Religiös begründeter Extremismus kann für junge Frauen wie junge Männer eine besondere Anziehungskraft haben. Genderaspekte[1] spielen dabei eine wesentliche Rolle und werden von Extremist*innen bewusst genutzt, um Jugendliche von islamistischen Vorstellungen und Ideologien zu überzeugen.

Die Rolle von Mädchen und Frauen im religiös begründeten Extremismus wurde lange übersehen, weil sie weniger als Jungen oder Männer in der aktiven Ausübung von Straftaten auffallen. Doch wie im Rechtsextremismus unterstützen sie engagiert radikal islamistische Bewegungen. Spätestens mit der Ausrufung des Kalifats durch den sogenannten Islamischen Staat 2015 wurde die Rolle der Frauen deutlich. Die Zahl der weiblichen Personen, die in die vom IS besetzten Gebiete ausreisten, stieg von 10% auf 30% an.[2]Sie wurden als Ehefrauen bzw. zukünftige Ehefrauen angeworben mit dem Versprechen, sich für den „wahren Islam“ einsetzen zu können, indem sie die „Krieger“ unterstützten, Kinder für das Kalifat gebaren und nach den Regeln der Scharia aufzogen.

Für einige junge Menschen, die sich im Zwiespalt zwischen familiären und gesellschaftlichen Anforderungen sowie persönlicher Sinnsuche und sozialen, schulbezogenen, kulturellen und ökonomischen Herausforderungen befinden, kann das ein attraktives Versprechen darstellen. Die Ideologie eines religiös begründeten Extremismus erreicht u. a. junge Menschen:

  •  die sich selbst nicht gesehen fühlen und sich für die vermeintlich verfolgte Religion des „Islam“ einsetzen wollen.
  • die als junge Muslim*innen mit Migrationshintergrund in Europa alltäglich Diskriminierung erleben (wenn nicht persönlich, dann doch über die Medien oder nicht zuletzt durch rechtspopulistische und muslimfeindliche Meinungsmache vermittelt),
  • die wenig Unterstützung haben, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden,
  • deren Art, ihr „Frausein“ oder „Mannsein“ zu leben, wenig Anerkennung bzw. Verständnis erfährt.[3]

Wichtig ist anzumerken, dass die hier genannten Faktoren eine Hinwendung zum religiös begründeten Extremismus begünstigen können, sie aber nicht zwangsläufig zu einer Radikalisierung führen. Denn natürlich gibt es viele Jugendliche, die diese Erfahrungen machen und sich nicht radikalisieren.

Extremist*innen wissen um das Dilemma und die Widersprüche, in denen sich viele Jugendliche befinden. Und sie nutzen diesen Sachverhalt gezielt, indem sie z. B. in sozialen Medien, in Blogsoder YouTube-Predigten die Unzulänglichkeiten des westlichen Systems anprangern. Wie im Rechtsextremismus nehmen sie sich dabei vor allem auch Fragen des Zusammenlebens von Mann und Frau und der Gleichberechtigung vor. Sie entwerfen Visionen, in denen Männer wie Frauen zu großer Klarheit gelangen, wenn sie sich am (kriegerischen) Dschihad beteiligen, der Mann tapfer im Kampf, die Frau zuhause als kluge Ehefrau und Mutter.

Es werden Bilder einer Partnerschaft gezeichnet, in der Männer wie Frauen wissen, was sie zu tun haben und welche Rollen Gott für sie vorgesehen hat. Der Mann hat, gemeinsam mit seinen Glaubensbrüdern, seine Aufgabe draußen im aktiven Kampf zur Verteidigung des „bedrohten wahren“ Islam. Die Frau ist im häuslichen Bereich mit anderen Frauen verantwortlich für einen möglichst zahlreichen Nachwuchs und dessen Erziehung im muslimisch-fundamentalistischen Sinne.

