Antipluralismus konkret: Normierung von Geschlechterrollen in islamistischen Narrativen

Der Anspruch der Homogenisierung und Normierung der Gemeinschaft wird in konkreten Themen sichtbar, an denen sich gesellschaftlicher Wandel und eine zunehmende Pluralisierung von Lebensentwürfen festmachen lassen. So spielt beispielsweise die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Fragen von sexueller Orientierung in islamistischen YouTube-Kanälen eine wichtige Rolle.[1] Dabei wird von einem strengen dualen Geschlechterverständnis von Mann und Frau ausgegangen; nach Überzeugung der Gestalter*innen dieser Videos seien keine weiteren Identitäten legitim. Dabei fällt auf, dass die nahezu ausschließlich männlichen Sprecher der Videos sich sehr sendungsbewusst zu frauenspezifischen Themen äußern. Nur auf einem Kanal der Top 25 der PrE, dem Schweizer Kanal „Islamrat TV (IZRS)“, treten auch Frauen als Rednerinnen und Moderatorinnen in Erscheinung. Dieses Ungleichgewicht im Verhältnis der Sprecher*innen scheint auch auf Akzeptanz im Publikum zu treffen, denn in den Kommentarspalten wird diese Dominanz von Männern, die sich in autoritärer Weise zu frauenspezifischen Themen äußern, nicht thematisiert.

Besonders auffällig ist auch die Häufigkeit der Videos, die das Verhalten und Erscheinungsbild von muslimischen Frauen im Vergleich zu muslimischen Männern behandeln. Muslimische Frauen und Mädchen sind ein zentrales, immer wiederkehrendes Thema in den Videos, wobei Frauen eine Reihe von angeblich gottgegebenen islamischen Pflichten von den Akteur*innen zugewiesen bekommen. Zu diesen zählen: eine unauffällige Verhüllung, eine zurückgezogene Präsenz in öffentlichen Räumen und die vornehmliche Rolle als Mutter und Ehefrau im Haushalt.[2] Weiterhin fällt auf, dass einige Akteur*innen Frauen pauschal abwertende Charakterzüge zuschreiben. So stellt der Sprecher Furkan bin Abdullah in einem Video von „Im Auftrag des Islam TV“ Frauen als emotional gestört und undankbar gegenüber Männern dar. Zudem seien Frauen durch die öffentliche Zurschaustellung ihrer Weiblichkeit zunehmend Sklavinnen ihrer selbst.[3] Für den populären Sprecher Abul Baraa ist die Frau für muslimische Männer sogar die größte Versuchung (arab. fitna). In diesem Kontext sind auch die zahlreichen Videos zum Thema außerehelicher Geschlechtsverkehr oder Ehebruch (arab. zina) und zu einer angeblich in der islamischen Gemeinschaft (arab. ummah) verbreiteten Pornosucht relevant.[4] Mädchen und Frauen werden dabei überwiegend als Wesen dargestellt, die beschützt werden müssten, die zudem eine Bedrohung und Versuchung für den Mann sein können. Erst im Paradies scheint sich dieses geschlechterspezifische Spannungsverhältnis aufzulösen.

Abbildung 9: Beispiel für islamistische Narrative um das Kopftuch. Quelle:Generation Islam, Youtube.

