Schon immer hat es Verschwörungstheorien gegeben und schon immer bestand eine gewisse Nähe zwischen ihnen und politischem und religiösem Extremismus. In der Gedankenwelt beider spielen etwa klare Feindbilder und Täter-Opfer-Unterscheidungen eine große Rolle. Extremist*innen wie Verschwörungsgläubige verstehen sich zudem als eine Art „Avantgarde“, die sich über die Mehrheit hinaushebt: Extremist*innen als Vorreiter des politischen, bisweilen gar gewalttätigen Handelns, Verschwörungstheoretiker*innen als solche der Erkenntnis und des Wissens. Während Extremist*innen behaupten, in einer Art von Notwehr oder Widerstand radikal handeln zu müssen, sehen sich Verschwörungstheoretiker*innen als mit besonderem Geheimwissen ausgestattet: Sie glauben, dunkle Zusammenhänge zu erkennen und finstere Machenschaften zu durchschauen, während ihnen die meisten anderen Mitmenschen noch als naiv oder verblendet gelten.

Von der „Verschwörung“ zur
„Verschwörungstheorie“

„Verschwörungen“ oder „Konspirationen“ (vom Lateinischen con = „mit“ und spirare = „atmen“) bezeichnen die Zusammenarbeit einer Gruppe von Personen, die gemeinsam und heimlich etwas Verwerfliches, weil für jemand anderen Schädliches planen oder diesen Plan gar in die Tat umsetzen. Die Bezeichnung „Verschwörer*in“ ist in mehrerer Hinsicht negativ besetzt: zum einen durch die böswillige Wirkung und Absicht, zum anderen durch die Heimlichkeit, mit der sich die „Verschwörer*innen“ der Kontrolle und der Verantwortung entziehen wollen. Verschwörungen sind in diesem Sinne grundsätzlich undemokratisch. Außerdem wird mit „Verschwörung“ ein Vertrauensbruch oder Machtmissbrauch sowie Heuchelei assoziiert. Wenn etwa Regierenden unterstellt wird, sie paktierten mit fremden Mächten auf Kosten der Bevölkerung, dann wird dies als besonders schändlich empfunden, weil sie ihrer Verantwortung gegenüber den Regierten nicht gerecht werden. Und wenn „den USA“ oder „Deutschland“ in islamistischen Kreisen zugeschrieben wird, sie würden systematisch „Krieg gegen die Muslime“ führen oder zumindest eine gezielt muslimfeindliche Politik betreiben, werden gegenläufige Unterstützungsmaßnahmen oder Solidaritätsbekundungen automatisch zu Belegen für Scheinheiligkeit oder zum Ausdruck von Täuschungsmanövern.

Abb. 2, Verschwörungtheoretiker*innen werden oftmals öffentlich für „verrückt“ erklärt Quelle

Auch der Begriff der Verschwörungstheorie ist negativ besetzt. Er kennzeichnet zum einen eine bestimmte Vorstellung, die Idee einer Verschwörung, als unsinnig oder absurd. Zum anderen erklärt er all jene Personen, die diese „Theorie“ vertreten, für „naiv“ oder „verrückt“, weil sie diese Idee öffentlich für wahr halten und zu verbreiten suchen.

Umstritten ist der Begriff auch aus einem weiteren Grund: Der Begriff „Theorie“ steht eigentlich für rationales Denken, „Verschwörungstheorien“ gelten aber als irrational, daher werden mittlerweile auch Begriffe wie „Verschwörungsideologie“, „-glaube“ oder „-mythos“ vorgeschlagen und verwendet. Dies gerade, weil Verschwörungstheoretiker*innen ihr Gedankengebäude durch Verweise auf echte oder vorgebliche Fachliteratur oder Aussagen vermeintlicher Expert*innen (pseudo-)wissenschaftlich zu belegen suchen.

 

Theorie, Ideologie oder Mythos?

