Inhalt
Genderaspekte im religiös begründeten Extremismus und jugendkulturelle Ansätze für die Präventionsarbeit- Einleitung
- Hintergrund
- Empfehlungen
- Literaturverzeichnis
Gleichberechtigung von Männern und Frauen
Die westlichen Grundwerte beruhen auf der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das ist im Grundgesetz seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet, allerdings bedurfte es vieler Nachjustierungen von Einzelgesetzen ab den 1950ern bis heute, um etwa das Selbstbestimmungsrecht von verheirateten Frauen auf Arbeit und eigenes Einkommen, das Recht auf Gewaltfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung in der Ehe usw. durchzusetzen. Nach wie vor sind die Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für Frauen nicht die gleichen wie die der Männer: Frauen in Deutschland verdienen durchschnittlich 20% weniger, sind im weltweiten Vergleich kaum in Vorstandsetagen von Wirtschaftsunternehmen repräsentiert und in den seltensten Fällen Regierungschefinnen. Auch berufstätige Frauen sind nach wie vor vornehmlich für die unbezahlten Aufgaben von Haushalt und Elternschaft verantwortlich, mehr als 80% der Alleinerziehenden sind Frauen. Ihr Armutsrisiko liegt um ein vielfaches höher als das von Männern.
Der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist also in vielen Teilen gesellschaftlich noch nicht umgesetzt. Eine strukturelle Ungleichbehandlung durch die Gesellschaft betrifft Musliminnen in besonderer Weise, da sie sowohl als Frauen wie auch wegen ihrer Religionszugehörigkeit Diskriminierungen im öffentlichen Raum ausgesetzt sein können. Dazu kommt, dass die Aspekte, die von vielen Frauen als Errungenschaft der Frauengleichberechtigung gesehen werden, wie die Selbstbestimmung bezogen auf Sexualität und persönlichen Selbstausdruck (u. a. eine weniger normative Kleiderordnung), für viele Musliminnen nicht relevant bzw. nicht erstrebenswert sind.
Islamistische Diskurse zur Frage der Gleichberechtigung
In islamistischen Diskursen werden ähnlich wie im Rechtsextremismus die (noch) nicht (vollumfänglich) eingelösten Versprechen westlicher Gesellschaften auf Gleichberechtigung genutzt, um den Westen als unehrlich und ursprünglich muslimische Lebensformen als Lösungsmodell für jede*n Gläubige*n darzustellen. Statt Gleichberechtigung hätten Frauen im Westen jetzt vor allem eine Doppelbelastung, würden wirtschaftlich als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und sähen deswegen oft von ihrem Wunsch nach Kindern und Familie ab, d. h., sie würden von ihrer traditionellen Rolle als Mutter abgehalten. Auch würden sie nicht mit dem nötigen Respekt bedacht werden, wie man an freizügigen bis sexualisierten Darstellungen und Selbstinszenierungen von Frauen in Medien deutlich sehen könne. Hamideh Mohagheghi schreibt in dem Artikel „Die gehorsamen Kriegerinnen“: „Es kann aber festgehalten werden, dass die Rolle der Frau im Westen als kompliziert, vielfältig und als zwanghafte Selbstbehauptung wahrgenommen werden kann. Dazu kommen die Bilder, die aus der Sicht anderer Kulturen von einer sexistischen Gesellschaft sprechen, die die Frauen auf ihren Körper reduziert und sie brutal vermarktet.“[1]
Der Dschihad als romantisches Abenteuer
Als Antwort auf uneingelöste Gleichberechtigungsversprechen machen radikal islamistische Gruppierungen Angebote zur Zugehörigkeit und Beteiligung für (junge) Männer und Frauen, die von teilweise vormodernen Rollenaufteilungen zwischen Mann und Frau geprägt sind und Gleichwertigkeit statt Gleichberechtigung propagieren. In einem vormodernen Rollenverständnis, das Frauen die vornehmliche Verantwortung und Betätigung im häuslichen Bereich und Männern diejenige im öffentlichen Raum zuspricht, liegt eine weitere Parallele zur rechtsextremen Ideologie. Die Narrative, die um diese Rollenaufteilung in YouTube-Predigten und Internetforen gesponnen werden, handeln natürlich nicht von Beschränkung, Unterdrückung oder Macht, die Männer gegenüber Frauen ausüben könnten. Vielmehr arbeiten sie mit romantischen Bildern einer auf Respekt beruhenden Beziehung: Männer, die für den wahren Islam in den Krieg ziehen, Frauen, die treu zuhause auf ihn warten und die Kinder im Sinne des Propheten erziehen. Bekannt geworden sind Internet- und Social-Media-Fotografien von jungen Männern im Wüstenwind mit einer kleinen Katze auf dem Arm. Sie dienten nicht zuletzt der Rekrutierung von jungen Frauen, um sie für ein Leben in den vom IS-besetzten Gebieten zu gewinnen.
