Sprecher 1

Wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn nach Guantanamo verbracht wurde.

 

Rabiye Kurnaz

Was ist das? Ist hier Tag der offenen Tür?

 

Sprecher 2

Hier soll ein Taliban wohnen.

 

Rabiye Kurnaz

Was? Das wüsste ich aber. Ich bin Rabiye, Mama von Murat. Wenn Sie Fragen haben, antworte ich. Und gehen Sie runter von meinen Schneeglöckchen.

 

Sprecher 3

Entschuldigung.

 

Rabiye Kurnaz

Echt jetzt.

 

Moderation

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush von Andreas Dresen erzählt die Geschichte von Rabiye Kurnaz, gespielt von Meltem Kaptan, deren Sohn Murat Kurnaz 2001 ohne Prozess in das US-Gefangenenlager Guantanamo inhaftiert wird. Premiere feierte der Film auf der 72. Berlinale und gewann dort zwei Bären – den Silbernen Bären für das beste Drehbuch und die beste schauspielerische Leistung in der Hauptrolle für Meltem Kaptan.

 

Intro

RISE, der Podcast zu Identität, Pluralismus und Extremismus.

 

Moderation

Hallo und herzlich willkommen zur Sonderausgabe des RISE-Podcast. Wir sind die Filmemacherinnen Quynh, Anais und Lilith und treffen jetzt den Regisseur Andreas Dresen und die Drehbuchautorin Laila Stieler. Viel Spaß.

 

Interviewerinnen

Als Erstes einfach mal die Frage: Wie ist das zustande gekommen, dass ihr euch dafür interessiert habt?

 

Andreas Dresen

Das war tatsächlich so, dass, als das alles stattfand, ich das schon in den Medien verfolgt habe, also Murats Geschichte, weil das ging in Deutschland ordentlich durch den Blätterwald und auch durch die Medien. Und dann hat, nach seiner Freilassung, Murat ein Buch geschrieben, Fünf Jahre meines Lebens. Dieses Buch habe ich gelesen und das hat mich sehr aufgewühlt und sehr beschäftigt und sehr an mein Unrechtsbewusstsein appelliert, was da einem jungen Mann, der in Bremen aufgewachsen ist, passiert ist. Und dann habe ich beschlossen, nach Bremen zu fahren und mich mit ihm zu treffen. Das habe ich einige Male getan, und das war mindestens genauso erschütternd wie die Lektüre des Buches. Wenn man das dann noch mal aus erster Hand hört, ist das heftig.

Daraus entstand der Gedanke, Murats Geschichte tatsächlich im Kino zu erzählen. Das ist natürlich eine Geschichte, die dann in Guantanamo spielt. Für mich wurde das, je mehr wir uns damit beschäftigt haben – damals waren noch andere Drehbuchautoren involviert –, immer unmöglicher, weil das Guantanamo, das kann man sich nicht vorstellen. Das ist kafkaesk. Da gibt es keinen Ausweg, da gibt es keine Hoffnung. Da gibt es nur Düsternis und Folter.

Und ich dachte: „Mensch, wie kannst du denn daraus einen Film machen? Wie soll ich das drehen? Wie soll sich das überhaupt jemand angucken?“ Und dann habe ich irgendwann bei einem Abendessen in Bremen bei einem kleinen Italiener Murats Mama kennengelernt, Rabiye, und das war Liebe auf den ersten Blick. Sie war so eine tolle, vitale, kraftvolle, lebenslustige Frau. Und auf der Zugfahrt nach Hause entstand der Gedanke, ob es nicht schlauer wäre, den ganzen Film aus ihrer Perspektive und der Geschichte ihres Anwalts Bernhard Docke zu erzählen. Das war dann der Moment, wo glücklicherweise Laila ins Spiel kam und es dann vorangetrieben hat.

 

Laila Stieler

Sieben Jahre später.

 

Andreas Dresen

Schon sieben Jahre später.

 

Laila Stieler

Sieben, ja. Also, ich hatte natürlich von Murat Kurnaz gehört und ich hatte auch davon gehört, dass Andy einen Film plant, aber ich habe … Also, erstens waren da sowieso andere Autoren dran und zweitens wäre das jetzt auch für mich kein Film gewesen. Das ist so eine spezielle Art von Hoffnungslosigkeit, da hätte ich nicht gewusst, was ich schreiben soll. Solche Stoffe können andere schreiben, aber ich verliere mich dann da drin. Das wäre für mich nichts gewesen. Insofern war ich dann natürlich sehr erleichtert und begeistert, als ich hörte, dass Andy die Perspektive der Mutter erzählen möchte, und da habe ich gedacht, das wäre jetzt was für mich und habe den Moment abgewartet, wo kein anderer Autor mehr an der Geschichte dran war und mich ins Spiel gebracht.

