3.3 Institutioneller Rassismus

Rassismus hat eine lange kulturelle Tradition, er durchdringt nicht nur den Alltag, sondern auch die gesellschaftlichen Institutionen. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass rassistische Kategorien das Denken und Handeln der weißen Mehrheitsgesellschaft beeinflussen. Dennoch ist es bis heute im öffentlichen Diskurs oftmals umstritten, von institutionellem Rassismus beispielsweise bei der Polizei oder in der Schule zu sprechen. Das hat mit dem oben angesprochenen Verständnis von Rassismus zu tun: Rassismus gäbe es nur bei Rechtsextremen und er sei mit Gewalt verbunden; um rassistisch zu sein, müsse ich willentlich Menschen als Andere markieren und abwerten. Wir argumentieren an diesem Text, dass dieses Verständnis, das zugleich eine Abwehrhaltung sein kann, nicht weiterführt. Stattdessen versuchen wir, wie es Mark Terkessidis verschiedenfach sehr überzeugend getan hat[1], für einen Diskurs über Rassismus zu werben, der sich mit kollektiven Wissensbeständen auseinandersetzt und damit weniger die Moralität einzelner Personen infrage stellt. Wenn Rassismus zu unserer Gesellschaft gehört, dann ist der entscheidende Punkt nicht mehr, dass es einerseits Rassist*innen und andererseits Nicht-Rassist*innen gibt, sondern derjenige, dass rassifizierende und rassifizierte Personen versuchen, rassistische Strukturen zu erkennen und zu überwinden.

Dass diese Arbeit auch für gesellschaftliche Institutionen in demokratischen Nationalstaaten geleistet werden muss, ist eine Erkenntnis, die sich erst langsam durchsetzt. Ein entscheidender Referenzpunkt dafür war die Auseinandersetzung mit dem Mord an Stephen Lawrence im sogenannten Macpherson-Bericht von 1999. Der 19-jährige Stephen Lawrence wartete zusammen mit einem Freund in Südlondon am Abend des 22. April 1992 an einer Haltestelle auf den Bus, als fünf weiße Jugendliche auf sie zukamen. Die Jugendlichen beschimpften Lawrence mit dem N-Wort und fingen ohne weiteren Grund an, ihn zu verprügeln. Sie verletzten ihn tödlich mit zwei Messerstichen in den Oberkörper. Die Polizei ging jedoch einem rassistischen Motiv für den Mord nicht weiter nach, sondern verdächtigte über mehrere Tage den ebenfalls Schwarzen Freund von Lawrence, für dessen Tod verantwortlich zu sein. Als die fünf weißen Jugendlichen schlussendlich verhaftet wurden, war die Beweislage aufgrund fehlerhafter und unzureichender Ermittlungen so dürftig, dass sie wieder frei gelassen werden mussten und die Anzeige gegen sie fallen gelassen wurde. Lawrence’ Eltern gaben sich damit jedoch nicht zufrieden und auch die Medien lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Fall. Nachdem eine polizeiinterne Untersuchung keine Fehler bei den Ermittlungen feststellen konnte, wurde Sir William Macpherson of Cluny, ein schottischer Adliger und Rechtsanwalt, als unabhängiger Experte mit der Untersuchung des Falles betraut. Sein 350 Seiten langer Bericht[2] nutzte den Begriff „institutioneller Rassismus“ an verschiedenen Stellen, um das Versagen der Polizei im Falle des Mordes von Stephen Lawrence zu begründen. Das trug dazu bei, den Begriff endgültig im öffentlichen Diskurs zu etablieren. Denn Macpherson kam zu dem Schluss, dass institutioneller Rassismus[3] auf verschiedenen Ebenen bei dem Fall eine Rolle spielte: z. B. bei der Verdächtigung des schwarzen Freundes von Lawrence oder auch bei der fehlenden Sensibilisierung von Polizist*innen für das Problem rassistischer Diskriminierung (Macpherson 1999, Kap. 6.45). Für Stuart Hall zeigt der Macpherson-Bericht erstens, dass institutioneller Rassismus keine Personen braucht, die offen rassistisch sind. Rassismus entsteht vielmehr im sozialen Handeln. Dieses Handeln wird, zweitens, geleitet durch die Gleichsetzung von Kultur und Verhalten: Weil einer Person bestimmte kulturelle Eigenschaften zugeschrieben werden, wird ihr gleichzeitig unterstellt, sie würde eher kriminell handeln. Institutionell wirksam wird dieses Handeln, wenn dadurch drittens professionelles Handeln nicht mehr reflektiert und überprüft wird: „Far from being seen as exceptional, this ‚unwitting‘ type of racism becomes part of the very working definition of ‚normal police work‘“ (Hall 1999, S. 195).

