Weniger ist oft mehr
Erfahrungen aus der eigenen Bildungspraxis mit jugendlichen Lerngruppen zeigen: In einem zeitlich begrenzten Rahmen kann nicht jede kursierende Verschwörungstheorie angemessen behandelt werden. Wer Jugendliche in einer offenen Abfrage zur Nennung ihnen bekannter Verschwörungstheorien auffordert, steht unter Umständen schnell vor einem Problem. Häufig sprudeln dann verschiedene Gerüchte, Namen und Argumentationsstränge derart reichlich und vielgestaltig hervor, dass eine Dekonstruktion aller falschen Fakten und Halbwahrheiten kaum noch möglich ist.
Schlimmstenfalls ist am Ende nicht mehr gewonnen als eine willkürliche Sammlung potenziell problematischer Aussagen. Wenn sich Pädagog*innen hier mehr abverlangen als sie leisten können, droht zudem die Gefahr, dass auch menschenverachtende oder antidemokratische Inhalte unwidersprochen im Raum stehen bleiben. Es ist also ratsam, die eigenen pädagogischen Ziele stets im Blick zu behalten und im Zweifel lieber am plakativen Beispiel zu arbeiten und sich auf das Wesentliche zu beschränken.
Der Spaßfaktor
Was die Beschäftigung mit Verschwörungstheorien zuweilen so attraktiv macht, ist der Faktor Spaß. Schließlich ist es unterhaltsam, über Rätselhaftes und Geheimnisvolles zu spekulieren. Es ist spannend, mit detektivischem Spürsinn nach Verborgenem zu suchen. Es ist befriedigend, die großen Zusammenhänge scheinbar zu erkennen und zu entlarven. Dieses Interesse an Verschwörungsdenken lässt sich auch in pädagogischer Absicht aufgreifen. Von großer Anziehungskraft sind dabei jene Verschwörungstheorien, die besonders absurd anmuten (so z. B. Theorien über eine geheime Weltherrschaft durch außerirdische Echsenmenschen). Sie mit rationalen Argumenten zu entkräften, fällt in der Regel nicht allzu schwer. Solche Theorien eignen sich oft besonders, um grundlegende Merkmale, Strukturen und Mechanismen des Verschwörungsdenkens aufzuzeigen. Weniger harmlos sind dagegen Verschwörungserzählungen, die Ausdruck von rassistischer, antisemitischer oder ideologisch fanatisierter Gesinnung sind: Diese dienen nicht nur der scheinbaren Bestätigung eigener Vorurteile und Sichtweisen, sondern können auch politisch instrumentalisiert werden oder Gewalt gegenüber anderen legitimieren. Während es also didaktisch durchaus sinnvoll erscheinen kann, an bestimmten Stellen auf eher Skurriles und Unverfängliches zurückzugreifen, sollte die kritische Auseinandersetzung mit politisch gefährlichen und menschenverachtenden Ideologien an späterer Stelle nicht unterbleiben.
Wahn und Wirklichkeit
Verschwörungsdenken hat stets auch eine politische Dimension. Verschwörungserzählungen stützen sich immer auch auf reale Gegebenheiten und gesellschaftliche Kontexte, bieten scheinwissenschaftliche und pseudokritische Erklärungen für tatsächliche Probleme an. Das öffnet politischer und ideologischer Instrumentalisierung Tür und Tor. Manipulative Wirkung entfaltet mitunter die Tatsache, dass sich Verschwörungstheoretiker*innen gerne als Tabubrecher*innen gegen den Mainstream inszenieren, als Verfechter*innen von Wahrheit und Meinungsfreiheit, als mutige „Truther“ oder „Whistleblower“.
Nicht umsonst dienen Verschwörungstheorien auch als Radikalisierungsbeschleuniger. Pädagog*innen sollten hier genau hinhören, nachfragen, sensibel sein, um Jugendlichen alternative Wege der Weltdeutung aufzuzeigen. Vor dem Hintergrund der politischen Implikationen ist ein pathologisierender Sprachgebrauch zu vermeiden, denn Verschwörungsgläubige einfach als „Verrückte“ oder „Spinner“ abzutun, wird dem Gegenstand nicht gerecht. Es sind keineswegs nur verwirrte Sonderlinge, die Verschwörungstheorien glauben und verbreiten, sondern auch politische Akteure, die darin entweder ihre ideologische Weltsicht untermauert sehen oder ein willkommenes Werkzeug für politische Propaganda finden.
Analyse und Kritik
Die meisten Verschwörungstheorien eint die Vorstellung von „dunklen Mächten“ und geheimen „Drahtzieher*innen“ hinter den Kulissen, die einen größeren Plan verfolgten. Mittels weitreichender Manipulationen würden jene ihre Interessen und Herrschaft durchsetzen, indem sie anderen gezielt Schaden zufügten. In dieser Grundstruktur ähnelt das Verschwörungsdenken dem Antisemitismus, weshalb zwischen beiden eine große Anknüpfungsfähigkeit besteht. Die dualistische Einteilung der Welt in „Gut“ und „Böse“ sowie die Benennung konkreter Schuldiger liefert scheinbar einfache bzw. eindeutige Antworten, auch wenn die entsprechenden Theorien selbst oft kompliziert und verschachtelt sind.
