3.1 Antimuslimischer Rassismus

Die Auseinandersetzung mit „dem Islam“, „den Muslim*innen“ und auch „dem Orient“ oder „Morgenland“ hat in Deutschland und Europa eine lange Tradition. In seinem Buch „Orientalismus“ (EA 1978) zeigte Edward Said, dass die europäische Geistgeschichte muslimische Länder über Jahrhunderte als Gegenbild zu sich selbst entwarf. In der Beschreibung „des Orients“ reflektierten sich die Faszinationen, Ängste und Begierden der europäischen Nationen, die sie mit dem kulturell und religiös „Fremden“ verbanden. Auf diese Weise entstanden Bilder und Narrative, die sich bis heute in antimuslimischen Rassismen wiederfinden lassen.

Abbildung 5: Stereotype Bilder der Kultur des Nahen Ostens werden in der Orientalismus-Debatte hinterfragt. Quelle: fatihyalcin, adobe.stock.com.

In der innerdeutschen Debatte ist antimuslimischer Rassismus in den letzten Jahrzehnten vor allem über zwei Entwicklungen relevant geworden. Der Zuzug von Gastarbeiter*innen nach Westdeutschland ab den 1960er-Jahren hatte eine zunehmende Pluralisierung der deutschen Bevölkerung zur Folge. Unter den Gastarbeiter*innen waren viele Bürger*innen aus der Türkei, die dem muslimischen Glauben angehörten. Muslim*innen wurden dadurch zum ersten Mal in der deutschen Geschichte zu einer auch zahlenmäßig wichtigen Bevölkerungsgruppe. Die Arbeitsmigration im Rahmen der Gastarbeiter*innenverträge führte insgesamt dazu, dass die deutsche Bevölkerung kulturell weniger homogen wurde. Das war für das Verständnis von Gesellschaft vieler weißer Deutscher eine bedeutende Herausforderung. Denn durch Kolonialismus und Nationalsozialismus hatte sich eine Ordnungsvorstellung von Gesellschaft herausgebildet, die die Homogenität einer (weißen) Gesellschaft als etwas Gutes sah. Die Pluralisierung von Gesellschaft durch Migrationsbewegung wurde aus dieser Perspektive als bedrohlich und falsch wahrgenommen – nicht ohne Grund wurden die Fremden als Gäste, die nur zeitweilig bleiben dürfen, ins Land geholt (Foroutan 2020, S. 20). Bis zur Jahrtausendwende äußerte sich diese Wahrnehmung der Gastarbeiter*innen als Fremden- und Ausländer*innenfeindlichkeit, von der auch viele als Muslim*innen gelesene Menschen betroffen waren. Mit den Anschlägen auf die Zwillingstürme in New York sowie dem darauf folgenden „Krieg gegen den Terror“ fokussierte sich die Ausländer*innenfeindlichkeit jedoch immer mehr auf „die Muslim*innen“ (Klawe 2016). Aus Fremden- und Ausländer*innenfeindlichkeit wurde Islamfeindlichkeit, für die antimuslimischer Rassismus eine wichtige Rolle spielte.

Antimuslimisch-rassistische Zuschreibungen vollziehen sich in einem für ungleichheitsideologische Diskurse typischen Muster, das mithilfe von vier Schritten beschrieben werden kann: Ausgangspunkt ist stets die (Fremd-)Kategorisierung von Menschengruppen aufgrund kultureller Muster, die als besonders bedeutsam gesetzt werden. Zumeist passiert das im Rahmen von asymmetrischen Machtstrukturen. Diese kulturellen Muster werden in einem zweiten Schritt als allgemeine, absolute und oft auch unveränderliche Eigenschaften der kategorisierten Gruppe formuliert. Das führt dazu, dass sie zu festen Assoziationen mit bestimmten Gruppennamen und -mitgliedern werden. Einher geht diese diskursive Fremdbeschreibung mit Bewertungen, durch die die beschriebene Gruppe nicht nur von der – in den meisten Fällen – Mehrheitsgesellschaft abgegrenzt wird, sondern mit denen ihr auch ein Platz im hierarchischen Gefüge der Gesellschaft zugewiesen wird. Dieser Platz muss nicht immer nur ein abwertender sein, sondern er kann auch anzeigen, dass die Gruppe romantisiert oder erotisiert wird.[1] Im Ergebnis dieser ideologischen Beschreibung der Gruppe und ihrer vermeintlichen Mitglieder wird ihr ein Platz innerhalb des hierarchischen Gefüges der Mehrheitsgesellschaft zugewiesen. Damit wird sie eingeordnet in Macht- und Dominanzstrukturen, durch die rassistische Zuschreibungen wie selbstverständlich reproduziert werden können (DeZIM 2022, S. 16f.; Foroutan 2020, S. 14). Auf diese Weise wird gut erkennbar, wie losgelöst Rassismus von biologischen Unterschieden oder Zuschreibungen funktioniert, mit denen er immer noch landläufig verbunden wird. Rassismus basiert auf kulturellen Zuschreibungen, die in einem System der Ungleichwertigkeit zum Nachteil der mit ihnen beschriebenen Personengruppen werden.