 

Interviewerinnen

Also ist eure Zusammenarbeit dann so entstanden, später einen Film …

 

Laila Stieler

Später.

 

Andreas Dresen

Ja.

 

Interviewerinnen

Es gibt ja einige Filme, die ihr zusammen gemacht habt, schon vorher.

 

Laila Stieler

Ja.

 

Interviewerinnen

Warum den Film jetzt oder wie kommt das? War das wirklich eine Zeitfrage oder gibt es auch irgendwelche bestimmten Beweggründe, dass man sagt, der Film sollte jetzt rauskommen?

 

Andreas Dresen

Die Möglichkeit hat man leider nicht. Man ist meistens froh, wenn man ihn überhaupt irgendwann machen kann. Das ist die Wahrheit, weil da so viele Sachen zusammenspielen. Wir mussten irgendwie das Gefühl haben, dass das Drehbuch jetzt halbwegs so weit ist, dass wir es jetzt in einer Form haben, dass wir es verfilmen können. Und dann beginnt natürlich der übliche Prozess, dass man mit einer Produktionsfirma versucht, eine Finanzierung auf die Beine zu stellen und so weiter. Das ist dann mehr oder weniger meistens ein kleines bisschen Zufall, wann ein Film rauskommt, ob das politisch nun gerade passt oder nicht. Bei Gundermann hatten wir großes Glück. Als der Film rauskam, kam er gerade in eine gesellschaftspolitische Situation rein, wo es offensichtlich ein Bedürfnis gab nach einer neuen Form von Verständigung über und zwischen Ost und West.

Und bei Rabiye werden wir das jetzt sehen, ob der Film in die Zeit passt, ob das funktioniert, ob die politischen Fragen, die er stellt, Fragen sind, mit denen man sich heute beschäftigen möchte. Ich denke schon, aber es sind auch universale Fragen, die in dem Film gestellt werden. Nämlich: Kann ich als einzelnes Individuum überhaupt Demokratie verteidigen? Was kann ich tun? Wir neigen manchmal zu einem gewissen Fatalismus gegenüber politischen Kräften, dass wir sagen: „Es hat eh keinen Sinn. Was kann ich da jetzt machen?“ Also die Politiker. Und dann sitzen wir kopfschüttelnd abends vorm Fernseher. Deswegen finde ich diese Geschichte hier mit Rabiye eigentlich sehr optimistisch, weil sie zeigt, dass auch eine Frau aus scheinbar „einfachen Verhältnissen“ aus Bremen-Hemelingen den amerikanischen Präsidenten in die Knie zwingen kann. Das ist doch immerhin eine frohe Botschaft. Wir können was tun. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist von uns Menschen gemacht, also können wir sie bitte auch verändern. Sollten wir tun.

 

Interviewerinnen

Du hast gerade erzählt, dass du Murat und Rabiye dann auch getroffen hast, und ihr dankt auch der ganzen Familie im Abspann. Wie war die Zusammenarbeit? Weil es ja doch eine sehr persönliche Geschichte ist und ihr auch wahnsinnig tief in die Familie eintaucht.

 

Laila Stieler

Das war sozusagen die erste Amtshandlung, Rabiye und Bernhard kennenzulernen, um zu eruieren, wie ist es. Sind die überhaupt noch damit einverstanden, so eine Geschichte zu erzählen? Das war tatsächlich dann auch Liebe auf den ersten Blick. Rabiye ist so besonders und auf eine ganz spezielle Art großzügig. Die hat mich sofort in ihr Leben reingelassen und in das ihrer Familie und das ist nach und nach gewachsen. Es gab wirklich viele Gespräche zwischen ihr, ihrer Familie und mir, aber auch zwischen Bernhard und mir. Und daraus sind die Charaktere entstanden, aus diesen persönlichen Bekanntschaften, und es macht natürlich unheimlich viel Spaß. Das ist für mich als Autorin immer der größte Fund, wenn ich auf solche Menschen treffe, die mir dann zu Freunden werden, und das kann man so sagen.

 

Interviewerinnen

Das geht über in die nächste Frage und die ist auch wieder an dich, vor allem beim Drehbuchschreiben. Wie geht man denn genau vor, wenn man wirklich reale Personen hat, die auch noch am Leben sind, die auch noch weiterleben werden? Wie schreibt man dann über diese Leute ein fiktionales – und es ist ja doch noch fiktional – Drehbuch, was sie in der Öffentlichkeit porträtiert? Was ist da dein Vorgehen?

