Konflikte, die aufgrund variierender Religionsauslegung und Religionspraxis sowie unterschiedlicher Wertekonzeptionen zustande kommen, können nicht ausschließlich in Bildungskontexten angegangen werden. Aber Schule und außerschulische Bildung können individuelle Voraussetzungen dafür schaffen, Pluralität und damit einhergehende Konflikte als selbstverständlich anzusehen und die divergierende Position auch dann als legitim anzuerkennen, wenn sie der eigenen religiösen Überzeugung oder Praxis widerspricht.

Im Folgenden möchten wir Anregungen und weiterführende Empfehlungen dafür geben, wie sich Pluralismus mit dem Schwerpunkt „Werte und Religion“ durch Bildungsangebote fördern lässt.

a) Hybride Identitäten anerkennen, Mehrfachzugehörigkeiten fördern:

Der Umgang mit verschiedenen Werten und Religionen gehört in vielen Städten längst zum Alltag. So auch innerhalb der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit. Pädagog*innen erleben, dass Jugendliche sich in und mit verschiedenen Kulturen identifizieren, zwischen unterschiedlichen Sprachen switchen können und wenn sie religiös sind, ihre jeweiligen Religionen verschieden und/oder unterschiedlich stark ausleben können. Auch in der Wissenschaft wird die Tatsache, dass Menschen verschiedene Identitäten haben können, als selbstverständlich anerkannt. Jugendliche wollen zugleich gleich und verschieden sein. Ihren vielfältigen Identitäts- und Lebensentwürfen können Pädagog*innen offen gegenüberstehen. Jugendliche können so darin bestärkt werden, sich gleichzeitig als gläubige Muslim*innen und mündige Bürger*innen zu verstehen. Pädagog*innen können beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem muslimischen Glauben stärken, indem sie die Möglichkeit eröffnen, sich mit der Religion näher zu befassen.

Unterschiedliche methodische Ansätze bieten die Möglichkeit, die Flexibilitätspraktiken und Mehrfachzugehörigkeiten in Schule und Jugendarbeit nutz- und erfahrbar zu machen.

Für Schüler*innen eignen sich beispielsweise die im Rahmen des Bildungsprojekts TAMAM von Moscheen und Mitarbeiter*innen des Museums für Islamische Kunst entwickelten Materialien für die Kulturelle Bildung. Die Übungen sind auf der Website abrufbar und in fünf Themenschwerpunkte gegliedert, wie zum Beispiel „Religiöse Vielfalt“, „Gemeinsames Erbe“ oder „Gleichberechtigung“.

Auch die Übung Her/History ermöglicht es Jugendlichen zum einen, ihre individuellen Einstellungen und Werte sichtbar zu machen. Zum anderen kann über den eigenen familiären Kontext reflektiert werden.

b) Neue deutsche Narrative fördern:

Lebenswirklichkeiten, die jenseits nationaler Inszenierungen verlaufen, die vielschichtige Verschränkungen aufweisen, könnten sichtbar gemacht werden. So etwa dadurch, dass der deutsche Kulturkanon für die Arbeit mit Jugendlichen durch entsprechende (post-)migrantische Literatur und Theaterstücke etc. ergänzt wird.

Feridun Zaimoglu, Zafer Şenocak, Fatma Aydemir, Sharon Dodua Otoo und Abbas Khider sind nur einige Literat*innen, in deren Werken die (hybriden) Identitäten, Zugehörigkeit, Migration, Flucht und Rassismus thematisiert werden. Das Maxim-Gorki-Theater führt entsprechende Theaterstücke auf und bietet Materialpakete zur Vor- und Nachbereitung sowie zur Einbettung des Stoffes in den Unterricht.

