen, sondern eher zu einem Bildungsauftrag. Und so ist das Ganze entstanden. Und auch so ein bisschen – ich war im Januar tatsächlich bei der Oury-Jalloh-Kundgebung in Dessau. Und diese Atmosphäre von der Kundgebung und auch die ganze Stimmung hat mich wieder dazu angetrieben, irgendwas zu machen, ich hatte den Drang, nach der Kundgebung auch unbedingt was an der Schule zu organisieren und zu bewegen.

 

Julia: 
Und dann hast du erst mal dir Verbündete gesucht oder wie – es war erst mal eine Idee, mit der du gekommen bist?

 

Betül:  
Genau. Ich hatte die Idee und dann wusste ich eben, dass es Lehrkräfte in der Schule gibt bzw. eine ganz bestimmte Lehrkraft, Şengül, die auch schon ganz lange dazu arbeitet, und ich habe sie dann direkt angesprochen. Und sie hatte den entscheidenden Kontakt zu EOTO. Und darüber haben wir uns überlegt, wie wir das ganze Format ausbauen können, und haben das dann tatsächlich innerhalb von einer Woche alles organisiert, Alice Hasters und Muhammad Amjahid auch organisiert, und das war echt ziemlich viel in einer Woche.


Ausschnitt von YouTube aus der ersten Y-LEC-Veranstaltung (Slam von Jasmin Poesy):

„In mir herrscht Chaos, die Straßen sind der Tatort, was hier abgeht ist hardcore, aber wir kennen es von klein auf, unsere Eltern fighten in Civil War Zones. Wir haben nichts, das Internet ist unser Sprachrohr, Hände hoch, ich bin unschuldig, Schlagwort, bis mein Herzschlag stoppt. Du willst wissen, was man gegen Rassismus tun kann – dann hast du das Problem nicht kapiert. Deine Aufgabe ist es nicht Rassismus zu bekämpfen, sondern dass du ihn erst nicht produzierst. Rede mit deinen Kollegen, deiner Familie, deinen Freunden, ich will sehen, wie du diskutierst. Weil wir haben alles, was in unserer Macht ist, schon probiert…“

 

Moderation:
Das war die Slam Poetin Jasmin Poesy – beim ersten Y-LEC im Januar 2021. Die Veranstaltung ist in Ausschnitten auf YouTube zu finden. Beim ersten Y-LEC war auch die Journalistin und Autorin Alice Hasters mit ihrem Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ zu Gast sowie Muhammad Amjahid, ebenfalls Journalist und Autor, mit seinem Buch „Der weiße Fleck: Eine Anleitung zu antirassistischem Denken“.

 

Julia:
Woher kommt denn der Name „Your Local Empowerment Club“?

 

Betül:  
Eigentlich aus der Idee, Leute zu empowern, und wir haben eben nach einem coolen Namen gesucht und da hatte Şengül die Idee: Lass es uns doch „Your Local Empowerment Club“ nennen – also, eigentlich sollte es erst irgendwas mit Antirassismus oder antirassistischer Abend werden, aber wir haben uns dann doch entschieden, dass es tatsächlich so einen Empowerment-Fokus haben soll und empowermentorientiert sein soll. Und so kam das Ganze.

 

Şengül:
Also, wir haben zusammen nach einem Namen gesucht. Ich habe den jetzt nicht selbst in die Welt gerufen, sondern es waren mehrere Vorschläge, und wir haben uns dann für den Vorschlag entschieden. Also einfach dieses „your local“ – dass es hier stattfindet, an unserer Schule, an diesem Ort, in unserem Kiez. Und das ist eben das Besondere. Also, Empowerment-Angebote gibt es ja sehr viele, aber eben nicht an Schulen speziell.

(…) Erst mal ging es uns darum, so einen außerunterrichtlichen Raum zu schaffen, oder? Ja – weil ich glaube, wir drei sind uns einig, dass Empowerment im Unterricht nur ansatzweise gelingen kann, und das Wichtige ist, diese Räume auch außerhalb des Unterrichts zu schaffen. Das war unser Fokus erst mal.

Aber so ein Projekt kann natürlich viel ins Rollen bringen. Es kann natürlich Anstöße geben für eine Schule, auch weitere Dinge zu organisieren, Arbeitsgruppen zu bilden, beispielsweise, die sich mit diskriminierungskritischen Materialien auseinandersetzen, Lehrer*innen zu sensibilisieren. Also, wenn eine Schule das aufgreifen möchte, dann kann sie das, glaube ich, tun. Dann trägt sich das auch irgendwie in den Unterricht und wird Teil der Schulkultur.