 

Laila Stieler

Ja, es ist speziell und ist mit jedem anders. Ich habe schon einige Projekte oder Filme geschrieben, mit realen Figuren. Das Letzte war Gundermann, wo Gundermann zwar gestorben ist, aber Conny noch lebt. Also, zunächst muss man natürlich gucken, ist man sich sympathisch. Das ist ganz einfach. Wollen wir was übereinander erfahren? Und da habe ich wirklich ganz viel Glück gehabt mit den Menschen, denen ich bisher begegnet bin. Das hat immer Spaß gemacht. Und dann ist es natürlich so: Da wir Dramen schreiben, geht es meistens darum, dass Menschen auch etwas passiert ist, was schwer ist. Also etwas widerfahren ist, was kompliziert ist. Da muss ich dann auch sehen, wie gehe ich damit um.

Zum Beispiel in Rabiyes Fall ist es natürlich so, nicht nur sie ist traumatisiert von dem, was da passiert ist, sondern die ganze Familie. Diese Gefangenschaft von Murat hat sich wie ein Mehltau über alles gelegt. In der Zeit zumindest, in der er in Guantanamo war, und so was wirkt nach. Das sind Verwundungen in der Seele, die muss ich auch irgendwie abfangen. Ich kann nicht irgendwas aufreißen bei Menschen und sagen: „Okay, vielen Dank. Jetzt gehe ich mal und schreibe.“ Da versuche ich an ihrer Seite zu bleiben, also Partner zu bleiben, und mir nicht nur Dinge anzuhören, sondern auch, wenn ich kann, die Wogen wieder zu glätten.

Und rein technisch ist es so beim Schreiben: Ich muss die Figuren und ihre Geschichten, oder erst mal den Menschen und dann die Figur, ganz dicht an mich heranlassen. Das muss irgendwie ganz eins werden, und beim Schreiben muss ich es aber auch ganz weit wieder wegschieben. Du kannst nicht aus der Distanz anfangen, sondern es muss erst mal eine richtige, komplette Nähe geben, und die birgt natürlich auch immer die Gefahr, dass du anfängst, jemanden auf einen Sockel zu stellen und die Fehler nicht mehr zu sehen. Aber Schwächen machen Charaktere natürlich erst lebendig und unsympathisch. Also, das sind Dinge, die ergeben sich dann. Das hat auch was mit der Länge zu tun, die ihr schon gefragt hattet. Da braucht man natürlich immer. Das braucht Fassung, dieser Prozess von Nähe und Abstand.

 

Interviewerinnen

Hat die Familie Kurnaz den Film jetzt schon gesehen?

 

Andreas Dresen

Ja, natürlich.

 

Interviewerinnen

Und wie war die Reaktion?

 

Andreas Dresen

Klar, sie waren auch bei der Berlinale und wir haben sie auch auf die Bühne geholt. Ich war jetzt gerade drei Tage in Istanbul beim Filmfestival, da war die ganze Familie auch mit. Das war superschön, in der Türkei den Film mit ihnen zu gucken und sie auf die Bühne holen zu können. Wir haben natürlich der gesamten Familie vor der Berlinale, das war so zehn Tage vorher oder so, in Bremen den Film gezeigt. Da waren wir alle furchtbar aufgeregt. Das ist klar, weil das wäre für uns das Allerschlimmste, die größtmögliche Katastrophe gewesen, wenn Rabiye oder jemand aus ihrer Familie den Film nicht mag und sich falsch dargestellt fühlt oder so. Das kann schon aufgrund von Kleinigkeiten passieren, die da drin sind. Da waren wir schon aufgeregt und ängstlich und dann hat sich das in so einer Herzlichkeit dort entladen, vonseiten der Familie auch, die einfach alle superglücklich sind mit dem Film und voll dahinter stehen.

Auch übrigens Murat, der bisher bei keiner einzigen Vorführung dabei war. Das hat aber andere Gründe, weil er natürlich aufgrund dessen, dass er schon so oft durch die Medien gezerrt wurde, eine gewisse Öffentlichkeitsscheu hat. Weil jedes Mal ploppt immer noch mal dieses Bremer Taliban-Ding auf, was eine riesengroße Schweinerei ist, aber so ist sein Medienbild leider geprägt. Deswegen ist er da ein bisschen vorsichtiger. Wir haben jetzt in zehn Tagen eine Vorführung in Bremen beim Filmfestival. Ich könnte mir vorstellen, dass er dort vielleicht kommt, was auch schön wäre. Aber ansonsten sind wir sehr, sehr glücklich und das Verhältnis mit der ganzen Familie ist einfach toll. Also, ich liebe die einfach auch. Das ist eine Supertruppe. Das war auch so lustig, mit denen in der Türkei zu sein und mit Rabiye zu frühstücken und zu quatschen – Bernhard Docke war auch mit – und was dann noch für Storys hochkommen. So herzlich wie wir Rabiye im Film zeigen, so ist sie eben auch.

