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Abb.1, Aquarelle von Dan Gluibizzi

Werte sind allgegenwärtig. Auf persönlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene bestimmen sie, wie wir unser Leben führen, zwischenmenschliche Beziehungen gestalten und innerhalb der Gesellschaft zusammenleben (wollen). Was genau Werte sind, wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich beantwortet. Gemeinsam ist den Definitionen, dass Werte als „abstrakte Vorstellungen des Wünschenswerten“ beschrieben werden (Beckers 2018, S. 507). Sie können bewusst wahrgenommen und eingesetzt werden oder unbewusst internalisiert sein. In beiden Fällen beeinflussen sie menschliche Haltungen, Zielsetzungen und damit auch Handlungen.

Als Vorstellungen von Handlungsweisen, die ein erstrebenswertes (Zusammen-) Leben, also einen Idealzustand, ermöglichen sollen, haben Werte im Unterschied zu Normen keinen verbindlichen Charakter. Normen können als Regeln verstanden werden, die zu bestimmten Handlungsweisen motivieren sollen. Von Werten abgeleitet, erhalten sie als Rechtsnormen verbindlichen Charakter.

Während Normen dadurch ein Gefühl der Fremdbestimmung hervorrufen können, werden Werte bei ihren Träger*innen als frei wählbar betrachtet (Beckers 2018, S. 507) und genießen damit einen höheren Grad an emotionaler Verbindlichkeit.

So bestimmen sie auf persönlicher Ebene zum Beispiel unser Liebesleben (etwa die Entscheidung für monogame oder polygame Beziehungen oder für oder wider Sex vor der Ehe) genauso wie die Art und Weise, wie und ob wir uns fortpflanzen (ob beispielsweise verhütet wird oder im Falle ungewollter Schwangerschaft ein Abbruch infrage kommt) oder gar wie wir sterben wollen (so etwa in Form der Zustimmung zur Beihilfe zum Suizid).

Die Verwobenheit privater mit gesellschaftlichen Werten erkennt man daran, dass wertebezogene Fragen und Entscheidungen sich auch in politischen Aushandlungsprozessen niederschlagen. In Form von Rechtsnormen bestimmen sie dann auf gesellschaftlicher Ebene unser Zusammenleben. Dabei sind auch gesellschaftliche Werte selbst Gegenstand von Aushandlungsprozessen und Abwägungen und durchlaufen Veränderungen.

Auch in der heutigen Gesellschaft, die gemeinhin als „säkular“ beschrieben wird, sind religiöse Traditionen wichtige Quellen von Werten und Normen und prägen diese mit – auf der individuellen Ebene wie in öffentlichen Debatten (z.B. in der Debatte um die „Ehe für alle“). Die in religiösen Traditionen vermittelten Werte können dabei mit liberal-demokratischen Werten übereinstimmen und diese befördern oder ihnen widersprechen (etwa die Haltung der katholischen Kirche zur Homosexualität). Darüber, welche Rolle Religion in Politik und Gesellschaft spielen sollte, wird immer wieder kontrovers diskutiert.

Religions- und Wertedebatten im Kontext gesellschaftlicher Pluralität

Eine der sichtbarsten Debatten bezieht sich auf die Anerkennung von sexueller, geschlechtlicher, ethnischer, migrationsbezogener und religiöser Diversität und Pluralität. Dabei spielt die Frage nach der Bedeutung von Religion – und insbesondere des Islam – im öffentlichen Raum eine immer größere Rolle. In Deutschland stehen diese Debatten und die sogenannte Islam-Debatte insbesondere auch in Zusammenhang damit, dass sich größere Teile der Öffentlichkeit auf ein vermeintlich ausschließlich christliches Fundament Deutschlands bzw. Europas beziehen.

In diesem Kontext werden verschiedene Perspektiven auf Religions- und Wertepluralismus sichtbar. So wird Diversität und Pluralität nicht immer als Chance für eine offene Gesellschaft angesehen. Verwiesen wird etwa auf Herausforderungen und Konflikte, die durch das Nebeneinander von verschiedenen Religionen und daraus abgeleiteten Wertvorstellungen entstehen können.

Im Fokus einer Kritik von gesellschaftlichem Pluralismus steht dabei die vermeintliche Unvereinbarkeit des Islam mit Demokratie und einer angenommenen christlichen Wertetradition. Diese Narrative sind bis in die gesellschaftliche Mitte verbreitet.

Auch Jugendliche sind Teil dieser Debatten: Sie werden damit in ihrem Alltag konfrontiert und müssen sich in ihnen positionieren. Dies geschieht in einer Lebensphase, in der Werte und Religion eine entscheidende Rolle für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen spielen, indem sie zum einen Kriterien für die eigene Lebensführung darstellen und Ideale für das Handeln bilden und zum anderen Sinn und Bedeutung stiften (Köbel 2018).

Die vorliegende Kurzexpertise macht es sich zum Ziel, zur Entschärfung der Debatte um Werte und Religion beizutragen und konkrete Hilfestellungen für Fachkräfte im Umgang mit pluralistischen und sich mitunter widersprechenden Religions- und Wertevorstellungen im pädagogischen Alltag zu geben. Hierfür wird im Abschnitt 1 dargelegt, dass Deutschland als pluralistisches Land auf Vielfalt ausgerichtet ist. Die im Grundgesetz festgeschriebenen Werte und Normen sowie politischen Verfahrensregeln bilden den formalen Rahmen und den inhaltlichen Kern dafür, dass Individuen verschiedene, auch in Konflikt zueinander stehende Wertevorstellungen ausleben können. Wertekonflikte sowie religiöse Konflikte sind demnach vorgesehen und dienen auch der gegenseitigen Korrektur. Dafür müssen aber alle Religions- und Werteträger*innen gleichberechtigt ihre Rechte beanspruchen können. Dies, so das Argument, ist gegenwärtig nicht für alle Gesellschaftsmitglieder uneingeschränkt gegeben. Nicht zuletzt deshalb, weil, wie im Abschnitt 2 dargestellt, die Unvereinbarkeit verschiedener Lebensentwürfe propagiert wird. Überdies beeinflussen die im Diskurs verbreiteten Narrative sowohl die Rechtsprechung (vgl. Abschnitt 3) als auch die pädagogische Praxis in Bildungseinrichtungen (vgl. Abschnitt 4). Empfehlungen zum pädagogischen Umgang mit den Auswirkungen der Islam-Debatte und für den Umgang mit Werte- und Religionskonflikten werden im letzten Teil der Expertise gegeben.