 

Phoenix: 
Das ist auch teilweise passiert, dass im Unterricht Thematiken angesprochen wurden, die beim Y-LEC aufgebracht wurden. Aber es ist auf jeden Fall kein Teil des Unterrichtsplans und in keiner Weise verfestigt, sondern basiert einfach darauf, dass einige Lehrkräfte dort besonders engagiert sind. Aber das Ziel von Empowerment, das wir verfolgen, ist auch einfach nicht kompatibel mit Unterrichtssituationen, weswegen wir dort gar nicht erst die Erwartungshaltung haben, dass sich in Form von irgendwelchen Reformen bezüglich des Unterrichts Empowerment durchsetzen könnte.

 

Julia: 
Habt ihr aber den Eindruck, dass sich das Engagement auszahlt? Habt ihr was in Bewegung gesetzt für euch?

 

Phoenix:     
Ich würde schon sagen. Wir hatten natürlich nie die Erwartungshaltung, dass das jetzt plötzlich von einem Tag auf den nächsten zu einem Paradigmenwechsel führt. Aber es hat trotzdem dafür gesorgt, dass Thematiken rund um Antirassismus und Empowerment öfter besprochen wurden. Zumindest in meinem Umkreis sind sehr viele Gespräche aufgetaucht, und zudem wurde auch im Unterricht viel öfter so eine Perspektive mit eingebracht. Wobei man dann trotzdem sagen muss, dass das nicht ansatzweise genug ist und dass wir natürlich immer noch mehr erwarten und mehr haben wollen.

Und darüber hinaus finde ich, dass es mir auch einfach persönlich was gebracht hat, weil, wie bereits erwähnt wurde, ist das unheimlich empowernd für einen selber, wenn man so eine Veranstaltung auf die Reihe kriegt. Ich habe teilweise gar nicht realisiert, wie krass das eigentlich ist, dass ich so bekannte Persönlichkeiten einfach interviewen kann. Das war schon ziemlich besonders für mich.

 

Moderation:
Also, ist das persönliche Engagement, also der Grund, auch sich zu engagieren, tatsächlich das eigene Empowerment?

 

Phoenix:
Das würde ich jetzt nicht ganz so sagen, ich glaube, ich habe einfach so eine Art inneren Trieb, mich politisch zu engagieren, nicht weil mir das unbedingt Spaß macht, sondern weil der Status quo einfach nicht akzeptabel für mich ist und ich insofern Energie dafür aufbringen muss, in gewisser Weise für Veränderung zu sorgen, selbst wenn das nur in kleinem Rahmen möglich ist.

 

Betül:   
Ja, mir geht es da genau ähnlich wie Phoenix auch. Das ist halt einfach die Gesamtsituation und auch die Gesamtsituation im Raum Schule. Ich meine, wir bewegen uns hier jeden Tag und – jede*r Schüler*in ist an jeder Schule irgendeiner rassistischen oder diskriminierenden Gewalt ausgesetzt, und damit müssen wir eben versuchen umzugehen. Und ich glaube, diesen Umgang können wir mit dem Local Empowerment Club insofern vielleicht ausgleichen. Also niemals wegmachen, niemals irgendwie ausradieren, aber ausgleichen, indem wir versuchen, ja, die Leute zu empowern und sie mitzunehmen.

 

Moderation:
Betül hat erwähnt, dass ihre Teilnahme an einer Kundgebung zum Fall des 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannten Sierra-Leoners Oury Jalloh ausschlaggebend war zu sagen: Ich möchte an meiner Schule gegen Rassismus und alltägliche Diskriminierung aktiv werden. Das rassistische Attentat in Hanau vor zwei Jahren hat ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt.

 

Betül: 
Ja, definitiv. Ich meine ja, wir sind gewissermaßen alle schockiert und verletzt darüber, was passiert ist in den letzten Jahren, aber auch schon davor, dass das eben Sachen sind, die uns täglich bewegen, und dass wir uns immer damit auseinandersetzen müssen, egal ob wir wollen oder nicht. Wir als selbst rassismuserfahrene Leute haben nicht die Wahl zu sagen, wir möchten uns mal einen Tag nicht damit auseinandersetzen, weil wir jederzeit damit konfrontiert werden, auch im Raum Schule natürlich. Und demnach ist es auf jeden Fall ein Muss, da sich auch einzusetzen und auch klar zu positionieren, im Raum Schule. Und ich glaube, dass das auch für viele andere Schüler*innen ein Thema ist. Also, ich glaube nicht, dass das an denen vorbeigegangen ist. So habe ich das auch nicht wahrgenommen. Es wurde definitiv diskutiert und auch, ja, darüber gesprochen.

