Religionsfreiheit und die „Kopftuchdebatte“

Wenn (junge) Frauen sich als religiöses Bekenntnis für das Tragen des Hijab (und anderer Formen) entscheiden, werden sie zu den offenkundigen und sichtbaren Musliminnen, über die viel politisch ver- und ausgehandelt wird. Die öffentliche Diskussion dazu ist von vielen Unterstellungen, Vorurteilen und anti-muslimischen Haltungen geprägt. Von Menschen aller möglichen politischen Couleur wird es als Zeichen der Unterdrückung gelesen, wenn Mädchen und Frauen sich nur ihren Ehemännern gegenüber ohne Kopftuch zeigen dürfen.

Wenn wir uns ausschließlich auf diese Interpretation stützen, sagt das allerdings vor allem eins aus: Es sind wir, die diesen Mädchen und Frauen Eigenmotiviertheit und Selbstbestimmung absprechen. Natürlich gibt es aus muslimisch geprägten Umfeldern Mädchen (und Jungen), die nicht über ihr eigenes Leben bestimmen dürfen, die zwangsverheiratet werden sollen, deren persönliche Lebensentscheidungen durch die Familie stark eingeschränkt sind. Hier geht es aber vielmehr um archaische, patriarchale Prägungen und nicht so sehr um den Islam oder dessen religiös begründete Kleiderordnung.

Für und wider

Nichtsdestotrotz wird das Kopftuch seit Jahren in westlichen Ländern als politisches Kampfsymbol genutzt. Es provoziert christlich-konservative, rechtspopulistisch-rechtsextreme wie emanzipatorisch-feministische Akteur*innen. 2019 wurde die Forderung in Deutschland diskutiert, dass Mädchen, die jünger als 14 Jahre sind, in Kita und Schule kein Kopftuch tragen sollen. In Österreich gilt diese Regelung bereits. Das Argument für eine Altersbegrenzung: Nach entsprechender Auslegung des Korans sollen Frauen das Kopftuch tragen, um ihre (sexuellen) Reize zu verbergen. Hier sagen die Kritiker*innen, dass das für Kinder nicht gelten kann. Die Begründung ist nachvollziehbar und doch provoziert es vielfach muslimische Communities, weil es in ihr Selbstbestimmungsrecht eingreift. Des Weiteren gibt es in einigen Bundesländern ein Kopftuchverbot für Frauen im öffentlichen Dienst. Dies wird damit begründet, dass die Bundesrepublik Deutschland ein säkularer Staat ist und sich kein*e Bürger*in etwa in Schule oder Verwaltung durch dessen Mitarbeitende religiös beeinflusst fühlen soll. (Dass dies für christliche Symboliken anders interpretiert wird, sei an dieser Stelle nur festgestellt.)

Wie auch immer diese Regelungen motiviert sein mögen, in einer langfristigen Perspektive sind sie problematisch. Denn sie tragen weder zur Durchsetzung der Religionsfreiheit bei noch zur Stärkung muslimischer Frauen. Im Gegenteil – solcherlei Regelungen verhindern, dass Musliminnen in Schlüsselpositionen etwa als Lehrerinnen sichtbar werden. Solange berufstätige, gut qualifizierte Musliminnen unsichtbar bleiben, wird das Vorurteil verstärkt, dass Musliminnen nur im häuslichen Bereich arbeiten würden und gesellschaftlich wenig integriert seien.

Weiterhin wird diese Diskussion auch zur Polemisierung aus rechtsextremen Kreisen genutzt (z. B. Kampagne „Zu schön für einen Schleier“) und islamfeindliche Positionen erhalten damit Vorschub. Umso wichtiger ist es, dass offen zu dem Thema diskutiert wird. Doch dabei sollte gelten: nicht übereinander, sondern miteinander.

Wer spricht über wen?

Auffallend ist, dass Mädchen, die religiös-motiviert ein Kopftuch tragen, wenig an den Diskussionen beteiligt sind – Mädchen, die etwa erzählen können, was bei ihnen den Ausschlag gegeben hat, sich für das Tragen des Hijab zu entscheiden, wie ihre Familie und ihre Freund*innen dazu stehen und mit welchen gesellschaftlichen Reaktionen sie zu tun haben. Zudem fehlen alternative Repräsentationen, etwa von den bereits erwähnten berufstätigen Musliminnen oder jenen Personen, die ein Hijab tragen und sich gleichzeitig zu Feminismus bekennen oder Unterstützung für transsexuelle bzw. queere Jugendliche öffentlich ausdrücken.

