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Vom Widerstand gegen Rassismus zur antirassistischen Bildungsarbeit – Entwicklungslinien, Konzepte und Methoden der pädagogischen Arbeit gegen Rassismus3.2 Alltagsrassismus
Struktureller Rassismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ist für rassistisch markierte Personen im Alltag erfahrbar. Diese Erfahrungen sichtbar zu machen und Räume für ihre Be- und Verarbeitung zu schaffen, ist ein wichtiger Teil antirassistischen Widerstands und zunehmend auch Aufgabe politischer Bildungsarbeit. In den letzten Jahren gab es hier viel gesellschaftspolitisches Engagement, u. a. auch mithilfe digitaler Medien. Im Instagram-Kanal @wasihrnichtseht schreiben Schwarze Menschen beispielsweise über Rassismus, wie sie ihn in ihrem Alltag erleben. Eine Person berichtet ein Erlebnis aus einer 13. Klasse in Stuttgart: „Mein Sportlehrer meinte zu mir, als wir im Kurs über unsere Zukunft nach dem Abitur sprachen, dass ich Poolboy werden sollte, denn die wären auch dumm und schwarz. Alle haben betroffen geschaut. Niemand hat etwas gesagt.“ Eine andere Person erzählt ein Erlebnis aus einer niedersächsischen Kleinstadt: „Ich wollte nach der Schule einen Klassenkameraden zu Hause zum Spielen besuchen. Ich klingelte und die Mutter öffnete die Tür und fragte, was ich hier möchte. Ich fragte nach Benjamin. Sie verzog ihre Miene und schnauzte mich an: ‚Vergiss Benjamin! Ich möchte nicht, dass mein Sohn mit Ni**ern rumlungert‘“.
Rassismus äußert sich in den verschiedensten Formen von Abwertungen, ihm ist allerdings in den meisten Fällen eines gemein: Die abgewertete Person wird nicht als Subjekt, sondern als Vertreter*in einer rassistisch bewerteten Gruppe angesehen. Rassistische Aussagen treffen Einzelpersonen. Sie sagen aber über die rassistisch markierten Subjekte – über ihre Persönlichkeit, ihre Fähigkeiten, ihre Lebensgeschichte etc. – nur sehr wenig aus. Vielmehr legen sie offen, welche Vorstellungen und Bewertungen diejenigen Personen, die sich rassistisch äußern, auf ihr Gegenüber projizieren. Alltagsrassismus lässt sich deswegen als eine Praxis der Entsubjektivierung beschreiben (Akbulut 2017, S. 168). Rassismus verhindert, dass der Mensch als Subjekt gesehen wird. Stattdessen werden historisch tradierte, oftmals abwertende, manchmal romantisierende bzw. exotisierende Kategorien auf ihn projiziert. Das beschreibt auch Wiebke Scharathow, die in einer qualitativen Studie untersuchte, wie Jugendliche Rassismus erfahren:
„Als grundlegende Aspekte, von denen die Rassismuserfahrungen, die sich in den Schilderungen der Jugendlichen offenbaren, gekennzeichnet sind, können Kategorisierungs-, Nicht-Zugehörigkeits- und Zuschreibungserfahrungen genannt werden. Alle teilnehmenden Jugendlichen berichten von Situationen, in denen sie unter Rückgriff auf Bedeutungskonstruktionen, die an ein rassistisches Wissen anschließen, als ‚Andere‘ identifiziert und einer meist als ‚Ausländer‘ bezeichneten Kategorie der ‚Nicht-deutsch-Seienden‘, genauer der ’nicht-(west-)europäisch-Seienden‘, zugeordnet werden“ (Scharathow 2017, S. 111).