In diesen Geschichten und Lösungsvisionen kommt wenig Gewalt vor, wenngleich sie Bezug auf Kriegs- und Krisengebiete nehmen, in denen der Islam „verteidigt“ werden muss. Es werden Geschichten erzählt, die Bilder von partnerschaftlicher Beziehung zwischen Mann und Frau suggerieren, von einer guten Gemeinschaft unter Geschlechtsgenoss*innen: Männer unter Männern, Frauen unter Frauen. Es werden Geschichten erzählt über die Erziehung und Bildung von Söhnen und Töchtern, die in großer Weisheit und Selbstbestimmung von den Frauen ausgeübt werden. Es werden Fabeln erzählt mit zahlreichen moralischen Implikationen und mit dem Angebot verbunden, dass man dieses Leben selbst führen kann, wenn man nur den richtigen religiösen und kämpferischen Weg einschlägt und sich nicht mehr vom Westen korrumpieren lässt.[4]

Im Vergleich zu den Möglichkeiten einer reinen, klaren Lebensführung nach den uralten Regeln des Islam werden moderne Lebensgestaltungen wie folgt dargestellt: Der Westen sei eine Gesellschaft ohne Werte und Moral, in der keine Rücksicht auf die Unterschiedlichkeit der Geschlechter genommen werde, in der die Frauen nicht geehrt und geschützt, sondern zu Sexualobjekten herabgewürdigt würden. Auch hier sind die Interpretationen denen im Rechtsextremismus erstaunlich ähnlich.

Die vermeintliche Selbstbestimmung und das Karrierestreben von Frauen führe entweder zur Selbstverleugnung oder zur unweigerlichen Überforderung, wenn diese sich um Beruf und Familie gleichermaßen kümmern müssen. Dabei greifen sowohl religiös begründeter Extremismus wie auch Rechtsextremismus etwas auf, was ebenso von feministischen Bewegungen kritisch gesehen werden kann: den starken Leistungs- und Konkurrenzdruck, dem Frauen und Mädchen oft ausgesetzt sind und der sich anders als bei Männern nicht hauptsächlich auf den beruflichen Aspekt beschränkt, sondern gleichermaßen das Wetteifern um gutes Aussehen und familiären Erfolg beinhaltet.

All diese Themen sprechen Jugendliche aus muslimischem und migrantischem Umfeld, bzw. solche, die so markiert werden, aber auch sogenannte Herkunftsdeutsche mit säkularem Hintergrund an. Sie beschäftigt die Frage, wie gerecht eine Gesellschaft ist und ob sie das einlöst, was sie verspricht. Fragen zu Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Akzeptanz durch andere bewegen Teenager in besonderer Weise. Dazu kommen Fragen zu persönlicher Chancengerechtigkeit, zur Lebens- und Zukunftsgestaltung und zur Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns. Und natürlich Fragen, die sich auf Liebe, Partnerschaft und Sexualität beziehen.

Für die Anziehungskraft, die religiös begründeter Extremismus auf manche Heranwachsende ausübt, können bezogen auf Genderaspekte folgende Fragestellungen besonders relevant sein:

  •  Mit welchen Geschlechterrollenvorstellungen wachsen Jugendliche auf? Gelten für sie plurale Rollenvorstellungen mit vielfältigen und durchlässigen Vorstellungen von Männlichkeit, Weiblichkeit oder Queerness? Oder sind sie in Familie, sozialem Umfeld und Schule eher damit konfrontiert, sich als Mädchen oder Junge in einer bestimmten Weise verhalten zu müssen.
  •  Inwieweit tragen die persönlichen Erwartungen an sie als junge Männer und Frauen dazu bei, sich zu streng binäre Rollenvorstellungen zu Mann und Frau anzueignen? Versprechen sie sich von der Teilnahme an islamistischen Bewegungen eine Lösung hinsichtlich der familiären und der vielleicht im Widerspruch dazu stehenden gesellschaftlichen Erwartungen an sie?
  • Wie fühlen sie sich als junge Frauen bzw. Männer von Familie und Gesellschaft wahrgenommen? Gelten für sie Grundbedingungen der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung? Erfahren sie zuhause, in Schule und im öffentlichen Raum Respekt?
  •  Inwieweit tragen ihre Erfahrungen von nicht eingelösten Gleichberechtigungsversprechen dazu bei, sich Gruppierungen anzuschließen, in denen Männer und Frauen nicht gleichberechtigt, dafür aber gleichwertig sind?[5]

Im Folgenden sollen relevante Genderthemen angesprochen und erörtert werden, die in Konzeptionen der Präventionsarbeit einbezogen werden können. Sich auf Fragen persönlicher Lebensentwürfe bzgl. eigener Geschlechtskonstruktionen und lebensweltlicher Orientierungen pädagogisch einzulassen, kann ein wichtiger Schlüssel sein, um Jugendliche zu stärken und widerständig gegenüber einfachen Versprechen zu machen.