Herr El-Wereny, in Ihrer Studie setzen Sie sich mit deutschsprachigen islamistischen Webseiten auseinander. Oft denkt man dabei zuerst an YouTube-Videos oder Chatforen, es gibt aber auch viele statische Webseiten, die zum Teil seit Anfang der 2000er Jahre bestehen. Können Sie diese Webseiten näher beschreiben?


Abb. 2, Dr. Mahmud El-Wereny

El-Wereny: In meiner Studie habe ich die Inhalte von islamistischen Webseiten, hauptsächlich aus dem salafistischen Spektrum, exemplarisch anhand von vier Themenschwerpunkten untersucht: die Haltung zu Staat und Politik, zum religiös Anderen, zur Stellung der Frau und zur Anwendung politischer Gewalt. Ausgewählt habe ich Internetportale wie Islam Q&A, Islamweb.net, Islamfatwa.de und Basseera.de, die außer in Deutsch oft auch in mehreren anderen Sprachen veröffentlichen und damit eine weite Öffentlichkeit erreichen. Diese Webseiten zählen zu den größten und meistbesuchten Internetportalen, die Informationen zum Thema Islam anbieten. Diese Bedeutung wird auch durch erste Erkenntnisse eines anderen Forschungsprojekts bestätigt, das ich gerade zur Wahrnehmung von islamischer und islamistischer Normativität im Cyberspace durchführe.

Als religiöse Autoritäten treten dort vorwiegend salafistische Gelehrte saudischer Herkunft auf, deren Fatwas bzw. Lehrmeinungen direkt übernommen und vom Arabischen ins Deutsche übersetzt werden. Solche Gelehrte werden als Verantwortungsträger für die Schaffung einer weltumspannenden islamischen Gemeinschaft, der „umma“, angesehen. Diese Webseiten sind von der Überzeugung getragen, allein die Wahrheit zu erkennen und zu präsentieren. Für sie ist die Scharia ein universell und ewig gültiges Staats- und Gesellschaftssystem. Auf dieser Grundlage bieten diese Webseiten ein Regelwerk zu allen Angelegenheiten des Dies- und Jenseits: von der Theologie und Ethik über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bis hin zur Bildung, Erziehung und Missionierung.

Um welche Themen geht es denn auf diesen Webseiten vor allem?


El-Wereny: Sie decken fast alle Fragen des Lebens ab. Einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden dabei Fatwas, also religiöse Gutachten, was damit zu erklären ist, dass viele Muslim*innen großen Wert darauf legen, ihr Leben nach den Werten und Normen des Islams auszurichten. Fatwas dienen Muslim*innen heute – genauso wie früher – als Richtschnur und Orientierung für ein islamkonformes Leben. Nicht jeder Muslim bzw. jede Muslimin ist in der Lage, selbstständig aus dem Koran und den Erzählungen aus dem Leben des Propheten Antworten auf neue Fragen zu finden, daher suchen viele im Internet nach Handlungsorientierung bzw. nach Antworten auf offene Fragen. Das ist einfacher und anonymer, als sich zum Beispiel an den Imam der Gemeinde zu wenden. Diese Fatwas beschränken sich nicht auf gottesdienstliche oder religionspraktische Angelegenheiten, sondern erstrecken sich auch auf Themen rechtlicher, politischer oder gesellschaftlicher Natur.

Wie würden Sie das Religionsverständnis beschreiben, das diesen Inhalten zugrunde liegt?


El-Wereny: Allgemein wird ein verkrustetes Islamverständnis propagiert, das sich nicht nur gegen die Demokratie und die politischen Systeme des Westens, sondern auch gegen Frauen, Nichtmuslim*innen oder andere Muslim*innen richtet, die ihre Sicht nicht teilen. So gelten zum Beispiel Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als feindlich gesinnte „Religion“ bzw. „Gegenreligion“, die grundsätzlich abgelehnt wird. Die Demokratie sei nämlich menschengemacht, obwohl nur Gott das Recht auf Gesetzgebung und Herrschaft zustehe: Nur Gott alleine gebühre der absolute Gehorsam. Politische Aktivitäten, wie etwa die Teilnahme an freien Wahlen, werden dagegen als Abfall vom Glauben (kufr) betrachtet und die Übertragung der Gesetzgebung auf die Menschen mit Polytheismus (shirk) gleichgesetzt.