Im pädagogischen Prozess sollten diese typischen Merkmale und Muster des Verschwörungsdenkens Gegenstand der Analyse sein, damit die ihm zugrunde liegenden Strukturen und Argumentationsstrategien erkannt und durchschaut werden. Das ideologische Konstrukt ist leichter zu identifizieren, wenn man sich des Spekulierens über geheime und bösartige Mächte gewahr wird; wenn man um die Versuchung weiß, nichtverstandene Phänomene endlich scheinbar sinnvoll erklären zu können; wenn man klare Schuldzuweisungen dahingehend hinterfragt, ob sie nicht vielmehr dazu dienen, bestehende Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen (z.B. „die Juden“) zu bestätigen und zu legitimieren.
Für ein tieferes Verständnis sind die psychologischen Mechanismen und Funktionen mit in den Blick zu nehmen. Schließlich stellt sich doch die Frage, welchen Mehrwert Menschen eigentlich davon haben, sich verschwörungstheoretischer Deutungen zu bedienen. Dabei gilt zu verstehen: Die besondere Attraktivität des Verschwörungsdenkens basiert darauf, dass es dem Individuum Halt und Sinnstiftung verspricht, wo eine immer komplexer werdende Welt und auch sonst oft schwer durchschaubare gesellschaftliche Zusammenhänge Verunsicherung, Ohnmachtsgefühle und Kontrollverlust auslösen. Es entlastet, wenn man für Dinge, die man als bedrohend oder ungerecht empfindet, nicht nur eine scheinbar logische Erklärung finden, sondern auch konkrete Verantwortliche benennen kann. Zu denjenigen zu gehören, die den Durchblick haben, erhöht das Gefühl eigener Bedeutsamkeit und steigert den Selbstwert. Das Lernen über Verschwörungsideologien sollte also nicht nur als rein kognitive Vermittlung von Sachwissen verstanden werden, sondern die emotionale Dimension des Themas mitberücksichtigen.
Kompetenzziele
Politische Bildungs- und Präventionsarbeit muss, wenn sie nachhaltig sein soll, langfristig und umfassend angelegt sein. Der kritische und souveräne Umgang mit Verschwörungsideologien wird nicht nebenbei erlernt, sondern verlangt verschiedene Kompetenzen. Medienkompetenz und sorgsame Quellenkritik sind nicht erst im Zeitalter des Internets von Bedeutung, doch verdienen sie angesichts der Kommunikationsdynamik sozialer Medien und Phänomene wie „Fake News“, Hate-Speech und Chat-Room-Radikalisierungen heutzutage besondere Beachtung. Darüber hinaus bedarf es politischen Urteilsvermögens sowie persönlicher Kritikfähigkeit und Empathie, um irrationale, demokratiegefährdende und menschenverachtende Ideologien erkennen und richtig einordnen zu können. Anstatt den Verlockungen durch simplifizierende Erklärungen und stereotype Sichtweisen zu erliegen, gilt es Ambiguitätstoleranz zu entwickeln und zu lernen, Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeiten wahrzunehmen und auszuhalten.
Wer an Verschwörungen glaubt, lässt sich schwer durch Gegenargumente belehren. Je geschlossener die Theorie und je überzeugter sie vertreten wird, desto mehr wird selbst noch der Gegenbeweis als Teil der vermeintlichen Verschwörung gedeutet. Die Konfrontation mit derart geschlossenen Weltbildern und der Weigerung, die eigene Sichtweise zu hinterfragen, kann bei anderen dazu führen, dass sie sich hilflos fühlen. Wo sachliche Dekonstruktion und Gegenargumente an ihre Grenzen stoßen, sollte man Jugendlichen Strategien aufzeigen, wie sie sich in solchen Situationen dennoch behaupten können. Dazu kann es etwa gehören, die „richtigen“ Fragen zu stellen, Beweise zu fordern, auf logische Fehler hinzuweisen, oder – wenn diese Strategien nicht greifen – einfach nur klar Stellung zu beziehen.
Dabei können die Wege der pädagogischen Intervention durchaus vielfältig sein. Zum Beispiel bietet die Schule andere Handlungsrahmen, Reaktionsmöglichkeiten und Lernbedingungen als die offene Jugendarbeit oder die Interaktion über soziale Medien. Gleich bleibt: Bildungsprozesse sind immer auch Beziehungsarbeit, auch wenn diese je nach Lernort oder Kommunikationsraum unterschiedlich sein kann.
veröffentlicht am 09.06.2020