 

Interviewerinnen

Du hast ja schon ein bisschen gesagt, dass das Thema sehr schwer ist und eigentlich deswegen gar nicht so dein Drehbuch-Genre, wenn ich es sagen kann. Woher kam denn diese Entscheidung, dass man sagt, man hat dieses superernste Thema, es könnte auch ein dramatischer Heulfilm sein durchgehend, dass ihr den Film dann so humorvoll macht und auch so eine Situationskomik reinbringt? Aus welchen Beweggründen kam diese Entscheidung?

 

Laila Stieler

Also, ein Film rein über Murat in Guantanamo wäre nichts für mich gewesen. Der Film über die Mutter schon. Da sah ich schon von vornherein Potenz oder Möglichkeit, den Charakter auch breiter anzulegen. Als ich Rabiye selber dann auch getroffen habe, hat sich das nicht nur bestätigt, sondern auch vervielfacht, weil sie so eine Verrückte ist.

 

Andreas Dresen

Sie ist total lustig.

 

Laila Stieler

Die hat mich vom Bahnhof abgeholt mit ihrem weißen Cabrio und ordentlicher Hupe und ganz lautem Elektropop und da habe ich gedacht: „Das kann sich doch kein Mensch ausdenken.“ Und so ist die Figur entstanden. Andy hat mich da nicht nur unterstützt, sondern auch befeuert und immer wieder so ein bisschen vorangetrieben und gesagt: „Ja, mach das ruhig komisch.“ Und das habe ich natürlich auch gerne gemacht. Im Übrigen glaube ich auch, dass Humor immer siegreich ist.

 

Andreas Dresen

Humor ist Anarchie gegen die Verhältnisse. Wir verlachen die Verhältnisse. Wir verlachen die Politik. Wir verlachen das Drama. Es ist einer der Hauptgründe, weshalb es in Filmen so viele äußerst lustige Beerdigungsszenen gibt. Die sind meistens komisch und das hat natürlich diesen Grund, dass man das Schicksal verlacht, glaube ich. Wir wissen, dass wir alle sterben müssen, und dann kompensiert man das auf eine andere Form. Und es ist auch durchaus hilfreich, Guantanamo zu verlachen, weil man damit sozusagen gegen die Verhältnisse angeht und in gewisser Weise die Steine zum Tanzen bringt. Das ist das, was Rabiye tut. Wenn sie von Anfang an das ganze Gepäck des Dramas immer nur einzig und allein auf ihren Schultern geschleppt hätte, hätte sie diese fünf Jahre niemals überlebt. Lachen kann auch Überlebensstrategie sein.

 

Interviewerinnen

Diese fünf Jahre sind auch für einen Film ein ganz schön langer Zeitraum.

 

Andreas Dresen

Ja.

 

Interviewerinnen

Die nächste Frage bezieht sich auf die Erzählstruktur, die ja sehr elliptisch ist. Und auch, wie du meintest, mit dem Cabrio waren so Momente, wo ich mich gefragt habe: Das sind wunderschöne Szenen, die so viel über eine Person erzählen. Aber wieso sind diese jetzt ausgewählt und inwiefern war es überhaupt möglich zu entscheiden, welche Sequenzen man nutzt, um diesen langen Zeitraum zu erzählen? Es sind ja auch große Zeitsprünge drin.

 

Laila Stieler

Selbst wenn wir fünf Jahre hintereinander hätten erzählen können – ich weiß nicht, welche Länge der Film dann gehabt hätte –, ist ja nicht alles immer spannend.

 

Andreas Dresen

Fünf Jahre.

 

Laila Stieler

Du musst natürlich gucken, dass, wenn du weißt, du hast hier einen Anfang und da ein Ende. Der Anfang ist, Murat verschwindet, und das Ende ist, Murat kommt zurück. Aber was erzählst du jetzt dazwischen? Du musst zwar chronologisch erzählen, aber du kannst nicht in der Struktur „und dann und dann und dann und dann“ erzählen, sondern es muss sich ein Spannungsbogen ergeben und der muss auch tragen über diese ganze Zeit. Es ist klar, es wird hier Zeitsprünge geben. Welche Momente wähle ich aus? Also habe ich sozusagen so einen Timetable gemacht und geguckt, was passiert eigentlich wann und welche Momente eignen sich oder welche Sequenzen eignen sich und wie bringe ich die zusammen.

