Inhalt
Abweichung und Verrat – die Ablehnung von gesellschaftlichem Pluralismus in islamistischen und rechtsextremen Narrativen- Einleitung
- Hintergrund
- Antipluralismus und Vereindeutigung als Merkmal extremistischer Ideologien
- Islamistische und rechtsextreme Perspektiven auf Pluralismus
- „Wir“ versus „Ihr“ – die Abgrenzung von Nichtmuslim*innen in islamistischen Narrativen
- „Wir“ versus „Ihr“ – der äußere Feind in rechtsextremen Narrativen
- Pluralismus als Abweichung von der göttlichen Ordnung – islamistische Narrative zu innerislamischer Diversität
- Pluralismus als Abweichung von der natürlichen Ordnung – rechtsextreme Narrative zu gesellschaftlichem Pluralismus
- Antipluralismus konkret: Normierung von Geschlechterrollen in islamistischen Narrativen
- Antipluralismus konkret: Normierung von Geschlechterrollen in rechtsextremen Narrativen
- Empfehlungen
- Literaturverzeichnis
Antipluralismus und Vereindeutigung als Merkmal extremistischer Ideologien
Extremistische Ideologien bieten Antworten auf individuelle Verunsicherungen und gesellschaftliche Umbrüche. Islamistische wie rechtsextreme Ideologien liefern Erklärungen für den Zustand der Welt und rationalisieren herausfordernde Erfahrungen und Lebenslagen. Angesichts von individuellen oder gesellschaftlichen Krisen bieten sie Bewältigungsstrategien, um Erfahrungen von Orientierungslosigkeit, Ohnmacht oder Wut zu verarbeiten und Handlungsfähigkeiten zurückzuerlangen. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme einer göttlichen oder natürlichen Ordnung, der sich der oder die Einzelne zu unterwerfen habe. Damit einher geht die Konstruktion einer Gemeinschaft, die sich der Bewahrung dieser Ordnung verpflichtet fühlt. Gesellschaftlicher Wandel, der sich auf individueller Ebene in der Infragestellung von Gewissheiten niederschlägt, und eine zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen erscheinen in dieser Wahrnehmung als Bruch mit einer vorgegebenen Ordnung und als bedrohend für den Bestand der Gesellschaft selbst.
In islamistischen Ideologien äußert sich dieser Anspruch auf eindeutige Wahrheiten und eine überhistorische gesellschaftliche Ordnung in der Parole „Der Islam ist die Lösung!“, die das gesellschaftliche Leitbild beschreibt, aber auch für den persönlichen Alltag Geltung beansprucht. Geprägt wurde die Parole bereits in den 1920er-Jahren von der ägyptischen Muslimbruderschaft, die in der Durchsetzung einer alle Lebensbereiche umfassenden „islamischen Ordnung“ die Voraussetzung sah, um den britischen Kolonialismus und den gesellschaftlichen Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entgegenzuwirken. Dabei wird auch das Individuum selbst in die Pflicht genommen, sich im persönlichen Alltag an vermeintlichen göttlichen Vorgaben und dem Vorbild des Propheten zu orientieren. Eindringliche Warnungen vor der Sünde und den damit verbundenen Höllenqualen spielen hier eine wichtige Rolle, zugleich erscheint „der“ Islam als normativer Handlungsrahmen, der dem Individuum verbindlich Orientierung bietet.
Mit diesem Anspruch wenden sich islamistische Ideologien nicht allein gegen einen gesellschaftlichen Pluralismus, wie er für moderne Gesellschaften charakteristisch ist, sondern auch gegen innerreligiöse Diversität, die die islamische Theologie und islamische Gesellschaften über Jahrhunderte prägte. So beschreibt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer die Geschichte des Islams als eine Geschichte von Mehrdeutigkeiten und Ambiguitäten, die gerade auch in theologischen Debatten zum Ausdruck kam und damit die gesellschaftlichen Realitäten prägte. Erst im 19. Jahrhundert – in der Begegnung mit dem Kolonialismus – lassen sich danach relevante Tendenzen einer Vereindeutigung von theologischen Lehren und damit verbundenen Wahrheitsansprüchen nachzeichnen. Auf gesellschaftlicher Ebene äußerte sich diese Vereindeutigung von religiösen Vorstellungen in der Durchsetzung von vermeintlich unverhandelbaren und allgemeinverbindlichen Normen (vgl. dazu Bauer 2016).