Zum besseren Verständnis sollen drei Ideologeme der Ungleichwertigkeit ausgeführt werden, die in Bezug auf Muslim*innen häufig vorzufinden sind und somit als sehr verbreitete Beispiele für antimuslimischen Rassismus gelten können. Sie markieren Muslim*innen in Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft als „die Anderen“; sie reichen bis in persönliche Begegnungen und sogar Paarbeziehungen hinein. Iman Attia stellt sie auf Basis von qualitativen Interviews[2] mit mehrheitsdeutschen Bürger*innen dar:

(A) Der emotionale und gewalttätige muslimische Mann: Attia gibt das Beispiel einer jungen weißen deutschen Frau, die eine Beziehung mit einem Mann führt, der aus Libyen nach Deutschland kam. Die Beziehung ist gut, die Frau beschreibt sie als multikulturelle Erfahrung. Die Familie der Frau reproduziert jedoch rassistische Abwertungen gegen Muslim*innen. Außerdem warnt die Mutter der Frau ihre Tochter vor der vermeintlichen Eifersucht und Gewalttätigkeit muslimischer Männer. Das beeinflusst die junge Frau: „Auf der einen Seite wollt‘ ich das nicht glauben, und auf der anderen Seite hab‘ ich dann doch schon ein bisschen Angst gehabt“ (zitiert nach Attia 2009, S. 119). Die Frau trennt sich letztendlich von ihrem Freund und beginnt, die Beziehung abzuwerten. Sie glaubt, sie hat sich nur aus Protest gegen ihre Familie auf den Mann eingelassen (Attia 2009, S. 118f.).

(B) Die unterdrückte, Kopftuch tragende Muslima: Attia beschreibt, wie ihre Interviewpartner*innen teilweise vom Orient fasziniert waren und von guten Erfahrungen mit Muslim*innen berichteten, Kopftuch tragende Musliminnen aber stets davon ausnahmen. Sie wurden nicht als kompetente Gesprächspartnerinnen wahrgenommen, ihnen wurde unterstellt, dass sie rückständig, abhängig und unterdrückt seien. Das betraf sowohl private Begegnungen als auch professionelle Kontexte der Familienhilfe. So beschreibt Attia, wie eine Fachkraft der Jugendhilfe Muslim*innen mit Kopftuch unterstellte, innerfamiliär unterdrückt zu werden, und ihnen deswegen in Beratungsgesprächen die eigenen Vorstellungen einer freien, emanzipierten Frau aufzudrängen versuchte (Attia 2009, S. 108ff., 136ff.).

Abbildung 6: Vorurteile gegen Musliminnen mit Kopftuch gehören zum antimuslimischen Rassismus. Quelle: Photocreatif, adobe.stock.com.

(C) Die bildungsfernen muslimischen Jugendlichen: Ein Mädchen, „das eindeutig der Kategorie ‚islamisch‘ zugewiesen wird (‚noch mit Kopftuch‘, ‚sehr streng gekleidet‘), äußert den Berufswunsch: (‚ausgerechnet‘) Pilotin. Unsere Interviewte deutet diesen Berufswunsch ohne zu zögern als Illusion (‚was eben wirklich nur – für sie eben – ein Wunsch war‘)“ (Attia 2009, S. 107). Die Zitate der Interviewpartnerin (in Klammern) entsubjektivieren das Mädchen, sie sprechen ihr aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit die Fähigkeit ab, ihren Berufswunsch erfolgreich zu verfolgen. Diese Tendenz bestätigt auch Scharathow: „Eine von allen Jugendlichen thematisierte Erfahrung ist die Mutmaßung, dass sie nicht bildungserfolgreich seien – womit ihnen implizit auch vermittelt wird, welcher Platz in der Gesellschaft ihnen zugedacht wird bzw. von ihnen einzunehmen erwartet wird“ (Scharathow 2017, S. 112).

Die drei Beispiele werden aus qualitativen Erhebungen entwickelt. Sie sind nicht repräsentativ, machen aber grundlegende Merkmale von Rassismus deutlich.[3] Wiedergegeben haben wir sie, um mit ihnen deutlich zu machen, dass rassistische Abwertungen eine strukturelle Funktion für das Selbstbild von Individuen und Kollektiven haben. Die drei Beispiele bewerten zwar als muslimisch markierte Andere, sie positionieren aber gleichzeitig die Interviewten als Angehörige einer aufgeklärten, westlichen Gesellschaft: die westliche Gesellschaft steht für Gleichberechtigung; weiße, westliche Frauen sind freiheitlich und emanzipiert; die Überlegenheit des Westens beruht auf Intelligenz und Bildung. In dieser historisch tradierten Erzählung über sich selbst, die die eigene privilegierte Position – gegenüber „den Anderen“ – bestätigt, liegt ein wichtiger Grund für die Beständigkeit vieler rassistischer Einstellungen. Denn rassistische Positionen gegenüber als anders Markierten abzulegen, bedeutet gleichzeitig, sein Selbstbild zu verändern (Arndt 2017; Attia 2009, 2017; Rommelspacher 1997).