Abb. 1, Symbolbild Medien, Quelle

Junge Menschen zu unterstützen, sich in ihrer durch Medien geprägten Lebenswelt zu orientieren, war seit jeher eine der wichtigsten Aufgaben medienpädagogischer Arbeit (Schorb 1995, 2017b). Mit dem digitalen Wandel hat sich die Bedeutung dieser Aufgabe nicht geändert, aber es ist herausfordernder geworden, sie umzusetzen. Einer der Hauptgründe dafür liegt in der bisher nie da gewesenen Pluralisierung medialer Öffentlichkeiten (Habermas 2022). Bevor soziale Medien die Möglichkeit boten, dass jede*r von uns Medienbeiträge des alltäglichen Lebens mit anderen teilt, war die Herstellung medialer Öffentlichkeit journalistischen Massenmedien vorbehalten (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990). Was in die Zeitung, ins Radio und Fernsehen kam, war vielen Menschen zugänglich. Fotos der eigenen Geburtstagsparty, die Ergebnisse des Body Workouts oder der eigenen Kochbemühungen blieben den wenigen Menschen vorbehalten, zu denen es (offline) einen direkten Kontakt gab. Heutzutage sind die Beschränkungen für das Teilen von Fotos des eigenen Privatlebens mit einer potenziell großen Öffentlichkeit beinahe aufgehoben (vgl. Katzenbach 2017). Ob auch Persönliches geteilt wird, hängt von individuellen Neigungen ab. Allerdings entsteht dadurch nicht automatisch eine große Reichweite. Letztere hängt zwar nicht mehr allein von Journalist*innen ab, aber weiterhin von subjektiven Kompetenzen der Präsentation, Themenkonjunkturen und den Algorithmen der Plattformen. 

In der Medienforschung werden diese neuen Räume des Austausches und Veröffentlichens mit unterschiedlichen Begriffen gefasst. Jan Schmidt bezeichnete sie bereits 2009, als noch Plattformen wie Facebook, StudiVZ oder MySpace genutzt wurden, mit dem Begriff der persönlichen Öffentlichkeiten (Schmidt 2009). Elke Wagner schreibt über sie als intimisierte Öffentlichkeiten (Wagner 2019). Beide bezeichnen damit Räume, in denen junge Menschen scheinbar private Inhalte veröffentlichen und sich mit anderen Personen über Themen austauschen, die in massenmedialen Öffentlichkeiten nicht und wenn doch in anderer Form verhandelt werden würden.  

Abb. 2, Symbolbild Selfie, Quelle

Intimisierte Öffentlichkeiten „sind insofern geschlossen nach außen, als dass sie sich thematisch abdichten und eine Kommunikation befördern, die eher auf Intimität als auf Publizität Hinweise liefert. Plötzlich wird scheinbar alles sagbar, Scham- und Peinlichkeitsgrenzen scheinen zu fallen. Die eine Öffentlichkeit der bürgerlichen Welt scheint zu verschwinden und wird – zumindest im Netz – ausgetauscht durch zahlreiche und diverse Publika, deren Kommunikationsstrategie eher privat als politisch, eher affektiv als argumentativ durchdacht angelegt ist“ (Wagner 2019, S. 166). 

Verhandelt wurden die von Wagner beschriebenen Veränderungen anfänglich vor allem in Bezug auf Identitätsarbeit und die medienpädagogischen Herausforderungen, die dadurch entstehen, dass die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zunehmend durchlässiger wurde (z. B. Reißmann 2015; Theunert 2009; Wagner et al. 2009; Wagner/Brüggen 2013) 

Abb. 3, Symbolbild Follower, Quelle

In den letzten Jahren kamen Arbeiten hinzu, in denen stärker die gesellschaftspolitische Dimension dieser neuen Öffentlichkeiten betrachtet wurde (z. B. Materna et al. 2021; Reinemann et al. 2019; Wagner/Gebel 2014). Grundlage dafür ist, dass sich mit der Öffentlichkeit auch der politische Diskurs verändert. Aus einer Öffentlichkeit wurden viele verschiedene (Bruns 2023; Hasebrink et al. 2023). In diesen entstehen neue Formen von politischem Aktivismus und neue Formate der politischen Partizipation (Fielitz/Staemmler 2020). Genutzt wurden diese Öffentlichkeiten und Formate jedoch anfänglich vor allem von nicht-etablierten politischen Akteur*innen. [1] So kann der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und anderer extremistischer Gruppierungen auch darauf zurückgeführt werden, dass sie die scheinbar persönlichen Öffentlichkeiten sozialer Netzwerke für ihre Zwecke zu nutzen wussten (vgl. Gäbler 2017; Hillje 2017; Singer/Brooking 2018). Sie bedienen neue Formate, die als jugendaffin bezeichnet werden können. Diese Formate unterscheiden sich in Aufmachung, Sprache und Beteiligungsmöglichkeiten von den konventionellen Formen politischer Aushandlungsprozesse, die oftmals über die Mitgliedschaft in Parteien und die Anwesenheit bei Versammlungen stattfinden. Digitale politische Formate sind im Gegensatz dazu dynamischer und lassen sich leichter in den Alltag integrieren, z. B. wenn es darum geht, Hashtags zu verwenden, digital abzustimmen, Inhalte kollektiv zu liken oder zu melden (Forschungsverbund DJI/TU Dortmund 2015; Wagner et al. 2011). [2]