 

Phoenix:
Aber es wurde halt auch wirklich nur im privaten Raum darüber gesprochen, ich fand es unheimlich schockierend, wie wenig in Unterrichtssituationen dafür Platz gegeben wurde. Es wurde eigentlich kaum aufgearbeitet, und das Thema ist sehr schnell untergegangen. Das war dann einfach eine Sache, die an unserer Schule, mit einem sehr großen Anteil an BPoC-Menschen, Leute komplett erschüttert hat und dann aber nie wirklich aufgearbeitet wurde. Ich glaube, wir hatten eine Schweigeminute, das war veranlasst durch die SV. Und darüber hinaus gab es nichts, das hat uns alle ein bisschen alleine gelassen mit unseren Gefühlen und Gedanken dazu, was in Hanau passiert ist.

 

Moderation:
Die beiden Schüler*innen Phoenix und Betül haben hier geschildert, wie sie den Umgang oder auch Nicht-Umgang mit dem Attentat in Hanau an ihrer Schule erlebt haben. Şengül ist am Lessing-Gymnasium Seminarleiterin für Deutsch. In unserem Gespräch habe ich alle drei gefragt, wie sich eine Schule ihrer Ansicht nach idealerweise zum Thema Rassismus und Empowerment verhalten sollte.

 

Şengül:
Ich glaube, dass das in erster Linie nicht immer erst dann zur Sprache gebracht werden sollte, wenn es wieder einen rassistischen Anschlag gibt oder andere Dinge passieren, sondern dass es einfach wahrgenommen werden sollte, dass es Teil unserer Realität ist, den wir alle reproduzieren. Wir reproduzieren Rassismen, wir sind alle diskriminierend, jeden Tag. Also. ich auch immer noch, obwohl ich mich sehr lange schon damit auseinandersetze, und dass das erst mal so eine Frage ist, der Haltung, sich dessen bewusst zu sein, das nicht mehr abzuwehren, und dann zu sehen: Okay, das, was mich ausmacht, das macht natürlich auch meinen Unterricht aus.

Ich trage diese Dinge auch in meinen Unterricht, und Schüler*innen sind da sehr sensibel für, die spüren das sofort, wer da vorne steht, und können sehr gut differenzieren und erzählen ja auch ganz offen von diesen rassistischen Dingen, die im Unterricht auch passieren. Und dementsprechend, ja, sollte man, glaube ich, erst mal damit anfangen, dass man sich dessen bewusst wird und etwas verändern möchte, und dann sich lange intensiv mit diesen Fragen auseinandersetzen, wie man das schaffen kann.

 

Phoenix:
Das finde ich auf jeden Fall wichtig, aber ich glaube, dass es darüber hinaus auch wichtig ist, nicht nur persönlich sich Gedanken über Antirassismus zu machen und die persönliche Haltung zu ändern, weil im Endeffekt die Institution Schule und die Strukturen, in denen wir uns befinden, viel ausschlaggebender sind als die persönlichen Ansichten einiger Lehrkräfte, und man insofern hinterfragen muss, wie das System überhaupt strukturiert ist.

 

Moderation:
Habt ihr Ideen, wie das aussehen könnte, so ein Weg zu einer rassismuskritischen, diskriminierungskritischen Schule?

 

Phoenix:
Also, ich glaube, das ist sehr schwierig. Meine persönliche Meinung dazu ist auch, dass sich das durch so kleine Ansätze, ein bisschen Workshops oder so, sogar Reform, nicht machen lässt. Schule ist einfach von Grund auf nicht dafür ausgelegt, diskriminierungskritisch zu sein. Schule ist einfach diskriminierend an sich, und insofern glaube ich, dass mitunter der einzige wirklich langfristig funktionierende Weg sein kann, Schule generell abzuschaffen und sich etwas Neues auszudenken bzw. Schule von neu auf zu strukturieren. Wobei mir natürlich bewusst ist, dass das ein sehr weit ausholender Ansatz sein kann.