Zudem wenden sich diese Seiten aus religiösen Gründen auch gegen einen freundlichen, kooperativen Umgang mit Nichtmuslim*innen. Das gilt auch für den Umgang mit Schiit*innen und Anhänger*innen der Ahbash, der Ahmadiyya oder des Sufismus. Die Gelehrten stützen sich dabei nicht nur auf religiöse Quellen, sondern auch auf das al-walāʾ wa-l-barāʾ-Prinzip, das auch textuell begründet wird. Dieses Prinzip fordert die Gläubigen nach salafistischem Verständnis dazu auf, nur Muslim*innen gegenüber loyal zu sein und sich von allen anderen loszusagen. Damit steht es für eine dualistische Weltsicht, nach der sich alles in gläubig versus ungläubig beziehungsweise gut versus böse aufteilen lässt. Muslim*innen, die dennoch die Nähe zu Nichtmuslim*innen suchen oder sich auf interreligiöse Aktivitäten einlassen, werden daher diffamiert und nicht selten des Unglaubens bezichtigt. Religiöse Texte, die für Toleranz und Vielfalt oder interreligiöses Zusammenleben stehen, werden hier ausgeblendet oder umgedeutet.

Sie haben die Rolle von Frauen als weiteres wichtiges Thema angesprochen. Inwiefern werden Geschlechterrollen in diesen Darstellungen aufgegriffen?


El-Wereny: Auf den Webseiten, die ich untersucht habe, ist das ein wichtiges Thema. Frauen wird in diesen Texten grundsätzlich nur im häuslichen Umfeld eine Rolle als Mutter und Hausfrau zugebilligt. Die Autorität des Mannes über die Frau und seine Versorgerrolle schränken die Möglichkeiten von Frauen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene stark ein. Die damit einhergehende strikte Geschlechtertrennung beginnt mit dem Eintritt in die Pubertät: Frauen dürfen sich zum Beispiel nur in Begleitung und mit Erlaubnis eines sogenannten Vormundes in die Öffentlichkeit begeben, müssen eine bestimmte Kleidungsordnung wahren, dürfen keine Führungspositionen übernehmen und nur unter bestimmten Bedingungen erwerbstätig werden. Dahinter steht die Überzeugung, dass jeglicher Kontakt zwischen Männern und Frauen, die nicht maḥram sind, die Gefahr von unehelichen Beziehungen heraufbeschwöre. Der Ausdruck maḥram bezieht sich auf eng verwandte Personen beider Geschlechter, unter denen eine Ehe religiös verboten ist.

Salafistische Gelehrte geben dem Ehemann auch das Recht, bis zu vier Frauen zu heiraten und sie bei Ungehorsam zu schlagen. Die Reduzierung der Frau auf ihre Sexualität und generell die Ungleichbehandlung von Mann und Frau werden hier mit dem Koran und der Sunna gerechtfertigt, die wortwörtlich verstanden werden. Auch wird der historische und soziale Kontext, in dem die Inhalte dieser Quellentexte offenbart wurden, ignoriert. In der Gesamtschau steht diese Ideologie im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und kann eine Radikalisierung befördern.

Worin besteht aus Ihrer Sicht dieses Radikalisierungspotenzial? Die Inhalte wenden sich zwar gegen Werte und Normen des Grundgesetzes, sind aber in den meisten Fällen ja für sich genommen nicht strafbar.


El-Wereny: Radikalisierungen stehen für einen mehrstufigen Veränderungsprozess, der schrittweise und kumulativ vonstattengeht: Es ist kein Ereignis, das von heute auf morgen auftritt. Dabei ist zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: einer kognitiven Radikalisierung, die die schrittweise Übernahme von ideologischen Weltbildern und Wertvorstellungen beschreibt, und einer verhaltensbezogenen Radikalisierung, die letztlich das Handeln zur Durchsetzung des eigenen Weltbildes beinhaltet. Beide Ebenen bedingen sich gegenseitig und können nicht als getrennte Sphären verstanden werden. Darin besteht das Radikalisierungspotenzial dieser Webseiten. Die Webseiten rufen zwar nicht zur Gewaltanwendung auf, ihre Inhalte bieten aber einen Ansatzpunkt für eine kognitive Radikalisierung, auf deren Basis eine verhaltensbezogene bzw. gewaltbereite Radikalisierung erfolgen könnte.

Zu den Nutzer*innen dieser Webseiten gibt es bisher wenig Forschungen. An wen richten sie sich aus Ihrer Sicht?


El-Wereny: Vertreter der Webseiten stellen sich als Wahrheitsträger vor, die authentisches Wissen über den Islam anbieten. Dabei verkünden sie das Ziel, daʿwa zu betreiben, also zum Islam aufzurufen und ihn auf diesem Weg weltweit zu verbreiten. Ihre daʿwa-Arbeit richten sie nicht nur an „ungläubige“ Nichtmuslim*innen, sondern auch an muslimische „Unwissende“ und „Ungehorsame“, die nach ihrem Verständnis vom geraden Weg abgekommen sind. Von Muslim*innen wird erwartet, dass sie in all ihren Angelegenheiten wieder zu den vermeintlichen Werten und Normen des Korans und der Sunna zurückfinden. Die Online-Angebote des Salafismus richten sich also sowohl an Muslim*innen als auch an Nichtmuslim*innen und sind entsprechend angepasst. Sie bieten eine Vielzahl an Informationen und Lernmaterialien, die die salafistische Lehre an beide Zielgruppen in einer einfachen Sprache präsentieren.