Auch wenn Verschwörungstheorien mit Theorien im engeren, wissenschaftlichen Sinn wenig gemein haben, kann es sinnvoll sein, das Wort „Theorie“ beizubehalten. Im Alltagsgebrauch bezeichnet „Theorie“ einfach eine Art Vorstellungsmodell, das erklärt, wie etwas funktioniert oder zusammenhängt und warum etwas zustande kommt, zum Beispiel politische Handlungen oder historische Ereignisse. Dementsprechend ist der Theorie-Begriff durchaus gerechtfertigt. Dies selbst wenn Verschwörungstheorien häufig von ihren Vertreter*innen wie Gewissheiten oder „Paradigmen“, also grundsätzliche, dogmatische Sicht- und Denkweisen, aufgefasst werden. Gerade was das betrifft, scheint es daher geboten, Bezeichnungen wie „Verschwörungsideologie“ oder „Verschwörungsdenken“ für bestimmte Aspekte oder Dimensionen von Verschwörungstheorien zu reservieren. Vor allem, um genauer über Verschwörungstheorien nachzudenken und zu sprechen.

Abb. 3, Verschwörungstheoretiker*innen glauben: Eine Gruppe von Mächtigen beherrscht die Politik Quelle

Als „Verschwörungsideologie“ zum Beispiel lässt sich die besondere Weltsicht hinter Verschwörungstheorien bezeichnen. Gemäß dieser beeinflussen nicht Zufall oder eine Vielzahl unterschiedlichster Faktoren, sondern eine spezifische geheim agierende Gruppe von Mächtigen die Geschichte oder Politik eines Landes oder der Welt ganz nach ihren Vorstellungen. Dem menschlichen Planen und Handeln wird damit eine übergroße Bedeutung beigemessen. Der Begriff „Verschwörungsmythos“ kann hingegen für große, konkretere und in bestimmten Kreisen als allgemein bekannt erachtete Erzählungen verwendet werden, z.B. das Narrativ des globalen „Kriegs gegen die Muslime“. Hierbei, aber auch wenn „Deutschland“ und „Israel“ als undifferenzierter Pauschalkollektiv verdächtigt wird, eine gezielte muslimfeindliche Agenda zu betreiben, zeigt sich, dass und wie Verschwörungstheorien reale Missstände wie Alltagsrassismus aufgreifen können. Zugleich bauen solche Mythen selbst häufig auf Vorurteilen, sogar rassistischen Stereotypen, Ausgrenzungs- und Ungleichheitsvorstellungen auf. Das ist z.B. bei der vermeintlichen „Jüdischen Weltverschwörung“ der Fall, als deren Opfer sich Verschwörungstheoretiker*innen über Glaubensgrenzen hinweg präsentieren.

Verschwörungstheorien, ob aus Überzeugung verbreitet oder als Propagandamittel, sind in diesem Zusammenhang inkonsequent oder in sich unlogisch: Einerseits soll hinter den imaginierten Verschwörungen eine kleine Gruppe von Intrigant*innen stecken. Zugleich sind es dann doch wieder alle „Juden“, „Amerikaner“ oder „Christen“, denen in Gänze niedere Absichten (und damit negative Charaktereigenschaften) unterstellt werden. Die Verschwörer*innen stehen dann stellvertretend als „typisch“ für die Fremd- und Feindgruppe oder verwirklichen deren Ziele. Dies gilt natürlich bei anderen Verschwörungsmythen auch für das Negativbild von „den Muslimen“ als Bedrohung. Spätestens beim kritischen Nachfragen offenbart sich dann, wie die Idee der konkreten Konspiration hauptsächlich dazu dient, Vorurteile auszugestalten.

Verschwörung oder Verschwörungstheorie?

Nun gibt es tatsächlich geheime machtpolitische Bestrebungen jedweder Art – wenn auch eben dafür nicht komplette „Völker“ und Bevölkerungsgruppen verantwortlich zu machen sind. Die Grenze zwischen realer Verschwörung und Verschwörungstheorie (oder eigentlich: Verschwörungstheorieverschwörung) ist daher auch gar nicht so einfach zu erkennen.