 

Şengül:
Wir sprechen ja über einen Ort, der ganz klar von Macht geprägt ist. Also, an Schulen geht es immer um Machtstrukturen, es geht immer um Hierarchien, und das aufzubrechen wäre natürlich der erste Weg. Das ist aber noch ein sehr langer Weg – und auch den intersektionalen Gedanken in die Schule zu bringen, dass das Ganze nicht irgendwo im luftleeren Raum stattfindet, sondern Diskriminierungsformen sich eben auch überschneiden und in Kombination stattfinden. Und dass Schüler*innen unterschiedlich betroffen sind, und diese Realität eben wahrzunehmen, also sich damit auseinanderzusetzen, dass das Realität ist für Menschen in diesem Land.

 

Phoenix:
Dazu würde ich auch noch anmerken, dass Schule kein isolierter Ort ist. Wir alle leben zudem noch in einer Gesellschaft und es braucht natürlich auch gesellschaftlichen Wandel. Es wird nicht viel bringen, wenn nur Schulen sich verändern, weil nach der Schule gibt es auch noch ein Leben und außerhalb der Schule genauso.

 

Betül:
Ich stimme den beiden zu, bin aber auch der Meinung, dass bis wir an dem Punkt sind, dass wir schon mit kleinen Schritten arbeiten können. Ich meine, es gibt ja genug Initiativen, die in der Richtung arbeiten, die eben vor allem weiße Lehrer*innen dazu anregen, quasi sich selbst zu reflektieren. Und ich finde den Prozess auch wichtig. Ich finde es auch wichtig, dass man die Gesellschaft mitnimmt, also, so ist es nicht. Und ich glaube, ohne diesen Prozess geht es auch gar nicht. Und genau deswegen spreche ich mich auf jeden Fall auch dafür aus, dass es diese Initiativen wie zum Beispiel Intersektionale Pädagogik, IPäd auch gibt, die weiße Lehrer*innen und auch weiße andere Arbeitsgruppen ausbilden.

 

Julia:
Das ist ja schon auch interessant – ihr habt gesagt, es ist schwierig, weil an der Schule natürlich immer Machtverhältnisse da sind, und es ist schwierig innerhalb des Unterrichts zu empowern. Andererseits sitze ich jetzt hier mit euch und ihr macht ja genau diese Arbeit mit dem Club, der zumindest lose an der Schule ist. Also gibt es doch Perspektiven darauf: Wie funktioniert im Unterricht vielleicht doch Empowerment? Oder wie kann man Schüler*innen ermächtigen, den Mund aufzumachen, zu sprechen, zu handeln in dem Bereich?

 

Şengül:
Ja, ich glaube, wenn wir keine Hoffnung hätten oder wenn ich keine Hoffnung hätte, wäre ich nicht mehr hier. Deswegen geht die Arbeit auf jeden Fall weiter. Und natürlich kann man Räume öffnen. Man kann auch Menschen an die Schule holen, wenn man als Lehrkraft jetzt nicht in der Position ist zu empowern, gibt es immer noch die Möglichkeit, Menschen an die Schule zu holen, die auf einer anderen Ebene mit Schüler*innen sprechen können und auch für andere Dinge stehen und sie noch mal inspirieren, motivieren können.

Ob man das jetzt im Unterricht macht oder außerschulisch auch mal rausgeht, an andere Orte geht – da ist ja einiges möglich. Natürlich, über Materialien ist es auch möglich. Es reicht aber eben nicht, nur Material zu benutzen, das irgendwie repräsentiert, sondern mit diesem Material muss man dann eben auch umgehen können, weil sonst reproduziert man genauso. Oder man wählt dann das falsche Material, weil man denkt, das könnte jetzt empowern. (…) Ich glaube auf jeden Fall, dass Projektarbeit auch wichtig ist. Also, mit Schüler*innen außerhalb des Unterrichts zu arbeiten, weil man eine ganz andere Ebene eröffnen kann und sie anders kennenlernen kann, und viel mehr teilhaben kann, an dem Prozess, irgendwie, und im Unterricht einfach klar zu machen – also, klar ist da ein Machtgefälle im Unterricht, aber man kann eben auch trotzdem anders damit umgehen. Also, man muss ja nicht immer seine Macht ausnutzen, wie einige das tun. Man kann ja seine Macht auch für positive Dinge nutzen, um den Raum anders zu gestalten und Meinungen zuzulassen und zuzulassen, dass Schüler*innen widersprechen, dass sie kritisch sind, dass sie ihre eigenen Gedanken einbringen und die eben nicht ersticken. So, in dem Sinne glaube ich, das ist schon möglich, also hoffe ich – ihr könnt dazu gern was sagen.