 

In meinem aktuellen Forschungsprojekt komme ich zu dem Schluss, dass die Inhalte dieser Seiten von Muslim*innen – Migrant*innen, aber auch deutschen Konvertit*innen – unterschiedlichen Alters genutzt werden.

Das hat verschiedene Gründe: Salafistische Seiten dominieren die deutschsprachigen Informationsangebote über den Islam schon allein zahlenmäßig und beziehen sich auf prominente, weltweit anerkannte Gelehrte. Und es gibt im Internet einfach kaum leicht zugängliche Alternativen, also zum Beispiel moderate und zeitgemäße Fatwas, die der Verbreitung und Akzeptanz salafistischer Ansichten etwas entgegensetzen könnten.

Neben den statischen Webseiten gehen Sie auch auf Videokanäle ein, die von Islamist*innen unterschiedlicher Couleur zum Beispiel auf YouTube betrieben werden. In den Videos geht es nicht nur um Beratung in religiösen Fragen, sondern auch um lebensweltliche Angebote. Handelt es sich dabei letztlich um ein ähnliches Angebot wie bei den statischen Seiten – nur eben vor allem für jüngere Menschen?


Abb.3, Buch-Cover „Radikalisierung im Cyberspace“

El-Wereny: Die Inhalte der Webseiten werden auch über weitere Kanäle und Social-Media-Plattformen verbreitet – nicht nur über YouTube, sondern auch über andere soziale Netzwerke wie Facebook, Telegram oder Twitter. Dass die YouTube-Plattform hier einen zentralen Platz einnimmt, liegt vor allem an deren Attraktivität für Jugendliche. Sie bietet kostenlose Angebote, die oftmals mehrsprachig, grafisch aufwendig gestaltet und zumeist auf dem aktuellen Stand der technischen Entwicklung sind. Das Format erlaubt Salafist*innen eine starke Bildsprache, die besser verfängt als zum Beispiel ein Text. Inhaltlich wird aber auch dort die salafistische Lehre mit dem gleichen Content wie auf den statischen Webseiten vertreten – nur eben in Form von Kurzvorträgen, Predigten oder Seminaren, die genau auf die Interessen und Bedürfnisse der Nutzer*innen zugeschnitten sind.

Die Möglichkeiten von sozialen Medien, in denen sich letztlich jeder mit eigenen Meinungen zu Wort melden kann, werden oft als ein Grund für die Ausdifferenzierung von religiösen Bekenntnissen genannt: Es gibt – ganz egal um welche Religion es geht – schlicht immer weniger klassische Autoritäten, die für viele verbindlich sind. In Ihrer Studie gehen Sie auch auf unterschiedliche islamistische Strömungen ein. Wie würden Sie diese Ausdifferenzierung der islamistischen Szene beschreiben?


El-Wereny: Innerhalb der islamistischen Szene kann man im Großen und Ganzen zwischen zwei Strömungen unterscheiden: einer nicht-gewaltorientierten, die oft auch als „legalistisch“ beschrieben wird, und einer dschihadistischen, also gewaltorientierten, wobei die Übergänge fließend sind. Ihre Zielgruppen sind die gleichen. Inhaltliche Differenzen zeigen sich vor allem im Textverständnis und in der Strategie zum Erreichen der Ziele.

Vertreter*innen des „legalistischen Islamismus“ wollen den Islam und die Moderne miteinander versöhnen und sind bemüht, die Quellentexte des Islams zeitgemäß auszulegen und an die Erfordernisse der Gegenwart anzupassen. Dabei behaupten sie, zwischen zwei Polen einen Ausgleich zu schaffen: zwischen Reformvertreter*innen, die nach ihrer Darstellung alles Fremde vom Westen übernehmen, und den Literalist*innen, die starr am Wortlaut der religiösen Quellen festhalten. Ein Bruch mit der Tradition des frühen Islams kommt für die legalistischen Islamist*innen nicht infrage, sie versuchen vielmehr, eine Kontinuität zwischen der Tradition und der Moderne herzustellen. Sie fassen den Islam als Staat und Religion auf und betrachten viele Vorschriften, auch problematische Teile der Scharia wie etwa die Polygynie, Geschlechterrollen und drakonische Körperstrafen, als unwandelbar und ewig gültig. Das in der Gesellschaft umzusetzen, ist ihr Ziel.