Auf diese Weise wurden die unterschiedlichen persönlichen bzw. intimisierten Öffentlichkeiten zu Orten gesellschaftspolitischer Diskussionen. Diese Diskussionen beschäftigen sich in vielen Fällen nicht mit Parteipolitik und werden von jungen Menschen selbst oftmals auch nicht explizit als politisch markiert. Dennoch bestehen sie vielfach aus Aushandlungsprozessen, deren politische Relevanz nicht unterschätzt werden sollte. In der Medienpädagogik wird daher seit Langem mit einem breiten Politikbegriff gearbeitet, der Aushandlungsprozesse allgemein als politisch beschreibt, wenn sie auf die Verhandlung von Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzielen. In vielen Fällen geht es dabei um Machtstrukturen und aus ihnen entstehende Konflikte, die sich im Alltag (nicht nur) von jungen Menschen erfahren lassen (Kruse 2022, S. 78–130). Auf diese Art treten neben die Bilder des eigenen Mittagsmenüs Auseinandersetzungen um Rassismus oder Cancel-Culture. Politisches und Persönliches mischt sich im selben Feed.  

Abb. 4, Symbolbild digitale Vielfalt, Quelle

Bei der thematischen Vielfalt von Inhalten in digitalen Medien ist es kaum verwunderlich, dass junge Menschen diese pluralen Öffentlichkeiten auch als Informationsquelle nutzen. Das zeigt beispielsweise die repräsentative Erhebung des Reuters Institute Digital News Report, die für Deutschland regelmäßig durch das Leibniz-Institut für Medienforschung/Hans-Bredow-Institut durchgeführt wird. Für 72 Prozent der 18- bis 24-Jährigen sind Online-Medien ihre Hauptnachrichtenquelle, für 35 Prozent sind es soziale Medien, das Fernsehen geben 15 Prozent als Hauptnachrichtenquelle an (Behre et al. 2023, S. 24). Für Personen unter 19 Jahren lässt sich vermuten, dass die Bedeutung sozialer Medien als Nachrichtenquellen noch mal zunimmt – zumindest deuten unsere qualitativen Daten darauf hin (vgl. Kap. 3). [3] Die Diversität der Inhalte in sozialen Medien begünstigt gleichzeitig die Verbreitung von Desinformation. In einem Überblick zum Forschungsstand zu Desinformation [4] haben Ines Welzenbach-Vogel und Karin Knop herausgearbeitet, dass vor allem junge Menschen über den Kontakt mit absichtlich irreführenden Inhalten berichten. 90 Prozent der 14- bis 24-Jährigen haben schon einmal „Fake News“ im Internet bemerkt, bei der Personengruppe 65+ waren es ‚nur‘ 60 Prozent. Inwiefern das mit der häufigeren Nutzung digitaler Medien oder mit besser ausgeprägten Kompetenzen bei jungen Menschen zusammenhängt, ist bisher jedoch kaum erforscht. [4]

Welzenbach-Vogel und Knop schlussfolgern:  

„Zukünftige Forschungsarbeiten sollten daher erkunden, wie gut Mediennutzende tatsächlich in der Lage sind, Fake News zu identifizieren, welche Strategien sie im konkreten Fall anwenden, um den Wahrheitsgehalt von Informationen zu prüfen und welche Bewertungskriterien sie dazu heranziehen“ (Welzenbach-Vogel/Knop 2019, S. 68f.). 

An dieser Stelle setzt die Informationsraumanalyse im Projekt Isso! Jugendliche gegen Desinformation an. Sie untersucht, welche Rolle soziale Medien für das Informationshandeln junger Menschen spielen, wie sie sich wozu mit wem austauschen und welche Bedeutung Desinformationen in diesem Kontext haben. Um das im Detail entwickeln zu können, wird im nächsten Kapitel auf zwei Begriffe eingegangen, die vertraut klingen mögen, bisher aber kaum beschrieben sind: Informationsraum und Informationshandeln. Auf Basis dieser Ausführungen werden die Forschungsfragen der Informationsraumanalyse entwickelt. In Kapitel 3 werden die Methoden der Untersuchung dargestellt. Anschließend folgen drei Kapitel, in denen wir die Daten der qualitativen Erhebung darstellen und diskutieren: Kapitel 4 zu den Informationsräumen junger Menschen, Kapitel 5 zum Informationshandeln junger Menschen in den Informationsräumen und Kapitel 6 zum Umgang mit Desinformation. Kapitel 7 fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert sie in Bezug auf ihre Relevanz für die medienpädagogische Praxis.