Und habe mich dann für eine Struktur entschieden, die kreisförmig erzählt. Also beginnend mit: Rabiye unternimmt etwas voller Hoffnung und das endet wiederum damit, dass sie gegen die Wand läuft. Oder sie unternimmt etwas mit Hoffnung, hat erst mal Erfolg und dann wird ihre Hoffnung wieder enttäuscht, weil wieder etwas passiert. Du hast sozusagen immer diese Bögen, die sie als Mensch auch durchlebt hat. Von Hoffnung und Enttäuschung, bis dann endgültig Murat zurückkommt. Das kannst du dann in eine normale Dramaturgie bringen und sagen: „Okay, wenn du diese Kreise immer wieder in den Sequenzen erzählst, wie schaffst du es, dass das immer schwerer wiegt?“ Dass es nicht nur eine Reihung ergibt, sondern dass sich diese Momente steigern. Und die ergeben sich tatsächlich einmal aus der Geschichte selber natürlich, aber die musst du dann auch setzen.

Und einer der Tiefpunkte ist natürlich, wenn sie in die Türkei reist, hoffnungsvoll, um ihren Sohn abzuholen und da kommt jemand ganz anderes an auf dem Flughafen. Da setze ich mir immer so Punkte, die dann so Richtmaße sind, um zu sagen: „Okay, das ist wirklich, wirklich der Moment der tiefsten Enttäuschung.“ Und wie gelange ich dahin? Das ist eine relativ technische Geschichte, das dann zusammenzubauen.

 

Andreas Dresen

Und dann kommt noch ein strukturelles Problem dazu, dass man natürlich eine Möglichkeit finden muss, dem Zuschauer erkenntlich zu machen, dass das über einen langen Zeitraum geht, diese Erzählung. Denn ein Schnitt im Film suggeriert meistens, das ist jetzt so kurz danach. Es sei denn, es war grade Sommer und es schneit danach. Aber das ist auch einer der Gründe, weshalb wir verschiedene Jahreszeiten im Film tatsächlich erzählen, und zwar immer in Sprüngen und Durcheinander, auch um diese Zeitabläufe kenntlich zu machen. Aber es gibt ja ein viel drastischeres Element, eben dieses, dass wir den Film quasi zerreißen in Segmente und immer diese Tageszahlen dazwischen schreiben, um kenntlich zu machen, wie viel Zeit jetzt hier eigentlich schon vergangen ist. Also, 1.300 Tage ist eine gewaltige Zahl. Das muss man sich erst mal vorstellen. So lange ist der jetzt schon weg.

Oder irgendwann sagt Bernhard in dieser Pressekonferenz: „Hier ist eine Mutter, die hat ihren Sohn seit dreieinhalb Jahren nicht gesehen.“ So viel Zeit ist vergangen, seit Beginn des Filmes. Das war für uns auch ganz wichtig, um dem Zuschauer immer wieder klarzumachen, dass das hier nicht ein Ablauf ist, der in ein paar Tagen passiert ist, sondern wirklich über Jahre. Jahre. Das vergrößert natürlich noch mal zum einen die Aufgabe für Rabiye, trotzdem stark zu bleiben, und auf der anderen Seite auch die Größe des politischen Dramas. Was das bedeutet für einen Menschen in der Blüte seiner Jugend, Anfang 20, fünf Jahre weggesperrt zu werden, ohne Gerichtsurteil und ohne, dass er sich irgendwas hat zuschulden kommen lassen.

 

Interviewerinnen

Und auch diesbezüglich, wie ist die Auswahl der Momente … Wo du gerade meintest, man sucht Momente aus, die den Spannungsbogen vorantreiben. Gibt es denn Momente oder ein konkretes Beispiel, was einfach nicht so war wie in der Realität? Es ist ja immer noch ein Film.

 

Laila Stieler

Ehrlich gesagt, am Ende kann ich das gar nicht mehr so richtig voneinander trennen, was war jetzt wirklich so und was nicht. Ich bin ja nicht dabei gewesen, also muss ich mir sowieso erst mal alles ausdenken und meinen eigenen Raum entwerfen, in dem das alles stattfindet. Ich sag jetzt mal so ein Beispiel: Bei einem unserer letzten Gespräche erzählte mir Rabiye, die gerade von zu Hause kam – also, wir haben da alles Mögliche geplaudert, wir haben nicht nur über Guantanamo und über ihre Zeit, sondern über alles geredet –, ihr Sohn, ihr Jüngster, hat sich gerade Zwieback mit Milch gemacht und Zucker. Das findet er lecker. Das ist so ein Verrückter, ihr Sohn.