 

Phoenix:
Ja, ich habe ja auch bei dir Unterricht. Ich würde sagen, dass du das mit dem Empowerment ganz gut machst. (lacht)

 

Moderation:
Gibt es Momente im Unterricht, an die ihr euch gerade erinnert, wo ihr sagt – das kann ja auch mal aus einer negativen Reaktion entstehen – wo ihr sagt: das war total wichtig, das hat mich dann motiviert.

 

Betül:
Ja, ich glaube, es sind überwiegend Negativbeispiele. Also, dann tatsächlich so Sachen, die man im Alltag erlebt, und wo man sich denkt, boh, das geht überhaupt nicht. Und dann beschäftigt man sich natürlich automatisch damit und fragt sich: Warum sind gewisse Sachen so und warum ist das jetzt passiert? Und dann kommt man irgendwann auf die Strukturen und kommt eben wieder an den Punkt, wo wir über Macht sprechen. Ich glaube, das ist immer der Punkt, wo wir am Ende landen.

Und ich würde Şengül auf jeden Fall zustimmen: Repräsentationsarbeit im Unterricht ist total wichtig, aber eben auch nicht nur dann, wenn es plötzlich ums Thema Rassismus und Diskriminierung geht, sondern in allen Bereichen. Wir müssen das natürlich überall thematisieren. Wenn es dann auch, weiß ich nicht, um ganz simple Sachen geht, wie – in Mathe oder in Geografie geht es dann – keine Ahnung –

 

Phoenix:   
… um Thomas, der sich 20 Äpfel kauft, zu seiner Hochzeit mit …

 

Betül:   
Ja genau, es geht auf jeden Fall auch immer um ganz simple Beispiele, und ich glaube, es ist wichtig, da auch im Unterricht, egal welches Thema das ist, Repräsentationsarbeit zu leisten.

 

Ausschnitt von YouTube aus der ersten Y-LEC-Veranstaltung (Slam von Jasmin Poesy):
Keine Rücksicht, ich werde meinen Finger in die Wunde stecken. Denn du wärst nicht so mutig, wenn deine Uniform eine Zunge hätte. Du willst mir verbieten Fotos zu schießen, während deine Leute auf meine schießen. Es ist Dr. Martin Luther King, der einen Traum hat, aber es sind die Rassisten, die nicht aufwachen, Unterschiede machen wegen der Hautfarbe. Wundert euch nicht, wenn ichs laut sage: Ich werde Widerstand leisten wie Rosa Parks, meine schwarze Schwester supporten bis sie Cash wie Ophrah hat, ich werd mich wie Muhammad Ali euren Kriegen widersetzen, wie Malcolm X lieber sterben als mich wieder zu setzen. Wir haben unsere Rechte schwarz auf weiß, und trotzdem gehen die Rechten weiß auf schwarz, und ja, es gibt viele Probleme, aber nichts ist vergleichbar mit diesem Notleiden. Ich frage mich: Sind wir die dem Tod geweihten?

 

Şengül:
Also, ich sage mal, das Thema Antidiskriminierung oder Antirassismus war, glaube ich, Betül, bevor du damit angefangen hast, nicht so präsent an der Schule. Also, das ist schon ein Impuls, der aus der Schüler*innenschaft gekommen ist, und dementsprechend kann man den Raum auf jeden Fall mitgestalten. Und das ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig für andere Schüler*innen, das zu sehen, die vielleicht noch nicht so politisiert sind, die vielleicht nicht regelmäßig auf Demos gehen oder viele Bücher dazu lesen, das sich ein bisschen auch als Vorbild vielleicht zu nehmen, in dem Sinne – doch … jetzt lacht ihr, aber ich glaube, ihr seid schon Vorbilder auch für einige.

 

Julia:
Das ist auf jeden Fall eine gute Überleitung zu meiner nächsten Frage. Die wäre nämlich, ob ihr Tipps dazu habt, wenn sich Jugendliche aktiv gegen Rassismus, gegen Diskriminierung an ihrer Schule, Schulumfeld einsetzen wollen, selbst aktiv werden wollen. Was könnt ihr raten?

