Vier Aushandlungsformen von Konflikten

Eine Besonderheit von Konflikten im digitalen Raum ist, dass sich Diskussion, Konkurrenz, Streit und Kampf sehr dicht nebeneinander finden. Sie können sich am selben Thema abarbeiten, in derselben Kommentarspalte zeigen und besonders in uneingeschränkten Öffentlichkeiten schnell von einem ins andere umschlagen. Unterschiede zwischen den Aushandlungsformen bestehen in der Ausprägung von Sachlichkeit, Emotionen und Gewalt:  

Eine stark formalisierte und eher sachorientierte Aushandlungsform von Konflikten kann als Diskussion bezeichnet werden. Diskussionen sollen hier als Erscheinungsformen der Konfliktaushandlung verstanden werden, wie sie Habermas als wünschenswert beschrieben hat: Die Diskutierenden erkennen gegenseitig bestimmte Regeln als verbindlich an, sie fokussieren sich auf ein markiertes Thema und versuchen, sich gegenseitig davon zu überzeugen, dass die eigenen Argumente richtig sind. Ziel der Diskussion ist, dass ein Konsens bzw. ein Kompromiss entsteht, mit dem die Beteiligten gut leben können. Diskussionen in dieser Form sind online sehr schwer zu verwirklichen und wenn, dann vor allem in geschlossenen Räumen oder klar definierten Prozessen. Für viele medienpädagogische Partizipationsprojekte sind sie dennoch das Ziel ihrer Arbeit und ein Ideal der politischen Auseinandersetzung.  

Konkurrenz und Streit sind weniger formalisiert und sachorientiert, auch wenn sich beide ebenso wie die Diskussion auf Freiwilligkeit beziehen. Hinzu treten ein stärkerer Gruppenbezug und eine größere Emotionalität. Emotionalität steigert sich, weil im Gegensatz zur Diskussion die Sachebene bei der Auseinandersetzung weniger wichtig wird. Neben die Sachebene tritt die Beziehungsebene zwischen den Konfliktparteien. Und über die Beziehungsebene werden Emotionen und Affekte bspw. in Form von Sympathien und Antipathien wichtiger.

Abb. 11, bei Konkurrenz entscheidet (auch) das Publikum, Quelle

Als Konkurrenz wird eine Form der Konfliktverhandlung beschrieben, bei der nicht mehr die Konkurrent*innen darüber entscheiden, wer gewinnt, sondern eine dritte Gruppe hinzukommt: das Publikum. Die Konkurrent*innen versuchen nicht primär sich selbst gegenseitig davon zu überzeugen, in einem Konflikt die richtige Seite einzunehmen, sondern machen diese Entscheidung von denen abhängig, die ihren Konflikt beobachten (Stark 2008, S. 87f.). Das Publikum wird aufgefordert, ihnen zuzustimmen, ihre Accounts zu abonnieren oder an einer bestimmten Aktion teilzunehmen. Es geht um das Zeigen von Zustimmung und Ablehnung und weniger darum, jemanden zu überzeugen oder Konsens zu finden. Beispiele können Influencer*innen sein, die sich gegenseitig – inszeniert oder nicht – ablehnen und beschimpfen und ihre Follower*innen für die Auseinandersetzung aktivieren wollen.  

Teil dieser Auseinandersetzungen können Streite sein. Ein Streit kann auch über Konkurrenz bearbeitet werden. Er unterscheidet sich von Konkurrenz aber dadurch, dass im Streitgeschehen die Beziehung zwischen den Streitenden eine wichtige Bezugsgröße ist (Wagner et al. 2012, S. 27f.). In Bezug auf die Aushandlung gesellschaftspolitischer Konflikte unterscheidet sich der Streit von der Diskussion dadurch, dass die Beziehung zwischen den Streitenden die Bearbeitung des Konfliktthemas immer wieder überlagert und infolgedessen eine emotionale und persönliche Ebene ins Spiel kommt. Diese Form von Streit findet sich beispielsweise in Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Personen in den Kommentarspalten zu Konfliktthemen.  

Die vierte Form der Konfliktaustragung, die hier behandelt werden soll, ist der Kampf. Im Unterschied zu Diskussion, Konkurrenz und Streit ist er die einzige Form, bei der Gewalt im Vordergrund der Konfliktaustragung steht. In digitalen Räumen zeigt sich Kampf oft über Abwertungen und Hass. Shitstorms sind das vielleicht bekannteste Beispiel. Kampf wäre aber beispielsweise auch, wenn versucht wird, den Account der Gegnerin durch ungerechtfertigte Meldungen zu löschen. Das Ziel eines Kampfes ist der Sieg über den Gegner und damit die Demonstration eigener Macht.  

Abb. 12, Symbolbild für Kampf, Quelle

Die Triggerpunkte gesellschaftlicher Diskussion spielen für die Übergänge zwischen Diskussion, Konkurrenz, Streit und Kampf eine wichtige Rolle. Triggerpunkte führen weg von Sachlichkeit, erhöhen die Emotionalität und können auch in Gewalt umschlagen. Für die Begleitung von Konfliktaushandlungsprozessen ist diese Dynamik eine große Herausforderung. Denn mit dem Umschlagen zum Beispiel von Diskussion in Konkurrenz oder von Streit in Kampf ändern sich die „Regeln“ der Auseinandersetzung und damit auch die Bereitschaft derjenigen, die vom jeweiligen Konfliktgegenstand betroffen sind, sich aktiv öffentlich einzubringen. Auf diese Weise verändern sich Integrations- und Ausschließungsmechanismen und werden jeweils andere Positionierungen als Mehrheitsmeinungen sichtbar. Für die (medien-)pädagogische Arbeit entstehen daraus jeweils andere Anforderungen: Während zum Beispiel auf Diskussionsebene Partizipationsförderung ein wichtiges Ziel ist, kann auf Streitebene eher der Schutzaspekt das pädagogische Handeln leiten. Wie oben dargestellt, ist es wichtig, auch in pädagogischen Projekten nicht nur auf Sachlichkeit zu fokussieren, sondern auch einen Umgang mit Konkurrenz, Streit und Gewalt zu finden. Wie dies im Einzelfall bearbeitet werden kann, werden die kommenden Teile der Expertise in den Fokus stellen.