Daraus ist dann diese Szene entstanden, die ich dann um Jahre zurückverlegt habe und gedacht: „Okay, das passt total gut in diesen …“ Also, ich erzähle nicht, der Sohn guckt in den Kühlschrank und der Kühlschrank ist leer, weil Rabiye abwesend ist, sondern was natürlich zu erzählen gewesen wäre oder was notwendig zu erzählen ist, ist: Die Mutter ist nicht zu Hause und die ganze Familie leidet darunter. Aber wie kriege ich das erzählt? Da war natürlich diese Idee mit der Milch und dem Zwieback. Die habe ich dann natürlich in diese Zeit hinein verlegt. Also ein Beispiel, und so gibt es viele.

 

Andreas Dresen

Es gibt ein politisches Beispiel noch: Die Informationen, dass der CIA Murat Kurnaz 2002 schon freilassen wollte und die deutsche Regierung das blockiert hat, die kam in Wahrheit eigentlich erst irgendwann raus nach Murats Freilassung. Und wir haben das in den Film reingelegt, weil unser Film quasi mit seiner Freilassung endet und uns diese Information aber superwichtig war. Insofern gibt es da, selbst, was das Faktische betrifft – das ist jetzt mal ein Beispiel –, durchaus auch Verschiebungen, was an der Sache selber aber gar nichts ändert. Nur, dass das Bernhard Docke sehr viel später erfahren hat, diesen katastrophalen Umstand.

 

Interviewerinnen

Wie habt ihr bei den Dreharbeiten gearbeitet? Habt ihr euch dann sehr an das Drehbuch gehalten oder gab es da auch Raum für Improvisationen?

 

Andreas Dresen

Das ist schon sehr dicht am Drehbuch dran. Das ist bei solchen komplexen historischen Geschichten auch gar nicht anders zu machen. Da ist nicht so viel Raum für Improvisationen. Ich habe manchmal bei den Familienszenen, weil ich wollte diese türkischen Familien … Das ist ja sehr lebendig, wenn man da auch mal zu Hause ist. Da ist echt was los und das fand ich toll, auch gerade mit den Kindern zu arbeiten. Bei diesen Szenen habe ich dann Raum gegeben und die Zügel lange lang laufen lassen, weil ich wollte auch so ein gewisses Durcheinander und eine Lebendigkeit haben. In den Sachen verlassen wir manchmal das Drehbuch beziehungsweise wird dann so durcheinander gequatscht und die Schauspieler erzählen auch mal irgendwas anderes.

Aber im Speziellen, zum Beispiel, was die juristischen Kontexte betrifft, da ist es wortwörtlich. Es gibt auch Szenen, an denen wir sehr lange, auch während des Drehens, noch mit den Schauspielern gefeilt haben. Gerade die von mir eben schon einmal erwähnte Gesprächsszene im Glasgang mit Bernhard Docke und dem Staatsanwalt Marc Stocker. Von der Szene haben wir noch während des Drehens, ich glaube, vier oder fünf Fassungen geschrieben. Auch übrigens auf Wunsch des Hauptdarstellers Alexander Scheer, der sich sehr involviert hat und dem das sehr, sehr wichtig war, wann kriegt die Figur welche Information und so weiter. Das ist auch, finde ich, superwichtig und so entwickeln sich Dinge auch im Miteinander. Die Schauspieler sind natürlich auch gefragt und einbezogen in die dramaturgischen Entscheidungen.

 

Interviewerinnen

Wie ist es denn, wenn man am Set ist und als Weißbrot einfach nichts versteht?

 

Andreas Dresen

Ja, das ist schon eine lustige Erfahrung, muss ich sagen. Also, das war für mich auch schräg, weil ich das noch nie hatte. Also, ich hatte schon Englisch. Ich habe schon auch auf Englisch gedreht, auch auf Englisch schon am Theater inszeniert. Das hatte ich schon, aber da verstehe ich dann natürlich, was die Schauspieler sagen. Und hier einfach mal Ende. Natürlich war das geschrieben, größtenteils. Und in dem Moment, wo es improvisiert war … Natürlich gibt es einen ganz einfachen Trick: Man umgibt sich einfach mit Menschen, die das verstehen, und die habe ich natürlich gezogen, diese Karte. Mal davon abgesehen, dass wir sowieso ein gemischtes deutsch-türkisches Team haben. Das lag nahe, dass wir auch im Ausstattungsbereich Leute haben, die davon was verstehen, und mir war das superwichtig, dass diese Dinge auch wirklich stimmen. Das kriegst du nur, wenn du Leute holst, die aus der Community kommen.