Eine Herausforderung für Pädagog*innen kann in diesem Zusammenhang darin liegen, selbst Kulturalisierungen[1] und Essentialisierung[2]  zu vermeiden und Kultur-, Religions- und Wertekonflikte als Erklärungsfolie für unterschiedliche pädagogische Problemsituationen heranzuziehen. Denn kulturalisierende Zuschreibungen seitens der Pädagog*innen stehen im Widerspruch zu den hybriden Identitäten von Jugendlichen und können ihre Herausbildung beeinflussen.

Um die eigene Haltung zu reflektieren, bietet sich zum Beispiel die von !ebasa herausgegebene Broschüre „Kultur Global Lernen Ideen und Methoden für kultursensibles Globales Lernen“ an. Sie beinhaltet verschiedene reflexive und methodische Anregungen für die rassismuskritische Arbeit. Die auf Seite 18–20 beschriebene Fishbowl-Methode zu Kulturalisierungen und die Kultur-Erdteilkarte „Schwarzafrika“ kann genutzt werden, um sich seiner eigenen Vorurteile bewusst zu werden und dagegen anzugehen.

c) Ambiguitätstoleranz fördern:

Gemeint ist damit die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten, unlösbare Widersprüche, Ungewissheiten und andere Sichtweisen auszuhalten und selbst kulturell oder sozial unbekannten Situationen offen gegenüberzustehen. Hierfür ist ein gewisser Reifegrad von Menschen und sozialen Systemen, die das Freund-Feind-Denken überwinden, erforderlich.

Eine Methode, die dabei helfen kann, ist das Wertequadrat von Friedemann Schulz von Thun. Mithilfe des Wertequadrats können Schüler*innen und Pädagog*innen gleichermaßen negative und positive Eigenschaften erkennen und reflektieren lernen.

Im Leitfaden der Koordinierungsstelle Weiterbildung und Beschäftigung e.V. finden Sie ein Beispiel für ein Wertequadrat, das Individualismus und Kollektivismus untersucht und eine entsprechende Anleitung für Perspektivwechsel bietet (S. 46–47).

d) Vorurteilsbewusste Pädagogik fördern:

Bildungseinrichtungen sind keine macht- oder herrschaftsfreien Räume. Sie sind strukturell und in der Zusammensetzung der pädagogischen Mitarbeiter*innen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchdrungen. Diese schlagen sich mitunter in Entscheidungsprozessen, Umgangsformen von Pädagog*innen und Schüler*innen, Unterrichtsmethoden und -materialien nieder. Verschiedene Methoden bieten Einsicht in Analyseinstrumente, um solche Zusammenhänge offenzulegen, und Anregungen, wie diesen entgegengewirkt werden kann.

So etwa der Antibias-Ansatz, ein systemkritisches, diversitätsbewusstes und diskriminierungskritisches Praxiskonzept, in dem vorurteilsbewusst mit Diversität und Unterschiedlichkeit umgegangen wird. Der Ansatz setzt sich mit Schieflagen („bias“) in der Gesellschaft auseinander und zielt darauf ab, dass die jeweilige privilegierte bzw. benachteiligte Positionierung in der Gesellschaft reflektiert und individuelle sowie institutionelle Veränderung angestrebt wird. Das Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis (FiPP e.V.) und das Antibias-Netz bieten Workshops, Fortbildungen und Materialien zum Anti-Bias-Ansatz an. Einen Einblick in die Themensetzung des Antibias-Ordners von Fipp e.V. sowie einige Fragen, die zur Selbstreflektion anregen sollen, finden Sie hier.

Einen guten Überblick über Hintergrundinformationen und Materialsammlungen zum Thema bietet solar e.V.

Vorurteilsbewusste Pädagogik heißt aber auch, Differenz losgelöst von Defizit zu denken und folglich Gleichheit und Differenz nicht als Alternativen zu behandeln. Wo die explizite Nichtbeachtung von Unterschieden zu Benachteiligung führt, müssen diese berücksichtigt werden. So etwa in Bezug auf zusätzliche Förderung des Spracherwerbs oder die Zurverfügungstellung von Bildungsmaterialen für Schüler*innen aus wirtschaftlich prekären Verhältnissen.