Natürlich gibt es in unserer Gesellschaft Musliminnen, die Hijab tragen und dabei feministische Haltungen vertreten, aber sie sind kaum sichtbar. Gespräche mit feministisch orientierten Musliminnen haben gezeigt, dass sie ihre Haltung z. T. ungern in ihrem Umfeld öffentlich machen, da die Reaktionen gerade auch von nicht-muslimischen Frauenrechtler*innen von Unverständnis sowie Unterstellungen geprägt und dementsprechend anstrengend seien. Hier zeigt sich, dass ein auf kultureller und religiöser Vielfalt beruhender intersektionaler Feminismus noch zu wenig in der gesellschaftlichen Diskussion angekommen ist. Und zahlreiche Musliminnen verzichten wiederum auf das Tragen des Hijab in ihrem Berufsleben, um als Kollegin vollumfänglich ernst genommen zu werden.

Islamistische Diskurse zur „Kopftuchdebatte“

Für radikal religiöse Diskurse, wie sie sich etwa in Internetforen widerspiegeln, ist die immer wiederkehrende Debatte um das „Kopftuch“ eine dankbare Vorlage, um eine „Wir versus die“-Konstruktion zu schaffen und zu stärken. In dieser Konstruktion wird suggeriert, dass der „Westen“ die Gemeinschaft der Muslim*innen in ihren Lebensweisen und ihrer religiösen Praxis angreift. Dieses Bedrohungsszenario[1] dient vor allem dazu, an (junge) Menschen zu appellieren, „das Muslim-Sein“ als ihre erste und wichtigste Identität zu begreifen, für die sie auch zu kämpfen bereit sein sollten. Dass es dabei nicht nur um Muslim*innen gegen Nicht-Muslim*innen, sondern auch um eine Konstruktion von „wahren“ Muslim*innen gegen andere Muslim*innen geht, ist häufig nicht auf den ersten Blick erkennbar.

Zudem wird die Diskussion um das „Kopftuch“ im Gestus der schützenden Gemeinschaft geführt, nach dem Motto: „Schwestern, wir sehen, was man euch antut.“ Dabei wird folgendes Narrativ verbreitet: Es ist nicht die muslimische Gemeinschaft oder es sind nicht die muslimischen Männer, die vorschreiben, wie Musliminnen zu leben haben, sondern es ist der „Westen“, der den Musliminnen und den muslimischen Familien verbietet, so zu leben, wie sie wollen.

Pädagogische Überlegungen

Um das Thema „Kopftuch als religiöses Bekenntnis“ spinnen sich, wie oben gezeigt, einige Themen wie wahrgenommene oder reale Diskriminierung von Muslim*innen, unterschiedliche Rollenvorstellungen und Gleichberechtigung der Geschlechter. In der pädagogischen Arbeit kann uns die oben angerissene Diskussion nur als Hintergrund dienen. Viel wichtiger ist es, muslimische Mädchen selbst zu befragen, warum sie ein Kopftuch tragen oder warum nicht. Die Motivlagen können sehr unterschiedlich sein und das Entscheidende ist, dass die pädagogische Beziehung auf Interesse, Offenheit und Perspektivaustausch beruht. Eine wichtige Grundlage ist auch eine religionssensible Haltung. Um für diese Themen gute Voraussetzungen für den Austausch zu schaffen, ist es gut, sich der eigenen Haltung bzw. auch der Haltung von Kolleg*innen bewusst zu werden. Dabei können Selbstreflexion bzw. Teamreflexionen helfen (siehe Kasten).

Eine Frage der Haltung! Beispiele der Selbstbefragung an uns als Pädagog*innen oder auch als Leitfaden für eine kollegiale Beratung im Team:

  • Welche Hypothesen/Vermutungen haben wir zum Tragen des Kopftuchs im muslimischen Kontext allgemein und von uns bekannten Mädchen?
  • Welche Vorstellungen haben wir selbst zum Zusammenleben von Frauen und Männern? Wie stehen wir zu Feminismus und Gleichberechtigung?
  • Welche religionsbezogenen Vorstellungen haben wir? Folgen wir einem bestimmten Bekenntnis? Sind uns Religionsausübungen völlig fremd?
  • Welche gesellschaftlichen Vorstellungen haben wir? Wollen wir, dass Mädchen und Frauen, aus welchen Motiven auch immer, auf ihre religiöse Selbstbezeichnung vollständig verzichten müssen? Soll das für alle Religionen gelten?

Zu weiteren pädagogischen Strategien für die Arbeit mit Jugendlichen siehe Kapitel 3.