Eben deshalb sind Verschwörungstheorien solch ein gesellschaftliches Problem. Wir halten es sicherlich für absurd zu glauben, Angela Merkel verfolge die Absicht, Deutschland zu „islamisieren“. Oder dass die Anschläge des 11. September 2001 ein „Inside Job“ waren, also eine von der CIA und dem israelischen Geheimdienst Mossad geplante und durchgeführte Aktion, um u.a. den Staatssicherheitsapparat auszubauen und den Krieg in Afghanistan zu begründen.

Abb. 4, Hitstorische Verschwörungen, wie zum Beispiel der Watergate-Skandal, befördern oftmals verschwörungstheoretisches Denken Quelle

Allerdings gibt es Graubereiche, in denen wir uns womöglich weniger sicher sind und über die kein Konsens in der Öffentlichkeit herrscht. Wurde US-Präsident John F. Kennedy tatsächlich „nur“ von einem Einzeltäter erschossen? Was ist mit den wirklichen Konspirationen und „schmutzigen“ Machenschaften von Geheimdiensten, Militärs, in Politik (Watergate-Skandal, die erfundenen Massenvernichtungswaffen im Irak) oder Industrie (Diesel-Affäre)? Wieso soll dann nicht auch der so genannte „Islamische Staat“ eine Erfindung „des Westens“ oder „der Zionisten“ und seine Hinrichtungsvideos nur eine Inszenierung in einem Filmstudio sein?

Nun unterscheidet „echte“ Konspirationen von Verschwörungstheorien doch noch immer überwiegend, dass erstere von Institutionen wie dem freien Journalismus oder der Wissenschaft verifiziert und anerkannt sind. Bei aller legitimer Skepsis und gebotener Kritik arbeiten diese – sofern sie die Bezeichnung „Journalismus“ und „Wissenschaft“ verdienen – nach etablierten und nachvollziehbaren Kriterien der Erkenntnisproduktion. Dazu gehört ein Mindestmaß an Selbstkritik und intersubjektiver Überprüfbarkeit. Berichterstattende Medien oder akademische Forschung pauschal als manipuliert und manipulativ zu disqualifizieren, weil sie dem eigenen Dafürhalten widersprechen, ist oftmals selbst nur verschwörungsideologisch.

Aber auch, wenn die Lage weniger eindeutig scheint, gibt es Merkmale, anhand derer eine Verschwörungstheorie tendenziell eher als individuelles oder kollektives Hirngespinst eingestuft werden kann denn als faktisches Komplott. Selbst wenn sich daraus kein Beweis ergibt, lässt sich anhand dieser Merkmalsprüfung oder entlang bestimmter Prüffragen die Idee, aber auch die eigene Haltung dazu, auf die Probe stellen.

Drei Verhältnismäßigkeiten zur Überprüfung 

So können wir zunächst fragen, ob das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag der Konspiration plausibel ist. Gemeint ist damit die Überlegung, ob die Investition der vermeintlichen Verschwörer*innen überhaupt durch das unterstellte Ziel oder den Nutzen gerechtfertigt scheint. Als „Investition“ können vor allem Arbeit, Zeit und Geld, aber auch das Risiko, mit dem Plan „aufzufliegen“, verstanden werden.

Wer etwa glaubt, die Attentate des 11. September 2001 seien das Werk einer Machtclique innerhalb des US-Sicherheits- und Regierungsapparats, um einen Krieg zu rechtfertigen, muss nur in die Geschichte schauen: Viele staatliche Invasionen sind zwar aufgrund von Lügen und Täuschungen begründet worden, jedoch nie in der Größenordnung eines terroristischen Massenmords mit Passagierflugzeugen. Ein Beispiel ist die „Emser Depesche“, mit der Otto von Bismarck 1870 den Deutsch-Französischen Krieg vom Zaun brach. Ein anderes sind die vorgeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins.