Vom gewaltfreien Islamismus, zu dem auch die Bewegung der Muslimbruderschaft gehört, führt über Sayyid Quṭb, einem Vordenker der Bewegung, ein radikalisierter Strang zum sogenannten „dschihadistischen Islamismus“. Dieser befürwortet einen revolutionären, auch gewaltsamen Umsturz „unislamischer“ Regime. Die Akzeptanz von Gewalt, die von einem buchstabengetreuen Textverständnis herrührt, unterscheidet diese Strömung von legalistischen Islamist*innen, die den Einsatz von Gewalt ablehnen. Letztere wollen ihr Ziel eher auf parlamentarischem oder auch außerparlamentarischem Wege erreichen, etwa durch Agitation in Form von öffentlichen Aktivitäten, Teilnahme am politischen Leben, an Bildung und Sozialarbeit. Dadurch versuchen sie, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen, ohne in Konflikt mit der bestehenden Rechtsordnung zu geraten.

Die Muslimbruderschaft gilt als eine der größten islamistischen Bewegungen in Deutschland, zugleich sind sie im Internet – zumindest in jüngeren Zielgruppen – erstaunlich wenig präsent. Die Präventionsarbeit hat sich daher lange auf salafistische Strömungen konzentriert. Welche Bedeutung messen Sie den nicht-salafistischen Strömungen im Internet zu?


El-Wereny: Stimmen aus dem nicht-salafistischen Spektrum bleiben im Internet tatsächlich quantitativ und qualitativ hinter der salafistischen Medienpräsenz zurück. Islamistische Gruppen wie die Muslimbruderschaft sind auch im Internet vertreten – z.B. mit der persönlichen Website von Yusuf al-Qaradawi –, diese stecken aber im Unterschied zur salafistischen Webpräsenz noch in den Kinderschuhen. Sie sind in der Regel nur in arabischer Sprache verfügbar und erreichen damit nur ein begrenztes Publikum.

Dennoch gibt es mittlerweile im deutschsprachigen Internet auch sehr sichtbare, nicht-salafistische aber islamistische Strömungen. Realität Islam und Generation Islam sind solche Angebote, die ideologische Bezüge zu der seit 2003 in Deutschland verbotenen Organisation Hizb ut-Tahrir aufweisen. Diese sind im Cyberspace sehr aktiv und bieten ihre Inhalte in unterschiedlichen sozialen Netzwerken an. Die Facebook-Site von Realität Islam hat beispielsweise über 36.000 Abonnent*innen, ihr YouTube-Kanal etwa 13.300. Seiten wie diese sind nicht weniger bedeutend als die salafistische Webpräsenz.

Welche Ansätze sehen Sie denn, um diesen Angeboten entgegenzuwirken? Wer wären aus Ihrer Sicht wichtige Stimmen?


El-Wereny: Letztlich geht es darum, Alternativangebote zu schaffen, die islamistischen Ansprachen Konkurrenz machen und reale Perspektiven von Engagement in der Gesellschaft aufzeigen. Hier sehe ich die muslimische Community in Deutschland in der Verantwortung. Zum Beispiel sollten die muslimischen Dachverbände, bestenfalls in Zusammenarbeit mit den mittlerweile an deutschen Hochschulen etablierten islamischen Theolog*innen, moderate, zeitgemäße und adäquate Informationsangebote über den Islam anbieten und eine entsprechende Präsenz im Cyberspace zeigen. Auch Moscheegemeinden könnten aufgrund ihrer umfassenden lokalen Organisationsstrukturen und einfacheren Zugänge zu Jugendlichen wichtige Aufgaben in der Radikalisierungsprävention übernehmen. So könnten sie beispielsweise ihre religiösen Angebote attraktiver gestalten oder Lernarrangements gegen religiös begründete Radikalisierung anbieten. Oft fehlt es allerdings an Ressourcen und Expertise.

Diese Angebote, die Jugendliche zur Teilhabe an der Gesellschaft anregen wollen, müssen attraktiver sein als der Rückzug auf die muslimische Gemeinschaft (umma), wie sie von Islamist*innen propagiert wird. Zudem sollten sie für eine kritische Mediennutzung sensibilisieren, um islamistische oder allgemein radikale Inhalte zu erkennen und Manipulationsstrategien zu durchschauen. Das umfasst natürlich auch die Förderung von Medienkompetenzen. In dieser Hinsicht stehen nicht nur Sicherheitsbehörden, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen in der Verantwortung, radikalen Tendenzen durch präventive Maßnahmen zu begegnen und vor allem bei Jugendlichen Aufklärungsarbeit zu leisten.

 

Veröffentlicht am 03.12.2020