 

Phoenix:
„Check your Privilege“ – sich damit auseinandersetzen, was man selber reproduziert, und dann aber auch zu schauen, in welchen Systemen man ist und was für Handlungsansätze es dort gibt. Und ich würde auch sagen, das geht außerschulisch immer besser. Man kann aber auch in der Schule zum Beispiel so etwas wie den Your Local Empowerment Club versuchen als „Vorbild“ zu nehmen. Oder, was wir auch gemacht haben, ist eine AG zu gründen, auch Empowerment Club genannt, die tatsächlich einen Safer Space darstellen soll, wo sich Schüler*innen untereinander austauschen können, also, rassismuserfahrene Schüler*innen über ihre Erfahrungen, was natürlich dann auch noch mal eine Form von Empowerment sein kann. Aber so ein Grassroots Movement wird nicht aus einer Schul-AG entstehen können, und das sollte man, glaube ich, immer im Hinterkopf behalten, dass das, was man im Raum Schule machen kann, immer limitiert ist.

 

Moderation:
Zum Abschluss dieser RISE-Podcast-Folge habe ich ­­­mit Nina Kunz gesprochen. Gemeinsam mit Charlotte Oberstuke erstellt sie pädagogisches Begleitmaterial für RISE, auch für die Kurzfilme, die auf der RISE-Plattform zu finden sind. Diese Filme wurden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen produziert und von RISE unterstützt, und ich wollte zunächst von Nina wissen, was an den Filmen zum Themenbereich Rassismus auffällig ist.

 

Nina:
Für die Materialentwicklung ist es besonders spannend, dass in den meisten Filmen die Perspektive von Betroffenen eingenommen wird, und daher geht es in den pädagogischen Materialien auch oft um die Förderung von Empathie und darum, junge Menschen zu ermutigen, sich gegen Rassismus zur Wehr zu setzen, und eben auch insbesondere diejenigen, die selbst nicht von Rassismus betroffen sind.

 

Moderation:
Was sind denn die besonderen Herausforderungen, die es dann gab oder auch noch gibt, zu diesen Filmen pädagogisches Material zu erstellen?

 

Nina:   
Eine Herausforderung besteht darin, dass in manchen Filmen stereotype Bilder reproduziert werden, die dann auch in den Materialien aufgebrochen und behandelt werden müssen.

 

Julia:
Wie werden in den Materialien diese Stereotype dann aufgebrochen? Gibt es da bestimmte Methoden oder Ideen?

 

Nina:
Ja, es gibt zum Beispiel eine Übung, in der eine Filmszene analysiert wird und da ein alternatives Ende mit den Jugendlichen erarbeitet wird. Es geht da ganz konkret darum, sich diese stereotypen Rollen auch in dem Film anzusehen und quasi eine alternative Erzählung dazu zu entwickeln.

 

Julia:
Welche Begleitmaterialien gibt es denn überhaupt insgesamt? Zum Thema Rassismus bei RISE? Worauf liegt da der Fokus? Und kannst du vielleicht ein Beispiel geben?

 

Nina:
Der Fokus liegt für uns auf Empowerment, Sensibilisierung, und auch auf Empathieförderung und Perspektivwechsel. Ein Beispiel dafür ist ein interaktives Hörbuch, was auf der Plattform zu finden ist, das auf der Geschichte von Erik aus dem Film „Schau mir in die Augen“ basiert. Und in dem Hörbuch schlüpfen Jugendliche in die Rolle eines geflüchteten Menschen in Deutschland und entscheiden darin selbst, wie das Hörbuch weitergeht. Mit den pädagogischen Materialien möchten wir außerdem auch Selbstwirksamkeit fördern, indem Möglichkeiten aufgezeigt werden, selbst für gesellschaftliche Vielfalt und gegen Rassismus aktiv zu werden. Das geschieht meist in Form von aktiver Medienarbeit, zum Beispiel auch durch kleine Videodrehs, das Erstellen von Memes oder Kampagnen-Posts.

 

Moderation:
Das von Nina erwähnte Hörbuch, die Kurzfilme, pädagogisches Begleitmaterial und vieles mehr gibt es auf der Internetseite rise-jugendkultur.de. Alle Links zu dieser Folge schreiben wir auch in unseren Podcast-Text.

In der nächsten Folge des RISE-Podcasts geht es dann um Gesellschaftskritik und soziale Medien – wie äußert sich Gesellschaftskritik auf sozialen Medien und welche Kritik gibt es an eben diesen Plattformen? Dazu werde ich mit Valentin Dander sprechen, Medienpädagoge an der Uni Potsdam, mit dem Sozialpädagogen Fiete Alexander, der als Fiete-boi vor allem auf tiktok unterwegs ist, sowie mit Pajam Masoumi von erklaermirmal auf Instagram. Mein Name ist Julia Tieke, und ich verabschiede mich bis zum nächsten Mal.

 

 

veröffentlicht am 29.03.2022