Von Löwen und Löwinnen: Kämpfer*innen für den „wahren Islam“
Das Versprechen, Teil einer großen muslimischen Weltgemeinschaft zu sein, ist für (junge) Männer und Frauen attraktiv, nicht zuletzt wenn sie das Gefühl haben, in der Gesellschaft nicht angenommen zu werden. Sie können sich wertgeschätzt fühlen, indem sie dem „wahren Islam“ folgen. Radikal islamistische Gruppen konstruieren eine „muslimische Gegenkultur“ gegen die Verwerfungen des Westens, aber auch gegen alle, die eine „Neuerung“ des Islam vertreten. Die dabei herrschende Geschlechterordnung ist gerade für muslimisch geprägte Jugendliche jugendkulturell interessant. Schließlich scheint diese Konstruktion Lösungen für diese jungen Menschen zu enthalten, um dem von vielen erlebten Dilemma zu entkommen, weder den durch andere Kulturen und traditionelle Regeln geprägten Elternhäusern noch den vielfältigen Ansprüchen der westlichen Gesellschaft zu entsprechen.
Für Mädchen aus patriarchal geprägten Umfeldern beinhaltet das auch die Möglichkeit, sich gegen die oft willkürlichen Regeln von Vätern, Brüdern und weiteren männlichen Verwandten abzugrenzen und ihren eigenen Weg zu gehen. Denn mit dem Einhalten der ursprünglichsten Regeln des Islam folgen sie einer höheren Ordnung als der der Familie. Diese Ordnung sieht im Übrigen im religiösen Alltagshandeln strenge Regeln nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer vor und kann dadurch Mädchen durchaus gerechter vorkommen als das, was sie bisher erlebt haben.
Der Entwurf einer „muslimischen Gegenkultur“ arbeitet mit medialen und jugendkulturellen Stilmitteln, die westliche Jugendliche stark ansprechen. So werden YouTube-Videos aus den IS-Kriegsgebieten in der den Jugendlichen bekannten Ästhetik von digitalen Kriegsspielen inszeniert. In bildhaften Vorträgen/YouTube-Tutorials[2] werden junge Männer als „Soldaten“ angesprochen, die ehrenvoll für ihre Religion eintreten können. Sie bekommen durch vielfache religiöse Fabeln und Interpretationen das Angebot, ihre Männlichkeit auf „stolze“ Weise auszuleben und sich für eine Bewegung einzusetzen, die bei aller vormodernen Ideologie Lösungen für politische, soziale und ökologische Probleme der Gegenwart parat zu haben scheint.
Und für Mädchen und Frauen sind durchaus über die Rolle der Beziehungspartnerin hinaus Aufgaben in radikal-islamistischen Gruppen vorgesehen, die ihnen eine besondere Bedeutung geben und eine Beteiligung für sie attraktiv machen. Ähnlich wie im Rechtsextremismus sollte man ihre aktive Rolle als überzeugte, eigenständige, ideologisch handelnde Person nicht übersehen.[3] (Junge) Frauen werden in der Öffentlichkeitsarbeit on- und offline aktiv, etwa als Bloggerinnen oder für Übersetzungen.[4] Sie benehmen sich wie Religionskriegerinnen im Klassenraum und sozialen Umfeld, wenn sie versuchen, anderen ihre religiösen Regeln zu diktieren bzw. sie als „Ungläubige” abzuurteilen. Und sie gründen z.B. eigenständige salafistische Mädchengruppen und werben andere Mädchen und Frauen in der Community an. Dabei inszenieren sie sich als „Löwinnen, die für Allah kämpfen…“[5]