Und ich habe mich jetzt sehr gefreut. In Istanbul stand ein Zuschauer auf und sagte, er fand das so toll und so „authentisch“, wie die türkische Familie dargestellt worden wäre. Wie wir das denn hingekriegt hätten? Das fand ich einfach super und das liegt daran, weil solche Leute, jede Menge, einfach mal bei uns am Set waren. Meltem sowieso. Die Schauspieler, die auch einen türkischen Hintergrund haben. Ich hatte aber auch gerade für diese Dialog-Geschichte tatsächlich einen türkischen Regisseur, einen Kollegen, der die ganze Zeit mit am Set war und darauf geachtet hat, dass diese Sachen, dass die Sprache der Schauspieler, bis in die Kleinigkeiten hin, bis hin zu türkischen Dialekten zum Beispiel, dass das stimmt.

Zum Beispiel Rabiye kommt aus der Schwarzmeerregion, und wenn sie da hinfährt und die Fatime besucht, musste die Fatime Schwarzmeer-Dialekt sprechen, türkischen. Und das haben wir mit der Schauspielerin gebimst, dass sie das konnte. Oder den türkischen Beamten im Justizministerium in Ankara habe ich mit einem Schauspieler gedreht, der hier in Deutschland lebt, der eigentlich Deutschtürke ist. Das hat dann überhaupt nicht funktioniert. Wir haben es zwar mit ihm gedreht, aber ich habe ihn später komplett synchronisiert, mit einem anderen Schauspieler, der Native Speaker ist, also der Türkisch ohne den deutschen Einschlag spricht. Daran seht ihr schon, das ist ein beträchtlicher Aufwand, aber für mich war das superwichtig, weil ich es wiederum auch leidvoll gewohnt bin, dass manche Kollegen, die über die DDR erzählen, da irgendwelchen Unfug zeigen, über den ich mich dann wieder ärgere, weil ich das auch besser weiß.

 

Interviewerinnen

Noch mal generell zu dem Thema des Films. Ist es euch ein größeres Anliegen gewesen, die individuelle Geschichte der Familie Kurnaz zu erzählen? Oder kann man das auch als ein Beispiel für ein größeres strukturelles Problem sehen, was leider sehr viele Familien betroffen hat oder auch in anderer Form betrifft, weil es eben um eine Diskriminierung durch Staat und Justiz geht?

 

Laila Stieler

Ja. Also, ich meine, wenn ich ein Drehbuch anfange, muss ich immer gegenwärtig sein, dass ich mich damit mitunter Jahre beschäftige. Das muss die Geschichte auch hergeben. Das heißt, ich fange an, etwas zu schreiben, was eine gewisse Allgemeingültigkeit hat, und das habe ich hier in der Geschichte, in Rabiyes Geschichte auch gesehen. Da geht es zunächst erst mal ums Muttersein und darum, wie eine Mutter um ihr Kind kämpft. Und das ist jetzt kein speziell türkisches Phänomen, sondern das wäre überall auf der Welt möglich. Also das zum einen, das finde ich auch wirklich essenziell fürs Erzählen der Geschichte. Und dann ging es natürlich um eine große Ungerechtigkeit, die Murat Kurnaz widerfahren ist, also zu seiner Inhaftierung.

Und erst nach und nach habe ich so Momente eingefügt, weil mir das selber auch klar wurde, wie die Familie das sieht. Dass die Familie beklagt, wie sie speziell als türkische Familie in Deutschland behandelt wurde. Oder andersherum: Wenn Murat nicht Murat geheißen hätte, sondern Thomas, wäre er ja mit Sicherheit früher freigekommen, oder? Ich meine, man überlegt sich das. Was wäre denn passiert, wenn Thomas Büttner in Guantanamo inhaftiert gewesen wäre? Hätte der da auch fünf Jahre gesessen? Sicher nicht. Das ist aber erst im Nachhinein für mich in die Geschichte reingekommen. Es war jetzt nicht die Idee, eine Geschichte über Diskriminierung zu schreiben, also von meiner Seite.

 

Interviewerinnen

Ohne euch jetzt auf die Füße treten zu wollen oder irgendwas, hat der Film ja schon ziemlich viele Stereotypen. Also irgendwie die Mutter, die immer darum sorgt, dass die Kinder genug zu essen haben, und der Anwalt, der noch nie türkisches Essen gegessen hat und voll dünn ist, ohne dass man viel isst und so. Ist es so eine unterbewusste Entscheidung gewesen oder ist es schon so was, was man im deutschen Film machen muss für das deutsche Publikum? Gehört das dazu? Wenn Sie verstehen, wo ich hin möchte mit der Frage.

