Love is in the App

Gibt man bei Google die Worte „Liebe ist“ ein, ergänzt die Suchmaschine automatisch mit dem Vorschlag: „Liebe ist blind“. Dass Liebe ein ausschließlich übersinnliches und intimes Phänomen ist, bleibt einer der weit verbreiteten Liebesmythen. Demnach sei Liebe blind für kulturelle, soziale und wirtschaftliche Bedingungen der Außenwelt.

Ist sie es aber wirklich?

Nicht ganz, sagen Liebes- und Paarsoziolog*innen. Aus den vielen wissenschaftlichen Erklärungen des Partnerwahlverhaltens wissen wir, dass bei der Entscheidung für eine*n (Liebes-)Partner*in nicht nur das Bauchgefühl entscheidend ist, sondern vor allem Werte, Religion, Sprache und soziales Umfeld. Wer also von Liebe spricht, kann über die Gesellschaft nicht schweigen. Unsere angeblich intimste Entscheidung darüber, wann, wen und wie (viele) wir lieben, wird stark von Liebes- und Partnerschaftsidealen beeinflusst, die uns gesellschaftlich vermittelt werden. Private Entscheidung? Dafür wollen ganz schön viele darüber mitreden: Eltern, Freund*innen, die Verkupplungstante und mittlerweile auch Algorithmen. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmen zunehmend viele Bereiche unseres sozialen Lebens und nicht zuletzt unsere Erfahrungen mit Intimität, Liebe und Sexualität.

Die Verbindung zum Netz erleichtert heutzutage nicht nur den Zugriff auf verschiedene Inhalte, einschließlich romantischer und sexueller Art, sondern auch die Möglichkeiten für virtuelles Dating. Apps wie Tinder, Bumble oder Lovoo gibt es im App Store® zur Genüge. Einer Studie zufolge nutzte 2019 eine*r von drei Deutschen mindestens eine der vielen Dating-Apps. Aber was machen Apps eigentlich mit unserem Dating-Leben?

Eine ganze Menge. Soziolog*innen glauben, dass Online-Dating unsere Vorstellung der Partnersuche verändert hat. Eine Vorstellung, die zunehmend von rationalen Faktoren bestimmt wird und weniger vom romantischen Schicksalsideal. Die Dating-Industrie entwickelt, so der Liebessoziologe Kai Dröge, „die Tools, die Algorithmen, die Suchformulare und Matchingverfahren, um aus der gigantischen Auswahl des Internets genau jene Person herauszusuchen, die exakt zu deinen Wünschen und Bedürfnissen passt. Keine endlosen Diskussionen mehr über Kinderwunsch oder veganes Essen, solche Konfliktherde lassen sich durch datenbasiertes Matching schon vorab ausschließen.“

Denn wer kennt sie nicht? Diese Verwirrung, wenn die Person, die uns in der Cocktail- oder Shisha-Bar gegenübersitzt, uns anlächelt und wir nicht wissen, ob wir sie ansprechen sollen. Ist sie Single? Sind wir ein Match? Ist sie auf Instagram? Welche Musik hört sie gerne? Wählt sie links oder eher rechts? Und was macht sie eigentlich gegen den Klimawandel?

Abb. 2, Sind Algorithmen die neue Verkupplungstante?  Quelle

Das bleibt uns in Dating-Apps erspart. Sie verraten uns nicht nur alle Details über unser Match im Voraus, sondern bestimmen, ob er/sie uns überhaupt digital begegnet. So werden mit erweiterten Suchfunktionen und Filtereinstellungen „unerwünschte“ Profile rausgefiltert und tauchen als potenzielles Match nicht mehr auf. Und mal ehrlich: Wer hat schon Lust, an einem Samstagabend in irgendeinem Café einem selbsternannten „Islamkritiker“ als Date gegenüberzusitzen, der an Deutschlands größte „Umvolkung“ glaubt und Hildmann für seine „Theorien“ feiert. Bei Bumble zum Beispiel kann man neben Größe, Religion oder Sternzeichen die Suche mit der Funktion „eher links“, „politische Mitte“ und „eher rechts“ eingrenzen, bei Parship nach Einkommen und Bildungsstand. In OkCupid ist es sogar möglich, Klimawandelleugner*innen vom Matching herauszufiltern.

Für diejenigen, denen diese Apps nicht exklusiv genug sind, gibt es noch speziellere Plattformen, die sich ausschließlich an bestimmte Zielgruppen richten, beispielweise an religiöse Gruppen: JSwipe für jüdische Menschen, Chringles für Christ*innen und Muzmatch für Muslim*innen. Ganz im Tinder-Style bieten diese Apps zusätzliche Filterfunktionen, mit denen die Suche weiter eingegrenzt werden kann. Na, datest du schon oder sortierst du noch aus?

Muzmatch: Liebe im App Store finden, inschallah!