Die Vorstellung einer klar umrissenen gesellschaftlichen Ordnung und die Vereindeutigung von gesellschaftlichen Zusammenhängen kommen auch in der Konstruktion von „Wir“- und „Sie“-Gruppen zum Ausdruck: Während das „Wir“ die Ordnung verteidigt, stehen „Sie“ für den Versuch, tradierte Normen und Gewissheiten, die aus „der Natur“ oder dem „göttlichen Willen“ abgeleitet werden, auszuhöhlen und durch Beliebigkeit zu ersetzen. In dieser Wahrnehmung ist das „Wir“ dem Erhalt der Ordnung durch eine einheitliche Orientierung und eine gemeinsame Lebensweise verpflichtet.
Extremistische Ideologien spiegeln sich insofern auch in einer Depluralisierung von Deutungsweisen, mit denen sich Individuen Alltag und Gesellschaft erschließen, und bieten einfache Vorgaben, anhand derer sich Entscheidungen darüber, was „richtig“ und was „falsch“ ist, beurteilen lassen. An die Stelle von individuellen Entscheidungen, Abwägungen, Widersprüchen oder Grautönen treten hier Vorgaben oder Wahrheiten, deren Infragestellung einem Verrat an der natürlichen oder göttlichen Ordnung gleichkommt. In islamistischen Ideologien äußert sich diese Vorstellung in dem Leitsatz, dem Islam und der Gemeinschaft der Muslim*innen gegenüber loyal zu sein und sich vom Nicht-Islamischen und Nichtmuslim*innen loszusagen („al-wala wa-l-bara“, Loyalität und Lossagung), während die „Volksgemeinschaft“ in rechtsextremen Ideologien als alleiniger Bezugspunkt ausgemacht wird. In besonders zugespitzter Weise äußerte sich dieses Denken in der Ideologie des sogenannten Islamischen Staates, der seine Anschläge auf Andersdenkende mit dem Versuch begründete, die „Grauzonen zu eliminieren“ und die Menschen mit Gewalt dazu zu zwingen, sich für eine Seite im Kampf um die göttliche Ordnung zu entscheiden.
In der Radikalisierungsforschung wurde die Ähnlichkeit dieser Narrative und ihrer gruppendynamischen Wirkungen in unterschiedlichen extremistischen Bewegungen herausgearbeitet (vgl. Meiering et al. 2018). Dabei wird insbesondere auf antimoderne und antiuniversalistische sowie auf antifeministische Narrative hingewiesen, die in islamistischen und rechtsextremen Spektren auch in ähnlichen Feindbildkonstruktionen zum Ausdruck kommen. Tatsächlich treffen sich islamistische und rechtsextreme Ideologien in der Vorstellung eines Kampfes gegen Abweichungen von göttlichen bzw. natürlichen Normen, die sie beispielsweise durch die Frauen- oder die Schwulenbewegung in Gefahr sehen. Allerdings beschränkt sich dieses Feindbild nicht auf emanzipative gesellschaftliche Bewegungen, sondern bezieht sich zunehmend auch auf staatliche Institutionen und gesellschaftliche Funktionsträger. Exemplarisch äußert sich dieses Feindbild in Angriffen auf eine „Wertediktatur“, die in rechtsextremen wie islamistischen Narrativen angeprangert wird. „Die“ Politik oder „die“ Medien gelten danach als treibende Kräfte, die für einen vermeintlichen „großen Austausch“ der einheimischen Bevölkerung durch Migrant*innen bzw. die Zerstörung des Islams durch eine Assimilation an eine nichtmuslimische Gesellschaft verantwortlich zeichnen. Damit wird zugleich die Anschlussfähigkeit dieser Narrative auch jenseits islamistischer und rechtsextremer Spektren sichtbar.