 

Andreas Dresen

Ich finde ja immer, im wirklichen Leben sind die Klischees nicht so weit. Es gibt ein schönes Interviewbuch von François Truffaut mit Alfred Hitchcock, wo er zum Beispiel auch gefragt wird, wie er das in Filmen macht, wenn eine Geschichte zum Beispiel in der Schweiz, in den Alpen spielt. Und da sagt er: „Da zeige ich zuerst mal Schnee und Berge und Skifahrer und dann natürlich Schokolade.“ Klar. Er sagt: „Man sollte, um es dem Zuschauer einfach zu machen, mit den Klischees anfangen. Das Entscheidende ist, dass man nicht mit den Klischees aufhört.“ Das ist der Punkt. Natürlich ist Rabiye, wenn man so will, eine „typische türkische Mutter“, aber das ist ja kein Klischee, dass türkische Mütter …

 

Laila Stieler

Mit dem Mercedes?

 

Andreas Dresen

Nein, das nicht vielleicht, aber dass türkische Mütter kochen und dass die einfach eine Vitalität haben mit ihren Kindern. Na klar ist das so, denke ich, in den meisten türkischen Familien, und dass sie so thronen über dem ganzen Familienverbund. Das ist ja eine sehr dominante Form von Muttersein. Das ist keine Duckmäuserin, ganz im Gegenteil. Also, es ist nicht die Kopftuch-Frau aus dem Dorf, die von einem bösen Mann tyrannisiert wird.

 

Laila Stieler

Aber da gehen wir ja schon weg von dem Klischee.

 

Andreas Dresen

Eben.

 

Laila Stieler

Ich finde, dass es eine Mischung ist. Und ich glaube, das Leben ist auch so. Das Leben ist eine Mischung aus Dingen, die erwartbar sind und die tatsächlich so stattfinden, und Dingen, die man wirklich überhaupt nicht erwartet und so nicht gesehen hat. Dass der Anwalt Fahrrad und sie Mercedes fährt, ist jetzt zum Beispiel eine absolute Brechung von Klischee.

 

Andreas Dresen

Üblicherweise auch andersherum.

 

Laila Stieler

Und so ist komischerweise auch die Wirklichkeit. So könnte ich jetzt noch ein paar Dinge aufzählen, die zum einen die Sache in eine bestimmte Richtung einordnen und zum anderen da wieder herausgehen. Wir haben uns da natürlich auch an dem orientiert, was wir vorgefunden haben, und haben bestimmte Dinge, die in der Wirklichkeit viel klischierter waren als im Film, dann eben weggelassen.

 

Andreas Dresen

Es ist zum Beispiel auch ein interessanter Umstand, dass es der Familie Kurnaz richtig gut geht, vom Sozialstandard her. Die haben ein eigenes Reihenhaus, die fahren teure Autos.

 

Laila Stieler

Sie sind gut ausgebildet.

 

Andreas Dresen

Das Klischee der türkischen Familie in Deutschland ist ja erst mal ein bisschen was anderes. Das fand ich aber auch total schön, weil das eben auch zeigt, im Gegensatz zum gesellschaftlichen Klischee, dass diese Familie komplett integriert ist. Das sind sie nämlich. Die sind seit den 70er-Jahren schon in Deutschland und das macht ja auch ein Land reich, finde ich, dass so verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und sich gegenseitig verändern.

Und das ist auch etwas, was wir erzählen wollten. Natürlich in diesem Fall auf die beiden Figuren bezogen. Das ist ja auch ein Culture Clash, wenn Bernhard und Rabiye zusammengeraten. Das war für uns auch vergnüglich, diese verschiedenen Lebensweisen, verschiedene Kulturen aufeinanderprallen zu lassen. Und da ist es eben manchmal wie im Klischee und manchmal eben auch genau nicht so, und das ist interessant. Letztendlich erzählt es ja nur: Verschiedene Kulturen kommen zusammen und können sich gegenseitig sehr wohl helfen, sehr wohl bereichern und am Ende entsteht was Schönes, weil in dem Moment, wo Bernhard und Rabiye miteinander vorgehen, sind sie nämlich auch erfolgreich. Die sind einfach ein Superteam, gerade durch ihre Verschiedenheit. Das auf die Gesellschaft und auf Kulturen zu beziehen, finde ich einen schönen Gedanken.

 

Interviewerinnen

Das ist auch ein schönes Schlusswort.

 

Andreas Dresen

Gut.

 

Interviewerinnen

Vielen Dank.

veröffentlicht am 02.05.2022