Abb. 8, Symbolbild für Racial Profiling, Quelle: Helga Design Art, adobe.stock.com

Die immer noch oftmals unreflektierte Normalität von institutionellem Rassismus zeigt sich bis in die jüngste Zeit auch im deutschsprachigen Raum. Ein gutes Beispiel dafür ist Racial Profiling. Im deutschsprachigen Raum bekannt geworden und sehr gut dokumentiert ist der Fall von Mohamed Wa Baile (Wa Baile et al. 2019). Wa Baile, in Kenia geboren, ist Schwarz und arbeitet als Bibliothekar in einer Züricher Bibliothek.[4] Auf dem Weg zur Arbeit wurde er eines Morgens ohne ersichtlichen Grund am Hauptbahnhof von der Polizei aufgefordert, sich auszuweisen. Wa Baile weigerte sich mit dem Hinweis, das als rassistisch zu empfinden, und gab auch bei Androhung einer Ordnungsstrafe nicht nach. Später recherchierte er den Grund dafür, kontrolliert worden zu sein. Im Polizeibericht stand, dass Wa Baile sich verdächtig gemacht habe, weil er seinen Blick abgewandt habe. Das bestätigte für ihn, aus rassistischen Motiven kontrolliert worden zu sein. Er erhob Einspruch gegen die Ordnungsstrafe. Nach mehreren Urteilen gegen sein Anliegen bestätigte letztendlich das Züricher Verwaltungsgericht, dass kein ausreichender Anlass für eine Durchsuchung vorgelegen habe – ohne jedoch auf den Vorwurf der Diskriminierung zu antworten. Im Verhandlungsprotokoll und auch bei der Befragung des Polizisten, der die Kontrolle durchgeführt hatte, zeigten sich die oben beschriebenen Muster: der Rassismusvorwurf wurde vom Polizisten missverstanden und abgelehnt, institutioneller Rassismus wurde nicht reflektiert (Wa Baile/Höhne 2019).

Ein weiteres Beispiel für institutionellen Rassismus gibt eine Studie, die sich damit auseinandersetzt, inwiefern der Name, das Wissen über die Leistungsfähigkeit eines Schülers (in diesem Experimentaldesign immer männlich) und die Einstellungen der Lehrkraft die Vergabe von Noten beeinflusst. Im Ergebnis zeigt sich, dass es durchaus einen Unterschied macht, ob bei gleicher Fehlerzahl die Arbeit eines Schülers zensiert wird, der Max oder Murat heißt – zwei stereotype Namen, die im Experimentaldesign gewählt wurden. Bonefeld und Dickhäuser (2018) fanden heraus, dass Murat tendenziell schlechter benotet wird, insbesondere in Bezug auf Aufgaben, die eine komplexe Beurteilung erfordern, also mehr als nur das Auszählen von Fehlern beinhalten. Während der Unterschied bei Arbeiten, die einer Note 2 (gut) entsprechen noch gering ausfiel, war er besonders groß bei Arbeiten, die viele Fehler aufwiesen. Hier kam die Arbeit von Murat wesentlich schlechter weg als die von Max. Erhoben wurde in dieser Studie mit Lehramtsanwärter*innen. Es zeigen sich aber Effekte, die auch in Bezug auf die Schule berichtet werden.