Das zweite hinterfragbare Verhältnis ist das zwischen dem Ausmaß der Verschwörung und dem Erfolg seiner Geheimhaltung vor der breiten Öffentlichkeit. Je größer eine Konspiration angelegt ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass deren Existenz nicht ans Tageslicht kommt, und zwar in einer Art und Weise, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung als wahr erachtet. Dies liegt allein schon an der Anzahl der involvierten Personen. Erinnert sei nur an die vielen, durch Journalist*innen oder Whistleblower*innen enthüllten Missetaten.

 

Abb. 5, Verschwörungstheoretiker*innen sehen ihre Wirklichkeit im Widerspruch zum öffentlichen Diskurs Quelle

Schließlich ist da noch die Verhältnismäßigkeit von vermeintlicher Bekanntheit oder Gewissheit und der Akzeptanz der Idee in der breiten Öffentlichkeit. Verschwörungstheoretiker*innen, die häufig um einen Konspirationsmythos herum eine Gemeinschaft bilden, z.B. in Form einer Chatgruppe, stehen mit ihrer „Selbstverständlichkeit“ in eklatantem Widerspruch zu dem, was im Rest der Bevölkerung als Fakt akzeptiert wird. Diese große Masse wird von Verschwörungstheorieanhänger*innen als „verblendet“ oder noch nicht aufgewacht betrachtet und bezeichnet. Und das, obwohl ihre Argumente, Belege und Expertisen, die nur in ihren jeweiligen Communitys akzeptiert werden, sich an den gemeinhin gültigen Standards des Beglaubigens und Bestätigens zumindest formal orientieren. Die häufig vorgebrachte Begründung, die „Wahrheit“ würde etwas durch die manipulative Medienmacht der „Herrschenden“ unterdrückt, überzeugt nicht. Schließlich sei doch, so behaupten die Verschwörungsanhänger*innen, das Wissen oder zumindest die dafür nötigen Informationen in der Regel offen verfügbar. Was dann mit dem Geraune von Vertuschung und Geheimhaltung nicht vereinbar ist.

Immunisierung gegen Widerrede und Vernunft

Das führt zu einem anderen charakteristischen Aspekt von Verschwörungstheorien: der Selbstimmunisierung gegen Widerspruch und Gegenbelege. Es ist allerdings kein Merkmal der Verschwörungstheorie bzw. -erzählung, sondern des verschwörungsdenkerischen Umgangs mit dieser. Der Mangel an Belegen für die eigene These oder sogar Punkte, die der Theorie faktisch oder logisch widersprechen, werden so (um-)gedeutet, dass sie die Theorie doch wieder zu stützen scheinen. So sollen etwa fehlende Beweise gerade für den großen Erfolg der Geheimhaltungsbemühungen stehen. Gegenbeweise wiederum werden als bewusste Irreführung durch die Verschwörer*innen abgetan.

Es lässt sich hier von einer „Falsifizierungsintoleranz“ sprechen, einem Unvermögen oder Unwillen, Widerlegungen anzuerkennen oder auszuhalten. Sie scheint mit der Ambiguitätsintoleranz politisch- und religiös-radikaler Menschen verwandt, also dem Unvermögen oder Unwillen, Mehrdeutigkeiten zu ertragen. Daran zeigt sich, dass sowohl Extremismus wie Verschwörungsdenken nicht allein in äußeren Sachverhalten, z.B. einem politischen Unrecht, begründet liegen. Verschwörungstheorien sind in erheblichem Maße Ausfluss oder Ausdruck einer bestimmten Weltsicht. Zugleich verstärken und bestätigen sie diese Weltsicht. Das insbesondere, wenn sich Gleichgesinnte untereinander Verschwörungsgeschichten immer wieder neu erzählen. Fakten und Gegenargumente fallen dementsprechend selten auf fruchtbaren Boden.

Reale Verschwörungen dienen den Verschwörer*innen. Das Aufdecken von vermeintlichen Verschwörungen dagegen dient vor allem den Verschwörungstheoretiker*innen. Den Schaden hat in beiden Fällen meist die Mehrheit der Gesellschaft – und sei es „nur“, weil der öffentliche Diskurs mit seinen allgemeinen Regeln der Vernunft beschädigt wird.

veröffentlicht am 30.07.2020