Inhalt
Konflikte als Arbeitsbereich von (Medien-)Pädagogik und Entwicklungsaufgabe für junge Menschen- Teil 1: Expertise zur demokratischen Aushandlung von Konflikten in und mit Medien
- Konflikte begleiten und gestalten
- Stress mit der Lehrkraft
- Triggerpunkte gesellschaftspolitischer Konflikte
- Sind viele Konflikte schlecht für eine Gesellschaft?
- Der Umgang mit Konflikten als Entwicklungsaufgabe
- Konflikte um den Klima-Aktivismus junger Menschen
- Wie werden Konflikte ausgetragen?
- Was ist neu durch den digitalen Wandel?
- Vier Aushandlungsformen von Konflikten
- Ausblick auf den zweiten Teil der Expertise
- Literaturverzeichnis
Wie werden Konflikte ausgetragen?
Zwei grundsätzlich verschiedene Theorien[1] über das „Wie“ der Aushandlung von Konflikten in demokratischen Gesellschaften werden in der politischen Theorie gegenwärtig diskutiert: Zum einen gibt es den verständigungsorientierten Diskurs, der zu großen Teilen auf Prämissen rationaler Diskussion von Jürgen Habermas zurückgeht. Ihm gegenüber stehen radikaldemokratische Ansätze, die den verständigungsorientierten Diskurs kritisieren und die Eigenheiten politischer Aushandlungsprozesse grundsätzlich anders beschreiben (Jung/Kempf 2023).
Der verständigungsorientierte Ansatz ist in seinen Zielen in großen Teilen handlungsleitend für deutsche Politik und Pädagogik. Knapp zusammengefasst formuliert der Ansatz, dass Prozesse politischer Konfliktverhandlung so gestaltet werden sollen, dass möglichst viele einzelne Personen auf Basis rationaler Argumentationen an ihnen teilnehmen können, um gemeinsam einen Konsens zu finden und daran anschließend politische Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist dabei, dass die Aushandlung idealerweise nicht durch Machtstrukturen beeinflusst wird, sondern die einzelnen Stimmen auf Basis allgemein zugänglicher Informationen gleichberechtigt teilnehmen können sollen (Habermas 2022, S. 69ff.).

Der radikaldemokratische Ansatz kritisiert diese Vorstellungen. Er sagt, dass das verständigungsorientierte Konzept von falschen Grundannahmen des Politischen ausgeht, und leitet daraus andere Anforderungen an das „Wie“ von politischen Aushandlungsprozessen ab. Prägend für diesen Ansatz waren die Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Auer 2008), die auch als Hegemonie-Theorien bekannt sind und von Mouffe bis heute weiterentwickelt werden. Im Gegensatz zu Habermas geht Mouffe davon aus, dass politische Aushandlungsprozesse (für sie „das Politische“) durch kollektive Identitäten und durch den Einbezug von Emotionen gekennzeichnet sind. Diese Aushandlungsprozesse laufen im Ergebnis nicht auf Konsens hinaus, sondern eher darauf, dass ein kollektiver Akteur seine Interpretation einer (Konflikt-)Situation durchsetzt – also Hegemonie erreicht. Aushandlungsprozesse auf rationale Diskussionen zwischen Individuen beschränken zu wollen, vernachlässigt damit zum einen bestehende Machtverhältnisse, von denen Aushandlungsprozesse grundlegend beeinflusst werden. Zum anderen führt die Vorstellung, dass politische Aushandlungsprozesse rational durch informierte Individuen geführt werden müssten, dazu, dass emotionale Äußerungen und kollektive Akteur*innen vom Diskurs ausgeschlossen würden (Mouffe 2007).

Als Beispiel führt Mouffe den Umgang mit rechtspopulistischen Akteur*innen in westlichen Demokratien an. Diese argumentieren häufig nicht rational, sondern bedienen mit populistischen Botschaften die Bedürfnisse nach Schutz und Abgrenzung ihrer Klientel. Sie setzen dabei auf kollektive Identitäten und konstruieren überwiegend ein Wir–gegen–sie, das oftmals auch rassistische Vorurteile beinhaltet. Für einen verständigungsorientierten Diskurs disqualifizieren sie sich dadurch. Statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, werden sie moralisch geächtet und dadurch nicht als Diskurspartner*innen einbezogen: „Mit Nazis diskutiert man nicht!“ Diese Strategie sieht Mouffe in vielen westlichen Demokratien. Sie führe jedoch vielfach nicht dazu, dass die Rechtspopulist*innen weniger populär würden. Ganz im Gegenteil helfe es ihnen, Anhänger*innen zu mobilisieren, argumentiert Mouffe (2007, S. 95ff.). Sie sieht das als große Gefahr und führt es darauf zurück, dass verständigungsorientierte Ansätze, die zu stark auf Rationalität setzen, die Eigenarten politischer Aushandlungsprozesse nicht beachten. In der Konsequenz fordert Mouffe, dass demokratische Aushandlungsprozesse Emotionen und Affekte stärker miteinbeziehen müssten. Die politische Kommunikation demokratischer Parteien müsse auch Schutzbedürfnisse und Vulnerabilitätsgefühle der Bevölkerung gezielt adressieren.
„Zur Entstehung einer demokratischen Bürgerschaft trägt man nicht bei, indem man einfach Argumente dafür findet, dass liberaldemokratische Institutionen Rationalität verkörpern. Vielmehr bedarf es der Vervielfältigung von Diskursen, Institutionen und Lebensformen, die eine Identifikation mit demokratischen Werten fördern. […] Die Bindung an die Demokratie beruht auf der Identifikation mit demokratischen Werten, und bei dieser handelt es sich um einen komplexen Prozess, bei dem Affekte eine zentrale Rolle spielen“ (Mouffe 2023, S. 36).
Es geht an dieser Stelle nicht darum, sich auf die Seite von Mouffe oder Habermas zu schlagen. Von beiden können wichtige Hinweise für die Betrachtung der Aushandlung von Konflikten abgeleitet werden. Deswegen scheint es sinnvoll, ihre Arbeiten als Ergänzungen der jeweils anderen zu verstehen. Besonders für den digitalen Raum scheinen Mouffes Ausführungen vielversprechend. Denn soziale Medien, Blogs, die Kommentarspalten von Online-Zeitungen sind voll mit Inhalten, in denen sich Affekte, Emotionen und kollektive Identitäten zeigen. Auch ist es mit Mouffe möglich, emotionale, sich polarisierende Konfliktaushandlungen nicht nur als problematisch wahrzunehmen, sondern als unvermeidbare Tendenzen im Prozess der Konfliktverhandlung, die es nicht zu ächten, sondern zu bearbeiten gilt. Denn besonders Diskussionen im Netz sind bekannt dafür, dass sie schnell zu Shitstorms auffahren. Triggerpunkte spielen hierfür eine wichtige Rolle. Der von Mouffe beschriebene Charakter des Politischen gibt weitere Hinweise dafür, warum digitale Räume auch oft mit Polarisierung und Radikalisierung in Beziehung gesetzt werden (Ebner 2019; Pörksen 2018). Hinzu kommt jedoch noch ein weiterer Punkt, der die Vervielfältigung, Intensität und hohe Wahrnehmbarkeit von Konflikten befördert: die Besonderheiten digitaler Öffentlichkeiten.