Lieblingsfarbe violett, Sunnitin, betet nur manchmal und plant in 1-2 Jahren zu heiraten. Das ist, was Leila¹ andere Muzmatch-Nutzer*innen über sich wissen lässt. Scrollt man weiter nach unten, sieht man mehrere Selfies von ihr. Ein Selfie beim Lesen, eins beim Essen („isst nicht immer halal“, vermerkt sie in der Bio) und ein anderes bei der Arbeit. Letzteres lässt vermuten, dass sie Ärztin ist. Oder vielleicht Krankenpflegerin? Das gibt ihr Profil nicht her. Sicher ist jedoch, dass Leila einen muslimischen Partner sucht, so schreibt sie in ihrem Profiltext, der Wert auf einen muslimischen Lifestyle legt.

Abb. 3, Eine Werbekampagne von Muzmatch Quelle

„Halal, Free, and Fun“, wirbt die weltweit größte muslimische Dating-App Muzmatch. Eine Werbung, die wirkt. Wie Leila nutzen weltweit etwa 2 Millionen Muslim*innen die Dating-App. Free? Das sind die meisten Dating-Apps. Fun? Das mag ja sein. Aber halal? Warum nicht? Viele junge Muslim*innen greifen heutzutage auf Dating-Apps zurück, um selbstbestimmt und halal eine*n Partner*in zu finden. Sie eignen sich die neuen Trends aus der Dating-Kultur an und passen sie an ihre eigene Realität und ihr muslimisches Selbstbild an. Wie bei anderen Lebensfragen folgen sie dabei liberaleren oder konservativeren Regeln, je nachdem, wie sie religiöse Gebote interpretieren und ihre Religiosität ausleben. Halal Dating steht also für individuell unterschiedliches Dating-Verhalten junger Menschen, das im Sinne ihrer jeweiligen Auslegung des Islams erlaubt ist.

Genau diese Breite muslimischer Religiositäten spiegelt sich in den Einstellungen von Muzmatch wider. Denn bei der Entwicklung der App wurden die unterschiedlichsten religiösen Identitäten junger Muslim*innen mitgedacht. So kann man bei der Erstellung des persönlichen Profils verschiedene Angaben zum eigenen religiösen Lifestyle machen wie z. B. Regelmäßigkeit des Betens, Grad der Religiosität oder das Essverhalten. Dazu bietet die App die Möglichkeit, einen sogenannten Wali (Vertrauensperson) einzuschalten, der jederzeit den Chatverlauf mitlesen kann.

Abb. 4, Viele Muslim*innen verwenden Dating-Apps für eine selbstbestimmte Partnersuche Quelle

Es gibt auf Muzmatch aber auch gewisse Regeln, die man respektieren sollte. Vor dem Matching wird man gebeten, „die Dinge halal zu halten“. Auch verweist die App auf Eheschließung als Endziel des Datings. Zudem ist die Suche nach gleichgeschlechtlichen Partner*innen in der App nicht vorgesehen, was andere Apps hingegen ermöglichen.

Trotzdem widersetzt sich die App sowohl dem traditionellen Matchmaking, das weitgehend von Eltern, Großfamilie oder der eigenen Community bestimmt wird, als auch den gängigen Stereotypen, mit denen junge Muslim*innen in Deutschland immer wieder konfrontiert werden, wie Klischees der arrangierten Ehen, Zwangs- und Verwandtenheirat.

Nicht alles ist Liebe, was matcht

Für Muslim*innen besteht der größte Vorteil von Apps wie Muzmatch darin, dass sie viele junge Menschen zusammenbringen, die Religion als wichtigen Aspekt ihres Lebens betrachten und ihre Religiosität auf unterschiedliche Weise ausleben. Genau hier liegt aber auch ein kleiner Nachteil: Viele Muzmatch-Nutzer*innen berichten von Erfahrungen mit Fetischisierung, Voyeurismus und Hypersexualisierung, die sie in der App gemacht haben. So weisen mehrere Erfahrungsberichte darauf hin, dass die App von sogenannten Fetischist*innen genutzt wird. Also von Menschen, die Muslim*innen sexuell fetischisieren.

Übrigens sind nicht nur Fetischist*innen „heiß“ auf muslimische Dating-Profile. Das Zusammenführen so vieler junger Muslim*innen auf einer Plattform weckt ebenfalls das Interesse islamistischer Gruppen, die solche Dating-Apps als Rekrutierungsinstrument nutzen. So gilt für Muzmatch, wie für jede andere App: Vorsicht, nicht alles ist Liebe, was matcht.

Ob Leila jemals die große Liebe über Muzmatch finden wird? Und ob Dating-Apps wirklich Tools für ein selbstbestimmtes Liebesleben sind oder nur eine andere Form arrangierter Partnerschaften, in denen Algorithmen die Verkupplungstante ersetzen?

Beide Fragen kann nur eine oberste Instanz beantworten: diejenige, die sich für die Nutzung dieser App entscheidet. Leila selbst.

Und für beide Fragen gilt: Antwort offen.

veröffentlicht am 07.07.2020

¹ Name wurde geändert