In der Ansprache variieren die Videos zwischen vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen, in denen die Botschafter*innen sich um das Seelenheil ihres Publikums sorgen, und scharfen Ermahnungen, die durch Drohungen mit Höllenstrafen auch starke existenzielle Ängste erzeugen können. Wer sich den propagierten Regeln nicht unterwirft, gilt als Verräter*in am Islam und an der Gemeinschaft aller muslimischen Gläubigen. Besonders aggressive Online-Kampagnen richten sich gegen Musliminnen, die das Kopftuch (arab. Hijab) nach Überzeugung der Akteur*innen in einer falschen Form tragen oder als modische Accessoires für ihre Selbstdarstellung und eine unterstellte Profitgier als Influencerinnen (Hijabi, Hijabista) missbrauchten.[5] Gesellschaftliche Diskussionen um Kopftuch- oder Verhüllungsverbote sind zudem immer wieder Anlass, um Narrative einer gesamtgesellschaftlichen Feindschaft gegenüber Muslim*innen und Verschwörungserzählungen über Vernichtungsabsichten von Politik und Medien gegen den Islam zu unterstellen. Im Jahr 2021 standen beispielsweise die Volksabstimmung zum Verhüllungsverbot in der Schweiz, ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs zum Kopftuchverbot am Arbeitsplatz und die französische Regierung unter Präsident Macron im Fokus der Kritik und gaben Anlass zur Instrumentalisierung dieser Verschwörungserzählungen.[6]

Auch für muslimische Männer verbreiten islamistische Akteur*innen kanalübergreifend ein homogenes Ideal. Ihre Rolle sehen sie vornehmlich als Versorger und unumstrittenes Oberhaupt der Familie, dem die Frauen seines Haushaltes untergeordnet seien. Der Sprecher Turgay Altıngeyik vom Kanal „Macht’s Klick“ präsentiert beispielsweise in einer Serie von acht Videos seine Sicht eines Ideals von „wahrer Männlichkeit im Islam“, die auf zehn Grundregeln basiere.

Abbildung 10: Vielfältige Männlichkeitsidentitäten gibt es innerhalb islamistischer Ideologien nicht. Quelle: Macht’s Klick, YouTube.

So müsse der Mann eine Führungs-, Schutz- und Vorbildfunktion übernehmen und habe darauf zu achten, dass Frauen ihre Schamhaftigkeit bewahren und sich nicht der Manipulation durch den Teufel (arab. shaytan) ergeben. Der Ehemann müsse zudem die Einhaltung der religiösen Vorschriften innerhalb der Familie durchsetzen und seine Frau „gut behandeln“, denn nur so könne er ins Paradies gelangen.[7]

Ein Beispiel für ein aktuelles Video, das diesen Zwang zur unmittelbaren Befolgung der propagierten religiösen Gebote instrumentalisiert, ist ein überdurchschnittlich häufig aufgerufenes Video des Kanals „Lorans Yusuf“: „Diese MÄNNER und FRAUEN sind VERFLUCHT“ (29.03.2022). Inhaltlich behandelt das Video das Themenspektrum Feminismus/Emanzipation, Homosexualität und die zwingende Verhüllung muslimischer Frauen. Der Sprecher des Kanals „Lorans Yusuf“ beruft sich auf islamische Quellen (Koran, Hadith-Sammlungen) und Gelehrtenaussagen, nach denen den Geschlechtern Mann und Frau aufgrund ihrer biologischen Unterschiede bestimmte Regeln und Rechte im Islam zugeteilt seien, die sie zwingend beachten müssten. Feminismus reduziert der Sprecher von „Lorans Yusuf“ auf eine widernatürliche Nachahmung von Männern unter Aufgabe der „Feminität“, was zu psychologischem Stress bei Frauen führe. Eine Nachahmung des jeweils anderen Geschlechts im Verhalten oder Erscheinungsbild sei im Islam verboten. Aus den biologischen Unterschieden resultiere auch, dass man Männer und Frauen nicht gleich behandeln könne. In einem weiteren Gedankengang fordert der Sprecher von „Lorans Yusuf“ auch eine strikte Einhaltung von islamischen Kleidervorschriften für Frauen, die er in acht Punkten darlegt. Im Falle, dass ein Mann oder eine Frau spezielle Eigenschaften des jeweils anderen Geschlechts habe, müsse man sich dies nach und nach abgewöhnen. Ein Verstoß gegen die von ihm dargelegten Prinzipien, so „Lorans Yusuf“, sei zudem eine schwere Sünde und habe den Entzug von Allahs Barmherzigkeit zur Folge. Diese Menschen seien verflucht.[8]