Die Entsubjektivierung, die verzerrte Wahrnehmung des Gegenübers durch rassistische Kategorien ist für alle Betroffenen eine Herausforderung, aber sie kann sich auf das Wohlbefinden von Jugendlichen ganz besonders negativ auswirken. Die Lebensphase der Jugend ist gekennzeichnet durch die (kritische) Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Werten, Normen und Zielen. Jugendliche befinden sich in einer Phase der Identitätsarbeit, in der sie sich damit auseinandersetzen, wer sie sind, wer sie werden möchten und welcher Platz in der Gesellschaft für sie der richtige ist (Keupp 2017). Für alle Jugendlichen ist dabei die Auseinandersetzung mit ihren subjektiven Bedürfnissen und der gesellschaftlichen Erwartungshaltungshaltung eine wichtige Entwicklungsaufgabe. Für Jugendliche, die von Rassismus betroffen sind[1], ist diese Auseinandersetzung jedoch zusätzlich erschwert, weil sie immer wieder mit Fremdzuschreibungen konfrontiert werden (Griese 2020; Korucu 2019). Auf diese Fremdzuschreibungen lässt sich unterschiedlich reagieren, sie lassen sich jedoch nur sehr schwer ignorieren, besonders weil sie sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Kontexten wiederholen können (vgl. Attia 2017, S. 182). Im Alltag bringen sie betroffene Jugendliche immer wieder in die Situation, sich zu Kategorisierungen, die von außen an sie herangetragen werden, in Beziehung setzen zu müssen.
„Mit diesen Zuschreibungskonfrontationen geht zudem immer wieder auch die Aufforderung einher, spezifische Diskurspositionen einzunehmen. Jugendliche sind daher auf- und herausgefordert, Selbstverständnisse und Haltungen zu entwickeln und mit diesen komplexen, machtvollen Situationen umzugehen“ (Scharathow 2017, S. 113).
Nicht immer gelingt das. Die Mischungen aus alltäglichen (Mikro-)Aggressionen, Fremdzuschreibungen und Diskurszwängen kann bei den Betroffenen – neben anderen möglichen Reaktionen – auch zu psychischen Erkrankungen führen (Uslucan 2017; Yeboah 2017).
Ein wichtiger Grund für das Irritationspotenzial rassistischer Aussagen ist, dass junge Menschen diese nicht immer als solche erkennen, sondern teilweise auf sich selbst beziehen. Eine Instagram-Userin, selbst PBoC, kommentierte das obige Beispiel aus der niedersächsischen Kleinstadt: „Als ich ein Kind war, war mir so etwas als Betroffene so peinlich […]. Ich wünschte, mir hätte ein Erwachsener erklärt, dass so etwas Rassismus ist und ich mich nicht schämen muss für so ein Verhalten, dass ich mich nicht schämen muss für mich.“ Die Ergebnisse aus Wiebke Scharathows Studie zu den Rassismuserfahrungen Jugendlicher gehen in dieselbe Richtung. Sie schreibt, dass das Rassismusverständnis von Jugendlichen oftmals nicht ausreicht, die erlebten Abwertungen als rassistisch einzuordnen. Sie argumentiert, dass das teilweise mit den Ambivalenzen der Situationen zu tun hat, in denen sie erfahren wurden. Ein Beispiel dafür sind „(Aus-)Fragepraktiken, in denen von Fragenden die Einnahme einer Subjektposition als ‚Andere‘ oder ‚Anderer‘ bereits vorausgesetzt“ wird (Scharathow 2017, S. 116). Das passiert vor allem, wenn Jugendliche als Repräsentant*innen der Gruppe angesprochen werden, mit der sie ihr Gegenüber identifiziert: als Muslim*innen, Afrikaner*innen, Araber*innen, Türk*innen etc.[2] In solchen Situationen kann es scheinbar unverfänglich um Essensvorlieben gehen, aber auch um die Aufforderung, sich zu politischen Fragestellungen zu äußern. So werden Muslim*innen immer wieder aufgefordert, sich von islamistischen Attentaten zu distanzieren, obwohl diese mit ihnen als Personen nichts zu tun haben. Geschieht dies in mehrheitlich weißen Kontexten, werden derartige Praktiken oftmals nicht problematisiert, sondern von der Mehrheit als normal angesehen. Es bleibt dann den als „Andere“ markierten Jugendlichen überlassen, sich mit den an sie herangetragenen Fremdzuschreibungen auseinanderzusetzen bzw. die dahintersteckenden rassistischen Mechanismen zu erkennen und offenzulegen. Geändert werden können derartige Problemlagen deswegen nicht allein von den Betroffenen. Stattdessen ist es Aufgabe der weißen Mehrheitsgesellschaft, sich mit rassistischen Mustern der eigenen Wahrnehmung und des eigenen Verhaltens auseinanderzusetzen.