Wertekritik
Im Zentrum islamistischer Wertekritik stehen in demokratischen Gesellschaftssystemen anerkannte Werte und Normen, wie etwa Individualismus und individuelle Selbstbestimmung. Islamist*innen betonen in dem Zusammenhang etwaige negative Folgen dieser Werte. So postete die Facebook-Initiative Islamische Fakten, die auf Facebook 255.111 Abonnent*innen hat, ein Foto mit der BILD-Schlagzeile „Rentner wird nach 8 Jahren tot zu Hause aufgefunden“. Kommentiert wird der Post mit der Kritik am Individualismus und Materialismus, an der Auflösung klassischer Familienstrukturen, dem Umgang mit älteren Menschen und deren Vereinsamung: „Alte Menschen lebten früher bei ihren Kindern, aber durch die individualistische Ideologie des Kapitalismus sind die menschlichen Beziehungen auf Zweckbeziehungen degradiert worden.“[1]
Im Gegensatz dazu stehe der Islam für eine Gesellschaftsordnung, in der grundlegende Werte wie Gemeinschaft, der Schutz der Familie, Respekt vor und Verpflichtung gegenüber Älteren oder Barmherzigkeit und Sorge für Arme gewahrt würden. So verpflichte der Islam Kinder beispielsweise dazu, „ihre Eltern mit Güte zu behandeln und sich um sie zu sorgen, wenn sie alt sind. Eine simple aber sehr effektive Lösung mit einer Win-Win Wirkung.“[2]
In diesem Sinne appelliert auch der salafistische Prediger Pierre Vogel in einem am 08.02.2018 veröffentlichten Webvortrag dafür, einem drohenden gesellschaftlichen Verfall durch die Gründung von muslimischen Familien entgegenzuwirken: „Heiratet und bekommt viele Kinder!!!“, da „diese Gesellschaft am Rande der Zerstörung [ist], weil durch die Ideologie der Selbstverwirklichung die Familie massiv“ angegriffen werde.[3] Auch stehe die Rückkehr zum Islam und zu islamischen Werten als einzige Alternative zu einer vermeintlich „westlichen Gesellschaft“, die von Konsum, Egoismus und Werteverfall geprägt sei.
In islamistischer Gesellschaftskritik wird damit auch die Ablehnung von Konsum und der Orientierung an materiellen Werten verbunden. Konsum, so die islamistische Auslegung, werde als Ersatz für Sinn und Glück eingesetzt. Zudem werde die Aufmerksamkeit der Menschen statt auf den Glauben auf den Materialismus gelenkt. In verschiedenen Reden kritisieren salafistische Prediger wie Abul Baraa das Streben nach Statussymbolen, wie schnellen Autos, Handys und Geld, und warnen mit Verweis auf die Höllenqualen davor, sich im Diesseits diesen Gelüsten hinzugeben.[4]
Einer ähnlichen Argumentationslogik wird innerhalb rechtsextremer Wertekritik gefolgt. Für einen vermeintlichen Kultur- und Werteverfall werden hier konkret die kulturellen Errungenschaften der 68er herangezogen. Als Folge einer „Laissez-faire“-Bewegung sei die Gesellschaft kulturell indifferent geworden. Feste Bindungen würden durch lose Beziehungen und willkürliche sexuelle Praktiken ersetzt. Infolgedessen gäbe es keine Wertmaßstäbe mehr, die Grenzen zwischen „gut“ und „böse“ seien verwischt, die Menschen einsam und orientierungslos. Sie trügen durch die mangelnde Reproduktion zum Niedergang europäischer Kulturen bei (vgl. Czymmek 2018, S. 181). Damit einher gehe der Verlust von Pflicht- und Akzeptanzwerten wie Disziplin, Pflichterfüllung, Treue, Unterordnung, Fleiß und Bescheidenheit sowie die Fähigkeit, zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden zu können. Diese anarchischen Zustände müssten durch eine „geistig-moralische” Wende, eine Rückkehr zu transzendenten Werten und zum kämpferischen „Heroismus” überwunden werden (vgl. Kandel 2000, S. 55).